Fritz Wunderlich. Werner Pfister. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Werner Pfister
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783795786120
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– und nun sein Versprechen gehalten.

      »Ich habe dann eine kurze Verständigungsprobe mit ihm gemacht. Am Abend, kurz vor Vorstellungsbeginn, hat ihn der Abendregisseur in die Aufführung eingewiesen: von welcher Seite welcher Auftritt zu machen sei, wo er wann wie zu stehen habe. Fritz war ein kolossal musikalischer Mensch; er hat aufgepaßt, ich habe aufgepaßt, und so ging diese Vorstellung mühelos über die Runden.« Kollegen erzählten später, Wunderlich habe für seinen ersten Auftritt zehn oder gar fünfzehn Meter Anlauf genommen in der Gasse hinter der Bühne – damit er mit der richtigen Intensität auf die Bühne eile, immerhin auf der Flucht vor einer giftigen Schlange … Es wurde eine umwerfende Vorstellung. Wunderlich stürzte sich mit der ihm eigenen Intensität in diese Aufgabe – beeindruckend, ein Riesenerfolg im Publikum und auch bei seinen Kollegen. Kurz: ein einmaliger Durchbruch.[93]

      Gleich am folgenden Tag gab es für Wunderlich ein neues Debüt: Erstmals sang er in München, in der Markuskirche, und erstmals unter der Leitung von Karl Richter. Drei Bach-Kantaten standen auf dem Programm: »Jesus nahm zu sich die Zwölfe« BWV 22, die berühmte Kreuzstabkantate BWV 56 sowie »Du wahrer Gott und Davidssohn« BWV 23. Seit 1951 wirkte der in Plauen im Vogtland geborene und in Leipzig in der Thomaskantorentradition ausgebildete Organist, Chorerzieher und Dirigent in München – als jüngster Dozent an der Staatlichen Musikhochschule, als Leiter des 1953 von ihm gegründeten Münchener Bach-Chores sowie des zwei Jahre später formierten Münchener Bach-Orchesters. Seit 1955 war er zudem Mitglied im Direktorium der Bachwoche Ansbach, der wohl renommiertesten Pflegestätte für Bachs Musik in Deutschland. In den wenigen Jahren seines Wirkens in München hatte Karl Richter die bayerische Metropole, die bis dahin ausschließlich für ihre römisch-katholische Kultur berühmt gewesen war, zu einem Weltzentrum evangelischer Kirchenmusik gemacht. Hier nun durfte Wunderlich seinen Münchner Einstand geben, im Kreise Bach-erfahrener Sängerkollegen: Antonie Fahberg, Hertha Töpper und Kieth Engen. Wunderlich scheint sich mit einer vorzüglichen Leistung eingeführt zu haben. »Der junge Tenor Fritz Wunderlich machte durch schöne stimmliche Mittel und Intensität seines Vortrags auf sich aufmerksam«, resümierte Karl Heinrich Ruppel am 22. Februar in der Süddeutschen Zeitung.

      Seit Ende Januar weilte Wieland Wagner in Stuttgart, wo er die Erstaufführung von Carl Orffs Trauerspiel Antigonae vorbereitete. Volle vier Wochen Probezeit hatte er verlangt. Unerbittlich. Für Wunderlich, der einen der Thebanischen Alten singen sollte, gab das unerwartete Probleme, wie er Margarethe von Winterfeldt, seiner »lieben, verehrten Meisterin«, schrieb:[94]

      … Weil das Stück so irrsinnig schwer ist und er die 4 Wochen ganz braucht, sind alle Urlaube im Februar für die Beteiligten gestrichen worden. Das hat für mich zur Folge, daß ich 8 Februartermine auf März und April verschieben muß, das heißt, ich kann nur die beweglichen Termine wie Rundfunk und Schallplattenaufnahmen verlegen, die Konzerte gehen mir verloren … Ich habe durch ein persönliches Gnadengesuch an Wieland Wagner erreicht, daß er mich für zwei Tage im Februar entläßt trotz des Urlaub-Verbotes unserer Intendanz … ich bin diese beiden Tage also in Freiburg zu Stech-Aufnahmen.

      Dazu kommt noch, daß ich 2 neue Partien für Konzert (Honegger: Johanna auf dem Scheiterhaufen, und Messias) sowie 3 Bach-Kantaten für die französische Schallplatten-Gesellschaft Discophile, ferner eine Lieder-Platte mit Friederike Sailer zusammen lernen muß. Das sind alles Dinge, die mir erstens viel Geld und zweitens neue Beziehungen einbringen… Ich habe im Süddeutschen Rundfunk das Weihnachtsoratorium gesungen, und daraufhin hagelte es von Angeboten aus allen Richtungen, ich bin, ohne zu übertreiben, voll und ganz ausgelastet und muß nur aufpassen, daß ich mich nicht übernehme … Manchmal habe ich Angst, richtige Angst. Ich bin doch noch nicht so gut, ich habe wenigstens das Gefühl, daß ich noch nicht so gut bin, um derartig von allen Seiten mit Angeboten überhäuft zu werden. Ich fürchte, daß ich, wenn das noch in dem Maße weitergeht, die Kontrolle eines Tages verlieren werde…

      Herrgott, wie war das alles so einfach damals, ich ging zu Ihnen und Sie wußten immer einen Rat. Als ich wegging, fühlte ich mich so stark und fertig. Nun, wo ich alles, aber auch jede Spannung, jede kleine und große Sorge und alle Angst mit mir allein, ganz allein abmachen muß, merke ich erst, was mir alles noch fehlt. Oh, es ist manchmal nicht einfach…

