Fritz Wunderlich. Werner Pfister. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Werner Pfister
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783795786120
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sangen Josef Traxel (Oedipus) und Res Fischer (Jokaste), unter den neu besetzten Sängern Fritz Wunderlich in der kleinen Partie des Hirten, was von der Kritik besonders vermerkt wurde: »Neu war Fritz Wunderlich, der sich mit seinem quellfrischen Tenor und seiner empfindungsreichen Musikalität im Ungewohnten zurechtfand.«[130]

      Tags darauf gleich nochmals ein Rollendebüt: Erstmals sang Wunderlich die zwar kleine, aber sehr schwere und von allen Tenören gefürchtete Partie des Sängers im Rosenkavalier von Richard Strauss. Zu singen gibt diese Partie wenig mehr als drei Minuten. Also hat der Sänger kaum Zeit, um sich auf der Bühne einigermaßen in die Partie einzuleben – und genau darin liegt, abgesehen von der hohen Tessitura und den langen Kantilenen, die es zu bestehen gilt, ihre immense Schwierigkeit. Leitner, der die Aufführung dirigierte, hatte aber Vertrauen in Fritz Wunderlich. Er war überzeugt, daß er diese Partie, die durchaus einen heldischen Zug hat, meistern würde. Dieses Vertrauen war übrigens nicht selbstverständlich. Generalintendant Schäfer hätte Wunderlich lieber in leichteren Partien gesehen und versuchte wiederholt, Wunderlich ins Tenorbuffofach abzudrängen. Doch Leitner, der von Stimmen und ihrer Entwicklung einiges verstand, wehrte sich gegen solche Pläne. »Er hat den Wunderlich von Anfang an geliebt«, bestätigte Hans Günter Nöcker, »auch wenn das Wunderlich erst viel später begriff. Damals aber ärgerte er sich oft, weil Leitner ihn immer ›den Kleinen‹ nannte. Für uns Außenstehende war das klar eine Form von Zuneigung und hatte mit Geringschätzung überhaupt nichts zu tun.«[131]

      Die Bilanz dieses Februars für Fritz Wunderlich: total zwölf Vorstellungen, drei davon waren Rollendebüts. Freie Zeit blieb kaum viel in jenen Jahren, und Freizeit war schon fast ein Fremdwort. Stets trafen neue Angebote ein, von Konzertveranstaltern, von Chorvereinigungen, aber auch vom Rundfunk. Wer weiterkommen wollte, mußte zugreifen; zudem gab es vorderhand noch viel Neuland zu entdecken, und das reizte Wunderlich. Am 14. Februar fuhr er nach Freiburg. Mit dem Kleinen Unterhaltungsorchester des Südwestfunks unter Willi Stechs Leitung nahm er fünf Titel auf: die beiden Frühlingslieder »Florentiner Mai« und »Es gibt eine Zeit« von Toni Leutwiler, »Sonne über Capri« und »Übers Meer grüß’ ich dich« von Hermann Krome sowie »Wenn mein Herz Heimweh hat« von Maurus Katt. Und ebenfalls im Februar fanden in der Villa Berg in Stuttgart die ersten Aufnahmesitzungen für eine Gesamteinspielung der Oper Zirkus Carambas von Heinrich Feischner statt, eine Produktion des Süddeutschen Rundfunks, die aber erst im April des folgenden Jahres beendet werden konnte. Unter Wunderlichs Kollegen: Horst Günter, Gisela Litz und Benno Kusche. »Ich bin ihm bei dieser Rundfunkaufnahme überhaupt zum ersten Mal begegnet«, erinnerte sich Kusche Jahre später, »ein zauberhafter, uneitler und fröhlicher Mensch. Seine Stimme war einmalig. Und ich sagte ihm damals: ›Sie werden mit Ihrer Stimme eine Weltkarriere machen.‹«[132] Was Wunderlich allerdings nicht wußte: daß Kusche, damals Ensemblemitglied der Bayerischen Staatsoper, unmittelbar nach diesen ersten Aufnahmesitzungen nach München zurückfuhr und dort die Intendanz auf diese herrliche Stimme aufmerksam machte. Das sollte bald Folgen haben.

      Am 18. März war auf dem Spielplan der Stuttgarter Oper wiederum Strawinskys Oedipus Rex angesetzt, die dritte Vorstellung seit der Wiederaufnahme. Grace Hoffman sollte die Jokaste singen, Josef Traxel den Oedipus. Doch zwei Tage vor der Vorstellung sagte Traxel ab, und man fragte Wunderlich, ob er die Partie in der noch verbleibenden Zeit lernen könnte. Ein einziges Mal hatte er sie bisher gesungen, aber nur konzertant: im vergangenen Oktober in einem Konzert des Männergesangvereins »Frohsinn 1852« in Mühlheim. Dennoch wollte er es versuchen. »Tag und Nacht hat er gelernt. Den ganzen lateinischen Text mußte er büffeln, was eigentlich das Schwierigste war. Auf der Bühne war eine schiefe Ebene aufgebaut – es war damals die Zeit der schiefen Ebenen und Treppenfluchten auf den Opernbühnen –, und von dieser Ebene aus hatte Oedipus den größten Teil seiner Partie zu singen. Unter dieser Ebene befand sich ein Hohlraum, und da legte sich am Abend während der Vorstellung ein Korrepetitor hin, mit dem Klavierauszug in der Hand, um Fritz nach Bedarf sofort einflüstern und weiterhelfen zu können. Doch es war nicht nötig. «[133]

