Fritz Wunderlich. Werner Pfister. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Werner Pfister
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783795786120
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16, jenseits der Bahnlinie in Stühlingen. Ihre Wohnung nannten sie »Villa Heuboden«, unter dem Dach in der sechsten Etage gelegen. Wobei nur Hackbarth ein regelrechtes Zimmer bewohnte und Fritz sich in der Küche einrichtete. Die übrigen Wohnräume beanspruchte der Vermieter. Jeden Morgen kam er in die Küche, um sich Wasser für seinen Morgenkaffee aufzusetzen. Doch das störte Fritz keineswegs, denn für gewöhnlich verbrachte er mit Hackbarth den Morgen im Café »Schill« gleich um die Ecke. Jeden Tag setzten sie sich an denselben Tisch, bestellten den Frühstückskaffee, aßen oft auch ein Stück Torte dazu und spielten Schach. Später dann ging jeder seiner Beschäftigung nach, besuchte Vorlesungen oder hatte Gesangsunterricht. Und eines Tages beschlossen sie, nun jeden Abend eine Extraflasche Bier zu trinken – damit ihre Stimmen größer würden.

      VIERTES KAPITEL

Bach-Passionen und Operettenschnulzen: Die ersten Konzerte und Rundfunkaufnahmen

      »Die Evangelienerzählungen meisterte Fritz Wunderlich mit dem durchgreifenden Metallglanz seiner hellen, kräftigen Stimme voll Musikalität.«[49] Diesen Satz, zugegebenermaßen kein Meisterstück deutscher Journalistenkunst, dürfte Fritz dennoch unzählige Male gelesen und wiedergelesen haben. Er stammt aus einer Kritik über sein erstes »großes« Konzert. Der Oratorienverein Esslingen am Neckar hatte ihn für eine Aufführung des Weihnachts-Oratoriums von Johann Sebastian Bach am zweiten Weihnachtsfeiertag engagiert. Von den insgesamt sechs Kantaten, die Bach unter dem Titel Weihnachts-Oratorium zusammengebündelt hat, standen vier auf dem Programm: die ersten drei als die traditionellen Weihnachtskantaten, worin die Geburt Christi erzählt wird, sowie die abschließende sechste Kantate mit der Anbetung durch die Hirten und der Flucht vor Herodes. Ein zweifellos anspruchsvolles Debüt für einen Tenor, der erst auf zwei Jahre intensives Gesangsstudium zurückblicken konnte; doppelt anspruchsvoll deshalb, weil Bach dem Tenor nicht nur die große Partie des Evangelisten zugeordnet hat, der den Bibelbericht rezitiert, sondern darüber hinaus noch zwei schwierige Arien. Daß Fritz diesen Anforderungen standzuhalten vermochte, erfüllte ihn zu Recht mit Stolz. Und eine Bestätigung hatte er nun ja in der Hand – wie gesagt: »Die Evangelienerzählung meisterte Fritz Wunderlich mit dem durchgreifenden Metallglanz seiner hellen, kräftigen Stimme voll Musikalität.«

      Sein erstes »großes« Konzert! Zumindest einen Vorteil gegenüber anderen Neulingen hatte er: Seit Jahren schon trat er auf, spielte und sang er vor Publikum. Manchmal aus purer Freude am Mitspielen, mehrheitlich jedoch aus zwingender Not – weil er auf den Verdienst angewiesen war. Und früh schon hatte er auch jenes Gefühl kennengelernt, das einen Künstler urplötzlich, wie aus dem Hinterhalt, zu beschleichen pflegt, meistens erst kurz vor dem Auftritt, wenn es Ernst gilt: das Lampenfieber. Jetzt, bei diesen ersten professionellen Auftritten, befiel es ihn erneut: »Als ich angefangen habe zu singen, da habe ich festgestellt, daß ich aufgrund der Aufregung kaum mehr singen konnte. Diese Aufregung war so stark, daß es mir oben drei oder vier Töne weggenommen hat. Ich konnte vor Aufregung nicht singen . . . Ich konnte einfach nicht, ich war unerfahren, wußte nicht, was ich tun soll.« Harte Erfahrungen eines Neulings; für den einen oder andern können sie das vorzeitige Ende einer vielversprechenden Karriere bedeuten, bevor diese eigentlich erst richtig begonnen hat. Denn nicht nur auf die Stimme kommt es an und auf die Musikalität eines Sängers, auf sein Durchhaltevermögen und seine Fähigkeit, neue Partien möglichst schnell und effizient zu memorieren. »Da kommen all die anderen Faktoren hinzu: das Publikum, das Scheinwerferlicht; da kommt der Dirigent, da kommt alles mögliche, was man nicht kennt als Anfänger. Und da ist mir aufgegangen: Wenn ich mit dem nicht fertig werde, werde ich niemals Sänger!«

      Eine Patentlösung gibt es nicht; mit dem Lampenfieber muß jeder auf seine Weise fertig werden. Das Rezept Wunderlichs: »Man muß sich, bevor man anfängt zu singen, auf einen Nullpunkt bringen. Nur von da aus kann man weiter. Wenn man das nicht fertigbringt, ist ein Singen unmöglich, jedenfalls ein Kunstsingen. Der Gesangvereintenor braucht das nicht oder nicht so dringend. Doch auch da ist mir etwas aufgefallen: Ich habe während meiner Tanzmusikzeit in Kusel einen Gesangverein dirigiert. Im Nachbardorf Ehweiler. Mit denen sind wir dann wiederum auf ein Nachbardorf gefahren, an ein Sängerfest. Da stellte ich fest, daß meine Tenöre plötzlich oben geflackert haben. Das war toll! Nur weil sie aufgeregt waren. Also: Die Nerven sind eine ganz, ganz entscheidende Sache.«[50]

