Fritz Wunderlich. Werner Pfister. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Werner Pfister
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783795786120
Скачать книгу
für die Sänger, wird von einem Klangkörper ganz elementarer Art getragen und gestützt: an Streichern nur eine Gruppe von Kontrabässen, dazu vielfältig besetztes Schlagzeug, sechs Klaviere, vier Klaviere zu vier Händen, vier Harfen, Holzbläser, Trompeten, Xylophone, verschiedene Trommeln, Röhrenglocken und Glockenspiel, Gongs, Tamtams und Tamburine.

      Um den Sängern eine erste Idee von dieser neuartigen Musik zu vermitteln, baute Walter Hagen-Groll, der Studienleiter, auf der Probebühne eine improvisierte Schlagzeuggruppe um seinen Flügel auf und bediente sie, wo immer er eine Hand oder einen Fuß frei hatte, auch selber. »Wieland Wagner kam mit einem volkommen intakten dramaturgischen Konzept zur ersten Probe«, erzählte Hagen-Groll, »und er hielt den Sängern eigentliche Einführungsvorträge. Alles war geistig und intellektuell untermauert, stand auf einem festen Fundament. Nicht ein einziges Mal habe ich es erlebt, daß ein Sänger daran gezweifelt und ihn beispielsweise gefragt hätte: ›Ja, meinen Sie wirklich, daß man das machen kann?‹ Besonders wichtig war für Wieland Wagner das Statuarische, die Bewegungsregie. Er konnte zu Martha Mödl – sie sang die Rolle der Antigonae – beispielsweise sagen: ›Bei dieser Stelle gehst du jetzt nicht wirklich, sondern nur innerlich auf deine Schwester Ismene zu und berührst sie. Dein Arm reicht zwar nicht über die fünf Meter Distanz, aber wenn du sie innerlich berühren willst und das ausdrückst, dann wächst dein Arm deiner Schwester entgegen.‹«

      Für Wunderlich war das eine vollkommen neue Welt. Ungewöhnliche Theaterarbeit unter der Aufsicht eines genialen Erneuerers des Musiktheaters, und ungewohnte Musik auch. Er sang einen der fünfzehn Thebanischen Alien. »Die standen manchmal wohl eine halbe Stunde am selben Fleck. Wenn sie aber, auch einzeln, nur einen einzigen Schritt nach vorne traten, dann wichen die Zuschauer im Publikum innerlich gleichsam einen Schritt zurück – so intensiv und stark wirkte diese Bewegung.«[97] Der asketische Stil des Werks wurde von Wieland Wagner auch szenisch betont: mit einer vorhanglosen freien Bühne ohne irgendwelche Aufbauten, eingegrenzt einzig mit schwarzen Seidensoffiten. Und die Kostümierung der Solisten beschwor mit ihren blauen Plastikperücken und abenteuerlichen Gewändern eine archaisch-barbarische Antike: Der letzte Rest eines romantisierenden Illusionstheaters war getilgt. Für das Publikum alles andere als leichte Theaterkost. Aber es schien sie problemlos goutiert zu haben: »Ein Ausnahmewerk der Musikbühne unserer Zeit hatte sich, wie der anhaltende Schlußbeifall bezeugte, auf einer Repertoirebühne imponierend bewährt«, resümierte Kurt Honolka in seiner Kritik.[98]

      Am Rande notiert: Während der Antigonae-Proben muß Wunderlichs Stimme in besonderer Weise aus dem Verein der fünfzehn Thebanischen Alten herausgeklungen haben. Einem zumindest fiel dieser Stimmklang auf – Wieland Wagner nämlich. Und was keiner gedacht hätte, geschah: Wagner lud den jungen Wunderlich ein, in Bayreuth den Lohengrin zu singen. Eine absurde Idee? Oder eine verlockende? Möglicherweise hätte er auf der Bayreuther Festspielbühne als konkurrenzlos junger Schwanenprinz in Silberrüstung einen fulminanten Einzug gehalten. Dennoch lehnte Wunderlich rundweg ab: Er sei noch zu jung, um solche Aufgaben zu übernehmen; das würde ihn von seinem eigentlichen Weg abbringen.

      Übrigens waren das nicht die einzigen heldentenoralen Anfechtungen, denen Wunderlich damals ausgesetzt war. Am 14. und 18. Juni gastierte der weltberühmte italienische Tenor Mario del Monaco in zwei Othello-Vorstellungen an der Stuttgarter Oper. Zwei der sprichwörtlichen Zebravorstellungen – Wunderlich war in der kleinen Partie des Cassio ebenfalls mit dabei. Von vielen wurde del Monaco zwar als eindimensionaler Brüller abgetan, als ein Sänger, dem jedes Differenzierungsvermögen abgeht. Dennoch, Wunderlich war von der schieren Stimmgewalt und strahlkräftigen Italianità derart beeindruckt, daß er den großen Kollegen zu Hause nachzuahmen versuchte. Irgendwie müsse es doch auch ihm gelingen, solch herrliche und herrlich laute Töne herauszukriegen. Doch er stellte diese heldentenoralen Versuche bald wieder ein, weil er sich innerhalb kürzester Zeit hoffnungslos heiser geschrien hatte.

