Hinzu kamen Konzertverpflichtungen. Allein im Oktober 1956 bestritt er vier Chorkonzerte. Mit dem Philharmonischen Chor Stuttgart trat er, an der Seite von Friederike Sailer und Herbert Brauer, in Hugo Hermanns Oratorium Jesus und seine Jünger auf; mit dem Männergesangverein »Frohsinn 1852« von Mühlheim an der Ruhr sang er Strawinskys Oratorium Oedipus Rex – mit Res Fischer, der großen Sängerdarstellerin der Stuttgarter Oper, als Jokaste. Am 14. Oktober wurde er vom Augsburger Schlesierchor für eine Aufführung von Georg Friedrich Händels Oratorium Judas Maccabaeus erwartet. Wobei er, als Interpret der Titelpartie, offensichtlich einen Einsatz verpaßt hat: »Die Aufführung war gut … nicht zuletzt durch ein vorzügliches Solistenquartett, an dessen Spitze man den Tenor Fritz Wunderlich nennen möchte. Das ist ein Oratoriensänger comme il faut. Hier ist alles da, von der kräftigen, geschmeidigen und in allen Lagen gutsitzenden Stimme bis zur technisch und rhythmisch präzisen Durchführung der einzelnen Figur und der musikalisch wie textlich vorbildlichen Deklamation. Daß er einmal um eine Nummer zu früh nach seinem Schwert zu rufen begann, verzieh man ihm in Anbetracht der im ganzen vorbildlichen Leistung gern.«[120] Am 25. November sang er Händels Judas Maccabaeus erneut, diesmal in Riedlingen. Genau einen Monat später folgte – in einem Konzert des Philharmonischen Chors Stuttgart unter der Leitung von Heinz Mende – Belsazar, ein weiteres Händel-Oratorium. Auch hier erntete Wunderlich Lob und Anerkennung: »In erster Linie ist Fritz Wunderlich zu nennen, der sich in der letzten Zeit erstaunlich entwickelt hat. Er war als Belsazar gesanglich und dramatisch gleich gut, besonders seine sauberen Koloraturen müssen gerühmt werden.«[121]
Auch einen Lieder- und Arienabend studierte Wunderlich ein. Der Verein ehemaliger Schülerinnen der Neustadter Höheren Mädchenschule hatte ihn eingeladen – und er präsentierte sich, am Flügel von Hans Gresser begleitet, mit einem wahrhaftig kühnen Programm. Im ersten Teil sang er Lieder von Brahms und Schubert; nach der Konzertpause wartete er mit einer Reihe anspruchsvoller Opernarien auf: »Wenn der Freude Tränen fließen« aus der Entführung, »Es muß gelingen« aus der Verkauften Braut, »Wie eiskalt ist dein Händchen« aus Boheme, »Keiner schlafe« aus Turandot sowie – und diesmal gar in der Originalsprache – »La donna è mobile« aus Verdis Rigoletto. Und nach dieser beispiellosen tour de force hatte Wunderlich gar noch Reserven für eine ähnlich schwierige Zugabe: für die »Bildnisarie« aus der Zauberflöte. Solche Lieder- und Arienabende waren übrigens sehr begehrt, beim Publikum wie bei den Künstlern. Zahlreiche Anfragen kamen von Firmen – geschlossene Veranstaltungen für geladene Gäste. »Fritz machte immer gerne mit«, erzählte Josef Dünnwald, der Wunderlich bei solchen Anlässen wiederholt begleitet hat, »denn das gab zusätzliches Honorar, und man konnte das eine oder andere Werk hier neu lernen und ausprobieren. Einmal haben wir zusammen in der Stuttgarter Liederhalle musiziert – auch ein Firmenabend, also eine geschlossene Veranstaltung. Ich habe mich am Nachmittag mit Fritz getroffen, bei ihm zu Hause, um die Lieder und Arien nochmals durchzunehmen. Plötzlich schaute er mit starrem Blick aufs Programm: ›Da sind ja noch zwei Lieder drauf … An die hab’ ich gar nicht gedacht!‹ Zwei Schumann-Lieder waren es. ›Nun, so schlimm ist das auch wieder nicht‹, sagte ich, ›singst halt zwei andere Lieder.‹ Aber davon wollte er nichts wissen: ›Nein, nein, die machen wir jetzt schnell, die lerne ich schon noch!‹ Wir spielten sie ein paarmal durch, und am Abend hat er sie gesungen. Auswendig selbstverständlich und mit schönstem Ausdruck.«[122]