      Angst vor den Anforderungen, die plötzlich von allen Seiten an ihn gestellt wurden, und Angst vor Überforderung. Was auch verständlich ist: Tag für Tag Antigonae-Proben an der Oper, daneben Konzerte, Rundfunkaufnahmen bei Willi Stech in Freiburg, Schallplatteneinspielungen von Bach-Kantaten und eine Liedplatte zusammen mit Friederike Sailer: ein beachtliches Pensum für einen 25jährigen Sänger. Was am meisten erstaunt: Fritz Wunderlich mit Bach-Kantaten auf Schallplatte. Bekannt geworden sind aber nur die beiden Kantaten »Ich hatte viel Bekümmernis« BWV 21 und »Nun ist das Heil und die Kraft« BWV 50. Tatsächlich aber hat er im Frühjahr 1956 drei weitere Bach-Aufnahmen gemacht: die Kantaten BWV 31 »Der Himmel lacht« und BWV 249 »Kommt, eilet und laufet«, besser bekannt unter dem Namen Oster-Oratorium, dazu das Magnificat. Diese Aufnahmen sind auch veröffentlicht worden, und zwar auf zwei Platten. Nur sucht man auf den entsprechenden Schallplattenhüllen den Namen Fritz Wunderlich vergebens. Neben Friederike Sailer (Sopran), Margarete Bence (Alt) und August Messthaler (Baß), alles bekannte Stuttgarter Sänger, steht Werner S. Braun (Tenor). Man wird ihn in keinem Sängerlexikon finden – weil es ihn nicht gibt, nie gegeben hat: Es ist ein Pseudonym für Fritz Wunderlich. Wunderlich war nämlich seit kurzem heim Europäischen Phonoklub Stuttgart unter Vertrag, und zwar exklusiv. Jeden Monat hatte er eine bestimmte Anzahl Aufnahmen zu machen, die nach Minuten genau berechnet und mit einem monatlichen Fixum honoriert wurden. Anderweitige Schallplattenaktivitäten waren ihm verboten – also blieb nur die Idee mit dem Pseudonym. Übrigens das einzige Mal, daß Wunderlich davon Gebrauch gemacht hat.

      Für den Europäischen Phonoklub bestimmt war die im Brief ebenfalls erwähnte Liedplatte mit Friederike Sailer: Wunderlich sang Lieder von Beethoven, Brahms und Schubert sowie vier Schumann-Duette. Auch bei Willi Stech im Freiburger Landesstudio war er – am 20. und 21. Februar. Auf dem Programm standen fünf Titel: »Geh nicht fort« von Hans Moltkau, »O cara Maria« aus dem Film Die vertagte Hochzeit sowie »Der Duft, der eine schöne Frau begleitet« von Hans May, »Viele schöne Tage« von Hans Busch und »Kleiner Cowboy« aus Emmerich Kálmáns Operette Arizona Lady. 800 Mark Honorar kriegte er dafür. Das war fast doppelt soviel wie das Monatsgehalt, das ihm die Stuttgarter Oper bezahlte.

      1949, im Rahmen der Salzburger Festspiele, war Carl Orffs Antigonae uraufgeführt worden; nun bereitete Wieland Wagner die Stuttgarter Erstaufführung vor. Orff war für die Stuttgarter so etwas wie ein »Hauskomponist«: »Seine Opern… waren bei uns daheim«, erzählte Generalintendant Schafer. »Wir gaben sie alle, mit Ausnahme des rein bayerischen Stücks ›Astutuli‹ … Es waren die ersten und dauerhaftesten Erfolge, die wir mit der modernen Oper hatten.«[95]

      Antigonae stellt im Gesamtwerk Orffs eine entscheidende Wendung dar: die Wendung zur Tragödie. Orff folgte dem unveränderten, unverkürzten Wort des Sophokles in Friedrich Hölderlins Übertragung. Eine Nachdichtung eher als eine Übersetzung; Verse wie in Stein gehauen, unnachgiebig, »mittelbar faktisches Wort« nach Hölderlins eigener Terminologie.[96] Orff ging es darum, dieses Wort neu, aus seiner eigenen Zeitgenossenschaft heraus, zu erfahren. Deklamation allein, Sprechtheater also, genügte ihm nicht. Seine Idee einer Wiedergeburt der antiken Tragödie ließ sich nur mit mimisch-musikalisch-deklamatorischen Mitteln realisieren, mit dem ursprünglichen Ineinander von Klang und Gestik, Wort und mimischer Bewegung. Übrigens eines der ältesten, immer wieder aufgegriffenen Anliegen der europäischen Musikgeschichte, reichend von den ersten Bemühungen der Florentiner Camerata im 16. Jahrhundert, aus denen die Kunstform der Oper überhaupt erst entstanden ist, über die Reformopern Glucks bis zu den romantischen Visionen Richard Wagners vom Musikdrama als einem Gesamtkunstwerk. Musik im ursprünglichen griechischen Wortverstand meint ja die Dreiheit von Wort, Klang und Tanz. Reden und Wechselreden, Botenberichte und Chöre: Sie bilden bei Orff das musikalische Formgerüst. In der Antigonae dominiert ein über weite Strecken auf dem gleichen Ton gehaltenes Psalmodieren, ein Gleichschritt


<p>93</p>

Interview des Autors mit Josef Dünnwald, 10. Januar 1990.

<p>94</p>

Fritz Wunderlich, Brief vom 24. Januar 1956 an Margarethe von Winterfeldt.

<p>95</p>

Walter Erich Schäfer: Bühne eines Lebens, 214ff.

<p>96</p>

Friedrich Hölderlin: Anmerkungen zur Antigonae.