      Gefahren, denen jeder junge Sänger irgendwann im Verlauf seiner Karriere einmal ausgesetzt ist. Wichtig ist, daß man diese Gefahren rechtzeitig erkennt. »Man muß eine ganz exakte und präzise Linie vorausberechnen«, meinte Wunderlich Jahre später in einem Gespräch mit Wolf-Eberhard von Lewinski. »Wenn man dieser Linie dann aufgrund von irgendwelchen Verlockungen zu früh aus dem Wege geht, führt das unweigerlich in die Katastrophe … Ich hatte das Glück, in Ferdinand Leitner einen hervorragenden Gesangsfachmann als Generalmusikdirektor zu haben, der mir seinerzeit Heldentenorallüren schon aus dem Kopf trieb … Wenn man mit fünfundzwanzig anfängt und mit siebenundzwanzig schon den Lohengrin singt, dann kann man mit Sicherheit rechnen, daß man mit fünfunddreißig fertig ist. Stimmbänder sind keine Fäuste, Stimmbänder sind ein Teil des menschlichen Organismus. Und es ist eine alte Erfahrungstatsache, von so vielen Sängern schon bewiesen, daß man erst mit fünfundvierzig auf dem Höhepunkt seiner Karriere steht..«[99]

      SECHSTES KAPITEL

Neue Rollen auf der Bühne – und privat: Fritz Wunderlich heiratet

      Carl Orff, Hölderlin, Antigonae, Wieland Wagner: Für Wunderlich waren das aufregende Begegnungen mit einer völlig neuen Theaterwelt. Anziehend und dennoch befremdlich, begeisternd und irgendwo auch ungeheuerlich. Und ganz am Rande dieser Welt hatte er etwas bemerkt, das sein Interesse bald vollständig beanspruchte. Vier Harfen schreibt Orff in der Antigonae-Partitur bekanntlich vor. Im Stuttgarter Opernorchester gab es aber nur zwei Harfenstellen; also mußten die restlichen mit Zuzügern besetzt werden. Mehrmals bewährt in dieser Funktion hatte sich die Tochter des ersten Flötisten im Opernorchester, Eva Jungnitsch. Als Harfenstudentin war sie oft schon für Bühnenmusiken beigezogen worden, auch im Schauspielhaus. Dem Opernbetrieb stand sie recht zwiespältig gegenüber. Vor allem fand sie, Sänger seien eigentlich ziemlich eingebildet, immer nur auf Bewunderung aus. Mit ihr sollte da keiner rechnen können, und entsprechend unauffällig schlich sie sich bei den Proben jeweils an den Sängern vorbei in den Orchestergraben hinunter. Staatskapellmeister Dünnwald sah sich eine dieser Antigonae-Proben an, und zwar von der Seitenbühne aus. »Plötzlich stand Wunderlich neben mir und sagte: ›Du, heute habe ich die Frau meines Lebens gesehen! Die heirate ich!‹ Ich war ziemlich verdattert: ›Sag mal, machst du einen Witz?‹ ›Nein, das ist kein Witz. Die heirate ich.‹ ›Ja, wen denn?‹ wollte ich wissen. Und da zeigt er verstohlen in den Orchestergraben hinunter, auf die Aushilfsharfenistin.«[100]

      Eva Jungnitsch ahnte vorläufig nichts von ihrem Glück. »Bei einer der folgenden Proben mußte dann plötzlich unterbrochen werden; irgendwelche Heizungsrohre waren defekt, und der ganze Zuschauerraum füllte sich mit Dampf. Die Sänger kamen nach vorn an die Rampe und schauten neugierig in den Orchestergraben hinunter. Auch Fritz Wunderlich. Er hat direkt zu uns Harfenistinnen geblickt und scherzend gemeint, der Dampf müsse wohl aus den Harfen kommen.« Für solche Späßchen hatte Eva Jungnitsch allerdings kein Gehör: »Ich reagierte total ablehnend, und Fritz scheint denn auch instinktiv gefühlt zu haben, daß es nicht günstig ist, mich in der Oper auf diese Weise anzusprechen.«[101] Auf der Bühne hatte Eva Jungnitsch den Stuttgarter Nachwuchstenor schon einmal gesehen – beim Stuttgarter Opernball zwei, drei Wochen zuvor. Einen Superauftritt hatte sich Wunderlich ausgedacht, zum Vergnügen und Gelächter der Zuschauer: Auf den hehren Brettern der Stuttgarter Oper brillierte er mit seiner Paradenummer aus früheren Studententagen. Er packte seine Trompete aus dem mitgebrachten Etui und servierte dem verdutzten Publikum seine Louis-Armstrong-Parodie. Das war der einzige Eindruck, den Eva Jungnitsch bislang von Wunderlich hatte. Einige Tage später war ihr Vater ganz begeistert von der Oper nach Hause gekommen: Traxel habe für die Zauberflöte absagen müssen, und da sei ein junger Nachwuchssänger eingesprungen – endlich wieder einmal eine echte, schöne Tenorstimme.

      Bald sollte Eva Jungnitsch erneut Gelegenheit bekommen, Wunderlich zu hören. Vorerst hatte dieser allerdings einige Konzertverpflichtungen wahrzunehmen. Am 18. März sang er, übrigens zum ersten Mal, Mozarts Requiem in der Stephanskirche in Konstanz. »Ebenbürtig neben Ursula Buckels hinreißend seelenvollen und klar strahlenden Sopran trat der helle Glanz und die fesselnde Ausdrucksgewalt


<p>97</p>

Interview des Autors mir Walter Hagen-Groll, 7. Dezember 1989.

<p>98</p>

Musica, 5/1956.

<p>99</p>

In: Ü-Wagen I in Kusel.

<p>100</p>

Interview des Autors mit Josef Dünnwald, 10. Januar 1990.

<p>101</p>

Interview des Autors mit Eva Wunderlich, 4./8. Dezember 1989.