Die Opernsaison begann für Wunderlich mit einer Stuttgarter Erstaufführung: Günther Rennert inszenierte Alban Bergs Wozzeck, zweifellos eines der markantesten Zeugnisse des modernen Musiktheaters. Im Jahr 1914 hatte Berg das Schauspiel Georg Büchners kennengelernt – die Tragödie des Soldaten und Mörders Woyzeck, die Büchner im Sommer 1836 entworfen, aber unvollendet hinterlassen hatte. Das Drama, ein erratischer Block in der Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts, rätselhaft und von ungemeiner Anziehungskraft, wurde 1879 aus dem Nachlaß des Dichters erstmals veröffentlicht. Für seine Oper straffte Alban Berg den Ablauf der Handlung, indem er von den fünfundzwanzig Szenen Büchners deren neun strich und zwei weitere in eine einzige Szene zusammenschloß. Diese fünfzehn Szenen gruppierte er symmetrisch in drei Akte, mehr musikalischen als literarischen Gesichtspunkten folgend und, dem konstruktiven Kompositionsstil entsprechend, in erster Linie nach den Gesetzen der musikalischen Architektonik vorgenommen. Obwohl Berg die Grenzen der Tonalität weit hinter sich ließ, mied er nicht den Anschluß an die Tradition: Suiten- und Sonatensätze, Fugen und Inventionen, Variationen und Passacaglien sind alles herkömmliche Formen der absoluten Instrumentalmusik, die Berg im Wozzeck zum dominierenden Gestaltungsprinzip erhob. Die Uraufführung am 14. Dezember 1925 an der Berliner Staatsoper unter der Leitung von Erich Kleiber löste Erregung, ja fast einen Skandal aus. 1933 wurde das Werk in Deutschland verboten, und nach dem Zweiten Weltkrieg tauchte es nur ganz sporadisch auf den Spielplänen der führenden Opernhäuser auf. Immer noch war es ein Risiko, den Wozzeck auf die Bühne zu bringen – nicht nur ein künstlerisches Risiko, sondern auch ein kulturpolitisches. Sechs Jahre zuvor erst, im Sommer 1951, hatte man die Oper erstmals an den Salzburger Festspielen gezeigt. Vorangegangen waren erregte Politdebatten gegen den »Schmutz und Schund, wie das der Wozzeck ist…«[123]
Nun also die Stuttgarter Erstaufführung. Generalmusikdirektor Leitner besorgte die musikalische Einstudierung, Günther Rennert inszenierte. »Ich habe immer das Gefühl gehabt, daß alle glücklich waren, die mit ihm arbeiten durften«, erinnerte sich Ferdinand Leitner. »Er war ein leiser Choleriker, und er mußte sich in den Proben immer wieder zurückziehen, weil er unter Atembeschwerden der schwersten Art litt.« Rennert bestand darauf, daß volle vier Wochen geprobt werde. Wunderlich sang den Andres, naturburschenhaft, soweit das die höchst komplizierte Musik Bergs überhaupt zuläßt. Toni Blankenheim von der Hamburger Staatsoper gastierte als Wozzeck; Gerhard Stolze, ein unvergleichlich intensiver Bühnenkünstler, sang den Hauptmann. »Stolze hatte nicht die halbe Stimme von Wunderlich, aber er war ein sensationeller Sängerdarsteller«, erinnerte sich Ferdinand Leitner. »Sobald er auf die Bühne kam, zog der die gesammelte Aufmerksamkeit des Publikums auf sich.«[124] Und es darf zu den Glücksfällen der Schallplattengeschichte gezählt werden, daß Wunderlich und Stolze knapp neun Jahre später diese Partien nochmals sangen: für die Wozzeck-Schallplattenproduktion der Deutschen Grammophon Gesellschaft, die Karl Böhm dirigierte.
Zwölf Vorstellungen sang Wunderlich im November in Stuttgart: dreimal Wozzeck (Andres), einmal Aida (Der Bote), einmal Boris Godunotv (Leibbojar), zweimal Die verkaufte Braut (Hans), zweimal Die Entführung aus dem Serail (Belmonte), einmal Die Zauberflöte (Tamino) und zweimal Othello (Rodrigo). Am 1. Dezember 1956 gastierte er zum ersten Mal an den Städtischen Bühnen in Frankfurt am Main: als Belmonte in der Entführung in einer Inszenierung Leopold Lindtbergs. Am Pult stand Felix Prohaska, Colette Lorand war die Konstanze. Und keine zwei Monate später, am 23. Januar 1957, kam er ein zweites Mal nach Frankfurt: diesmal als Tamino. Übrigens das einzige Mal, daß Fritz Wunderlich unter der Stabführung von Georg Solti gesungen hat.
Auf Jahresende hatte er sich wiederum eine neue Rolle zu erarbeiten: den Beppo in Ruggiero Leoncavallos veristischer Meisteroper Der Bajazzo. Eine mittelgroße Partie. Die heldische Partie des Canio sang Eugene Tobin mit einer Stimme wie aus Stahl, Kollege Gustav Neidlinger mimte den Tonio, und Wilhelm Seegelken dirigierte. »Ein hochbegabter, ja ein höchstbegabter Dirigent«, betonte Hans Günter Nöcker. Er sang den Alfio in Mascagnis Einakter Cavalleria rusticana, den man, einer längst eingespielten und bewährten Tradition folgend,