      Ende März sang Wunderlich mit dem Madrigalchor der Diözesanspielschar und dem Chor der Stuttgarter Eberhardskirche Haydns Oratorium Die Schöpfung. Anfang April fuhr er, zusammen mit Karl Richter, dem Münchener Bach-Chor und Bach-Orchester sowie den Kollegen Friederike Sailer, Margarete Bence, Horst Günter und Donald Bell, nach Italien. Mit Bachs Matthäus-Passion gastierte das vielköpfige Ensemble in Mailand und in Triest. »Nicht zu vergessen Fritz Wunderlich«, resümierte Il Piccolo am 9. April, »der die Evangelisten-Partie und die Tenor-Arien sang und dem ganz besondere Anerkennung für seine prägnante Diktion und seine vielleicht schon fast zu überschwengliche Gefühlswärme gebührt.«[134] Kaum zurückgekehrt, wurde er in der Stuttgarter Liederhalle erwartet:

      Johann Sebastian Bach: Johannes-Passion

      Fritz Wunderlich (Evangelist und Arien)

      Werner Ernst (Christus)

      Agnes Giebel

      Marga Höffgen

      Otto von Rohr

      Philharmonischer Chor und Philharmonisches Orchester Stuttgart

      Dirigent: Heinz Mende

      Ob sich Wunderlich, vor allem mit der Italienreise, nicht doch zuviel zugemutet hat? Vorbehalte meldete mindestens die Allgemeine Zeitung an: »Der sonst so treffliche Evangelist Fritz Wunderlich tat in seinem Bemühen, die lyrischen Stellen vollendet herauszuarbeiten, manchmal des Guten zu viel, und so war seine Leistung, zumal er an diesem Palmsonntag stimmlich nicht wie gewohnt disponiert schien, nicht ganz ohne Makel.«[135] Begeistertes Lob und einige sehr schmeichelhafte Vergleiche las man dagegen in der Esslinger Zeitung: »In Wunderlich wächst der Staatsoper ein zweiter Traxel heran (wenn nicht noch mehr!), ein Belcantist, bei dessen biegsamer Tongebung sich keine Stelle trocken ausnimmt. Er singt wie einst Ludwig oder, noch eher, Erb. Oder, heute, Krebs. Diese große Hoffnung heranblühen zu sehen ist nicht nur ein exquisites Vergnügen der Kenner, sondern in unserem Fall ein Kunstgenuß allerersten Ranges.«[136]

      Gleichzeitig liefen in der Stuttgarter Oper die Vorbereitungen zu einer Welturaufführung. Am 9. Mai sollte Werner Egks Oper Der Revisor erstmals über die Bühne gehen, und zwar im stilvollen Schwetzinger Rokokoschloßtheater im Rahmen der Schwetzinger Festspiele. Eine komische Oper, ein Auftragswerk des Süddeutschen Rundfunks,[137] komponiert nach der gleichnamigen Komödie von Nikolai Gogol. Wunderlich übernahm die Partie des Privatiers Bobtschinskij, Günther Rennert, der bewährte Spezialist für Komödiantisches, inszenierte. Mit Gerhard Stolze stand ihm für die Hauptrolle des Revisors, des vermeintlichen Beamten aus Petersburg, ein Vollblutkomiker zur Verfügung, und die Aufführung sollte für ihn zu einem persönlichen Triumph werden. Werner Egk übernahm die musikalische Einstudierung und dirigierte auch die ersten Vorstellungen. »So glücklich sich die Komposition des Revisors angelassen hatte«, schrieb Egk später, »so begünstigt erwies sich auch die Verwirklichung des fertigen Werkes. Dr. Rennert arbeitete mit einer ausgesuchten Besetzung und stellte das Komische, die hinreißende Lebenswahrheit und die pralle Lebensfülle Gogols auf die Bühne. Das Kostbare an seiner Inszenierung aber war, daß die Gestalten nicht verlorene, von uns abgetrennte, nur Gelächter und Ablehnung herausfordernde Wesen waren, sondern gleichzeitig Mitleid, ja sogar Sympathie erweckten. In der Bewegung der Zuschauer war Gelächter, Erschütterung und Rührung gleichzeitig eingeschlossen und die Vergebung, die eine Seele der anderen schuldig ist.« Die Uraufführung wurde für den Komponisten zu einem großen Erfolg. Seine Begabung für das Heitere und Komische hat im Revisor wohl seine schönste Ausprägung gefunden. Zugegeben, Egks Neigung, mit den knappsten kompositorischen Mitteln drastische Aussagen herbeizuzwingen, mit prägnanten Motiven eine plastische Atmosphäre zu beschwören, führte ihn, vielleicht unbedacht, bis an den Rand eines billigen Operettenjargons. Meisterhaft aber gelang ihm die Straffung von Gogols Komödientext, und selbst vom luziden Kammerspielton


<p>130</p>

Stuttgarter Zeitung, 28. Februar 1956.

<p>131</p>

Interview des Autors mit Hans Günter Nöcker, 24. Januar 1990.

<p>132</p>

Benno Kusche, Brief von Ostern 1986 an Werner Jordan.

<p>133</p>

Interview des Autors mit Eva Wunderlich, 4./8. Dezember 1989.

<p>134</p>

Il Piccolo, 9. April 1957.

<p>135</p>

Allgemeine Zeitung, 16. April 1957.

<p>136</p>

Esslinger Zeitung, 18. April 1957.

<p>137</p>

Die Uraufführung vom 9. Mai 1957 wurde vom SDR Stuttgart live mitgeschnitten.