Fritz Wunderlich. Werner Pfister. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Werner Pfister
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783795786120
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Ellinor Junker-Giesen (Serpetta). Für den erkrankten Ferdinand Leitner sprang Staatskapellmeister Dünnwald ein. »Mozart in einer Traumresidenz«, titelte die Welt am 2. Juli 1956. »Im Wettbewerb um die Palme der deutschen Mozartstädte ist Ludwigsburg dieses Jahr der Preis zuerkannt worden… Für die Festvorstellung hatte die Stuttgarter Staatsoper eine Überraschung parat: einen neuen Mozarttenor, Fritz Wunderlich, sehr jung und zu den glänzendsten Hoffnungen berechtigt. Er überragte das Ensemble der bewährten Stimmen…« Auch die Stuttgarter Zeitung war des Lobes voll: »Die große Überraschung des Abends war der fünfundzwanzigjährige Fritz Wunderlich als Graf Belfiore. Er hatte aristokratische Delikatesse im Spiel und zugleich Gold in der Kehle. Wunderlich trat als ein geborener Mozart-Tenor auf – mit einer erstaunlichen Schmiegsamkeit distinguierten musikalischen Ausdrucks und verblüffender Schönheit der makellos reinen Höhe. Eine schlanke, edle lyrische Stimme, ein Geschenk und ein Instrument, das er jetzt schon ausgezeichnet beherrscht…«[107]

      Kaum wieder in Stuttgart zurück, begannen für Wunderlich die Proben zu einer letzten Neuinszenierung – nicht im Großen Haus der Württembergischen Staatstheater, sondern unter freiem Himmel auf dem Anlagensee. Drei Spielbühnen, insgesamt über 1500 Tonnen schwer, waren auf dem See aufgebaut worden; am Seeufer hatte man eine riesige Zuschauertribüne mit 4000 Sitzplätzen erstellt. Vom 12. Juli bis 15. August sollte hier Johann Strauß’ Operette Eine Nacht in Venedig über die Bühne gehen. Die meisten Partien waren doppelt besetzt; Wunderlich sang alternierend mit Hans Blessin den Caramello. Neben dem hauseigenen Ensemble waren renommierte Operettenstars verpflichtet worden: Erna-Maria Duske von der Hamburger Staatsoper und Otto Falvay vom Gärtnerplatztheater in München – »doch bewegten sich«, wie in den Stuttgarter Nachrichten zu lesen war, »auch die hauseigenen Sänger erfreulich munter. An deren Spitze ist Fritz Wunderlich als quicklebendiger und weit über Operettenformat schön singender Caramello zu rühmen… «[108]

      Saisonschluß, Sommerpause im Opernbetrieb. Bereits am 1. August wurde Wunderlich für das Schlußkonzert der diesjährigen Bachwoche in Ansbach erwartet. Zwei weltliche Bach-Kantaten standen auf dem Programm: »Auf, schmetternde Töne« BWV 207a und »Tönet, ihr Pauken!« BWV 214. Werner Egk dirigierte, am Cembalo begleitete Karl Richter. Neben Wunderlich sangen Friederike Sailer, Sieglinde Wagner und Dietrich Fischer-Dieskau. »Nachdem Werner Egk den Eingangschor »Auf, schmetternde Töne‹ geprobt hatte, erhob sich Fritz Wunderlich und sang«, erzählte Fischer-Dieskau von dieser ersten Begegnung. »Fast erschrak ich beim Hören, denn diese Stimme hatte einen berückenden Schmelz und dabei doch das notwendige Gran Metall im Klang, wie es so von deutschen Tenören schon seit langem nicht mehr zu vernehmen war. In der Probenpause fragte ich den still in einer Saalecke wartenden Mann, wo er denn herkomme und seit wann er sänge.«[109]

      Zwei Monate später sang Wunderlich erneut Bach: diesmal die h-moll-Messe. Und zwar im Rahmen dreier Konzerte des Freiburger Bachchors, wie immer unter der Leitung von Theodor Egel. Als Orchester hatte er das Musikcollegium Winterthur gewonnen. Erste Station dieser kleinen Gastspielreise war Stuttgart: die neueröffnete Liederhalle mit dem rund 2000 Zuhörern Platz bietenden Beethovensaal. Wunderlich hatte offensichtlich nicht seinen besten Tag: »In den Arien hörten wir Maria Staders kostbaren Sopran, Marga Höffgens warme Altstimme, Fritz Wunderlichs etwas zurückhaltenden Tenor und Heinz Rehfuss’ schönen Bariton.«[110] Daß Wunderlich zurückhaltend sang, hatte seinen guten Grund. Mit seiner Frau hatte er einige Urlaubstage im heimatlichen Kusel verbracht. Doch plötzlich kriegte er Zahnschmerzen, und er mußte einen Arzt aufsuchen. Ein retinierter Weisheitszahn machte ihm derart Probleme, daß der Arzt das Zahnfleisch über dem Weisheitszahn mit einem kleinen Schnitt eröffnete, um dem Zahn Raum zu schaffen. Zurückhaltung und Vorsicht beim Singen waren also geboten. Doch es sollte noch schlimmer kommen.