      Ein Senkrechtstarter war Fritz Wunderlich kaum, jedenfalls nicht nach dem heute üblichen Gebrauch des Wortes. Große Konzerte waren vorläufig noch die Ausnahme. Aber er packte jede Gelegenheit zum Auftreten: Jede Abendmusik, jede musikalische Vesper konnten ihm neue Erfahrungen vermitteln. Zum Teil auch wenig erfreuliche, wie das aus einem Brief Wunderlichs an seine Gesangslehrerin hervorgeht. Er hatte an einer Konzertveranstaltung im Internat Birklehof in Hinterzarten im Schwarzwald mitgewirkt. Die Veranstalter sollen von einem »tiefen Erlebnis« gesprochen haben; Wunderlich dagegen war anderer Meinung und hat das in seinem Brief auch unmißverständlich präzisiert:[51]

      Nun, ich glaube, das Erlebnis wäre bestimmt ein tieferes geworden, wenn man nicht mittags nach der Probe schonenderweise 6 Mark für Fahrtunkosten in die Hand bekommen hätte, und ein Horst-Wessel-Honorar zahlte (marschiert im Geiste mit). Und dafür gehen volle 2 Tage flöten, sowie am Sonntag eine Tanzmusik, wo ich 30 Mark verdient hätte. Ich bin bestimmt nicht unverschämt, aber es hätte den Honoratioren nichts ausgemacht, mir 10-15 Mark zu geben. Aber so mit Dankeschön…

      Ein Beitrag an die Fahrtkosten und ein Honorar, das nur »im Geiste« mitmarschiert – also kein Honorar. Eines war klar: Zu Starallüren bestand vorläufig kein Anlaß. Immer noch mußte Wunderlich seinen Lebensunterhalt mit Tingeln verdienen – was ihm gesundheitlich zwar nicht bekam, in musikalischer Hinsicht aber durchaus förderlich war. Jahre später hat er in einem Interview darauf hingewiesen, »daß er seinen ›langen Atem‹ nur der intensiven Bläserei zu verdanken habe und daß das Auswendiglernen von fast zweitausend Schlagern sein Gedächtnis dafür trainierte, sich später rund fünfunddreißig Opernpartien von Händel bis Egk und Orff anzueignen«.[52] Dennoch, die paar Konzerte, die er damals geben konnte, müssen Lichtblicke gewesen sein für ihn. Auch wenn sie finanziell nicht ergiebig waren. Am 28. Juni 1953 ist in seinem Terminkalender beispielsweise eine »Geistliche Abendmusik« vermerkt, veranstaltet von der Johann-Walter-Kantorei in der Freiburger Lutherkirche. Auf dem Programm stand – neben Orgelchorälen und Chorwerken – »Lobe den Herren, meine Seele« aus den Psalmen Davids von Heinrich Schütz: für vier Solostimmen und zwei vierstimmige Chöre. Auffallend die Solobesetzung: Katharina von Mikulicz, Andrea von Ramm, Fritz Wunderlich und Hans-Martin Hackbarth – alles Gesangsschüler an der Freiburger Musikhochschule. Man befand sich also in bestbekannter Gesellschaft.

      Zum Teil führten ihn Engagements auch in seine Pfälzer Heimat – nach Rodalben etwa, wo Fritz am 19. April 1953 in einem Gemeinschaftskonzert des dort ansässigen Männergesangvereins und des Gesangvereins »Fröhlichkeit« als Solist mitwirkte. Schubert-Lieder trug er vor, insgesamt 15, verteilt auf fünf Gruppen, alles andere als leichte Kost. »Das Konzert war trotz der sich in dieser Woche in unserer Gemeinde überstürzenden Veranstaltungen außerordentlich gut besucht«, las man tags darauf im Lokalblatt. Und: »Der Tenor Fritz Wunderlich… bereicherte das Programm durch den Vortrag bekannter und beliebter Schubert-Lieder. Der Interpretierung Schuberts kam die geschmeidige Stimme des Solisten sehr zustatten.« Im Herbst, am 24. Oktober, sang er in Kusel, in einem Konzert des Gesangvereins »Erheiterung« und unter Mitwirkung eines Streichquartetts des Kuseler Musikvereins. In erster Linie konzertierte Fritz Wunderlich allerdings in Freiburg. Mehrmals war er Solist in den Konzerten der Freiburger Singgemeinschaft, die Ernst Scherer leitete. »Das Lied der Völker« hieß ihr Programm. Zur Gitarren- oder Klavierbegleitung wurden Volkslieder aus Deutschland, Frankreich, Italien, England, Skandinavien, Rußland und Amerika gesungen, und Wunderlich steuerte »zur Auflockerung des Programms«, wie in der Ankündigung zu lesen war, einige Solovorträge bei.

      Im November, am Totensonntag, sang Wunderlich dann in erlauchtester Gesellschaft – in einem Konzert des renommierten Freiburger Bachchors und inmitten einer Auslese namhafter Gesangssolisten: Agnes Giebel, Marga


<p>49</p>

Esslinger Allgemeine Zeitung, 29. Dezember 1952.

<p>50</p>

Fritz Wunderlich im Gespräch mit Wolf-Eberhard von Lewinski.

<p>51</p>

Der Brief, undatiert, stammt von Anfang Juni 1952.

<p>52</p>

Badische Zeitung, 24. November 1953.