      Tags darauf war ein Konzert in Frankfurt angesetzt, der zweiten Station auf dieser kleinen Konzerttournee, und zwar im Großen Sendesaal des Hessischen Rundfunks. Drei Werke standen diesmal auf dem Programm: Totentanz von Arthur Honegger, der dritte Teil von Frank Martins Oratorium In terra pax sowie Bachs Magnificat. Das Konzert wurde direkt im Rundfunk übertragen. Doch als das Konzert beginnen sollte, war Wunderlich nicht da. Zwar hatte er erst im zweiten Werk zu singen, doch wurde man unruhig, rief sicherheitshalber in seinem Hotel an und erhielt den Bescheid, er sei schon weg. Also war er unterwegs – zuversichtlich begann Egel mit dem Konzert. Um so größer sein Erstaunen, als er, nach dem einleitenden Totentanz, Wunderlich noch immer nicht in der Künstlergarderobe vorfand. Was sollte man tun? Die Übertragung am Rundfunk lief, das Publikum im Saal wartete, eine Unterbrechung des Konzerts war nicht denkbar. Also mußte man ohne Wunderlich auskommen. Die Solisten und Egel gingen ohne ihren Tenor zurück in den Sendesaal aufs Konzertpodium. Die Techniker und der Aufnahmeleiter im Kontrollraum blickten fragend durch die Glasscheibe. Egel deutete ihnen mit knapper Geste an, daß er die Tenorpartie selber singen werde. Entsprechend wurde der Galgen mit dem Mikrofon zum Dirigenten geschwenkt; dann gab dieser den Einsatz, und die Aufführung begann. Vor den Seligpreisungen des Tenors steht eine lange Passacaglia für Alt; Marga Höffgen sang sie mit warmer Expressivität – da plötzlich tauchte Wunderlichs Gesicht an der Glastür des Bühneneingangs auf. Egel winkte ihm ab: Er solle ja nicht hereinplatzen, zumal die Sendung lief und sein Mikrofon ja weggeschwenkt war.[111] Was war passiert? »Vor dem Konzert hatte er sich wie üblich im Hotel niedergelegt, um zwei, drei Stunden zu schlafen«, erzählte Eva Wunderlich. »Wie er erwachte, hatte er den Mund voller Blut. Der Schnitt, der dem Weisheitszahn hätte Raum schaffen sollen, war erneut aufgebrochen, und so mußte Fritz notfallmäßig zur Zahnbehandlung in die Kieferklinik, wo die Blutung gestillt wurde. Anschließend sind wir schnellstens ins Funkhaus hinübergefahren.«[112] Für die Seligpreisungen war es schon zu spat – immerhin konnte Wunderlich im abschließenden Magnificat noch singen, käseweiß im Gesicht und sehr erregt. Selbstverständlich wurde das von den Kritikern vermerkt: »Ein Husarenstück des Dirigenten verdient hier notiert zu werden«, las man am 1. Oktober in der Frankfurter Neuen Presse. »Kurzerhand übernahm er nämlich selbst das Tenorsolo, weil der Solist vorübergehend unpäßlich war, und zwar mit untadeligem Gelingen.«

      Pausieren, Absagen war nicht möglich: Zwei Tage später schon fand das dritte Konzert statt: wiederum die h-moll-Messe, diesmal in Berlin – Wunderlichs erster Auftritt in dieser einst so bedeutenden Musikmetropole. »Die solistischen Vokalpartien hatten Elisabeth Grümmer, Marga Höffgen und Dietrich Fischer-Dieskau übernommen, Sänger, die sich in oratorischen Werken Bachs vielfach bewährt haben; zu ihnen trat für die Tenorarien der Stuttgarter Fritz Wunderlich, der sich seiner Aufgabe mit sicherem Stilgefühl und kultivierter Stimmbehandlung entledigte«, hieß es im Telegraf. Und das Spandauer Volksblatt betonte, daß man sich die solistische Besetzung nicht besser hätte wünschen können: »Neben Elisabeth Grümmer, Marga Höffgen und Dietrich Fischer-Dieskau ein Tenor aus Stuttgart, den man sich hier merken sollte: Fritz Wunderlich.«[113]

      Noch eine weitere Mozart-Opernrolle bescherte ihm das Mozart-Gedenkjahr: Mitte Oktober produzierte der Süddeutsche Rundfunk Stuttgart in der Liederhalle das deutsche Singspiel Zaide. Mozart hatte es 1779, vor dem Idomeneo, komponiert, und zwar für eine böhmische Operntruppe, die damals in Salzburg gastierte. Zwei Akte – insgesamt 15 Musiknummern – hatte Mozart vollendet, dann ließ er die Arbeit liegen. Der Titel Zaide stammt übrigens nicht vom Komponisten, sondern vom ersten Herausgeber der Partitur. Mozart nannte das Singspiel, komponiert auf ein Libretto von Johann Andreas Schachtner, Das Serail. In der Tat kann man das Werk, auch von der Thematik her, als Vorstufe zur Entführung aus dem Serail betrachten. Die Musik bietet nicht viel mehr als eine herkömmliche Charakterisierung der Figuren; allerdings ist die Zeichnung des duldenden Liebespaares, Zaide und Gomatz, ungleich besser und differenzierter gelungen als die der übrigen Figuren. Vor allem der erste Akt, welcher Gomatz und Zaide praktisch allein gehört, offenbart echte Mozartsche Anmut und Zartheit in der Empfindung. Fritz Wunderlich und Maria Stader sangen dieses Liebespaar – zwei der kostbarsten Mozart-Stimmen. Auffallend die hell


<p>107</p>

Stuttgarter Zeitung, 2. Juli 1956.

<p>108</p>

Stuttgarter Nachrichten, 13. Juli 1956.

<p>109</p>

Dietrich Fischer-Dieskau: Nachklang, 258.

<p>110</p>

Stuttgarter Nachrichten, 29. September 1956.

<p>111</p>

Nach einem Brief von Klaus Gottschall vom 4. Januar 1988 an Werner Jordan.

<p>112</p>

Interview des Autors mit Eva Wunderlich, 4./8. Dezember 1989.

<p>113</p>

Telegraf, 2. Oktober 1956; Spandauer Volksblatt, 2. Oktober 1956.