Anfänglich kam sich Fritz Wunderlich recht verloren vor inmitten dieser illustren Gesellschaft von Studenten aus allen Himmelsrichtungen. »Ich hatte die Welt praktisch nur bis Kaiserslautern gesehen und kannte bis dahin keinen Menschen außer meinem engsten Freundeskreis«, erzählte er Jahre später. »Freiburg – für mich war das damals eine vollkommen neue Welt …«[30] Der Sprung von Kusel nach Freiburg machte ihm zu schaffen, löste in ihm eine Art Kulturschock aus. Weite Teile der Stadt waren im November 1944 zerstört worden; rundherum lagen immer noch Trümmer. Oft sehnte sich Wunderlich nach der ländlichen Geborgenheit seiner pfälzischen Heimat. Zum ersten Mal war er weg von zu Hause, herausgerissen aus der Umgebung seiner Kindheit. Neues stürmte auf ihn zu, drängte sich an den Platz der alten Lebensgewohnheiten. Verunsicherung machte sich breit. Zuweilen stieg er die unzähligen Treppen des Freiburger Münsterturms empor, um allein, in schwindelnder Höhe, einen Blick in Richtung Heimat zu werfen. Heimweh spürte er, und oft litt er an seiner Liebe zu dieser Heimat und zu den Erinnerungen, die ihn mit ihr verbanden. Aus einer solchen Stimmung heraus schrieb er, noch in den ersten Freiburger Monaten, hoch oben auf dem Münsterturm ein paar Verse auf, die Jahre später – und von ihm selbst vertont – ihre Reise rund um die Welt antreten sollten:[31]
Mein Kusel in der Pfalz
Wir saßen einst im Freundeskreis
im schönen Schwarzwaldort.
Der Abendwind sang draußen leis,
und keiner sprach ein Wort.
Der eine war vom Nordseestrand,
der andre kam aus Wien.
Der dritte kam vom Schwabenland,
der andre aus Berlin.
Das Heimweh war bei uns zu Gast,
schlich sacht sich ins Gemüt,
der Wind hat’s Heimweh angefaßt,
trägt heimwärts auch mein Lied:
Ein Städtchen ist’s im Pfälzerland,
ein Tal, so wunderschön –
Dort ist’s, wo meine Wiege stand,
wo meine Träume gehn.
Die alte Burg schaut stolz ins Tal,
erzählt von alter Zeit,
sie sah mich schon so manches Mal
als Kind voll Fröhlichkeit.
Der Mühlberg sah unser frohes Spiel,
der Bach war unser Meer,
der Wald war unser liebstes Ziel,
ihn liebte ich so sehr.
Zieh in die Welt ich einmal fort,
dann bitt’ ich Gott: »Erhalt’s,
mein Städtchen, meinen Heimatort,
mein Kusel in der Pfalz!«
Es war in einer musikwissenschaftlichen Vorlesung bei Reinhold Hammerstein. Fritz Wunderlich war hier ein seltener Gast, die graue Theorie schien ihn nicht sonderlich zu interessieren. Viel lieber wollte er musizieren als über die Ursprünge und die Entwicklung der Musik in Geschichte und Gegenwart nachdenken. Dem gegenübersitzenden Studenten schien solche Reflexion an jenem Tag auch Mühe zu machen. Jedenfalls flüsterte er Fritz etwas von seiner mißlichen Wohnlage zu, worauf dieser impulsiv entgegnete: »Herr Kollege, suchen Sie ein Zimmer mit Klavier?« Selbst unter Studenten verkehrte man damals per Sie. »Fritz flüsterte, daß man in sein Zimmer noch ein zweites Bett reinstellen könne«, erzählte Hans-Martin Hackbarth, Schulmusiker und Gesangsstudent wie Wunderlich. »Und so wohnten wir, etwa ab Dezember 1950, zusammen, im Zimmer in der Rempartstraße, jeder für fünfzehn D-Mark im Monat.«
Man lebte zu zweit zwar recht eng aufeinander, konnte sich aber doch ausweichen. Oder einander aushelfen. »Fritz war ein herrlicher Langschläfer. Ich konnte am Morgen jeweils Klavier üben, und er schlief fröhlich weiter. Beim Morgenkaffee sagte Fritz oft: ›Du, Hackbraten, geh doch mal für mich zum Finke. Ich will heute nicht in den Klavierunterricht!‹«[32] Hackbraten war Hackbarths Spitzname – und damit hatte es eine ganz besondere Bewandtnis. Mutter Wunderlich konnte ihrem Sohn zwar nicht mit Geld helfen, aber hie und da bot sich Gelegenheit, zu günstigen Bedingungen Fleisch zu kaufen. »Mein Mann kannte damals den Metzger einer Nachbargemeinde«, erzählte Schwester Marianne, »und er bekam von diesem oft einen Tip: daß beispielsweise ein verunglücktes Tier zum Schlachten angeliefert worden sei und man also Fleisch bekommen könne.« Der Mutter waren solche unverhofften Fleischportionen ebenfalls willkommen. Stets verfertigte sie daraus einen Hackbraten, den sie umgehend ihrem Sohn zukommen ließ, damit dieser wieder einmal etwas Richtiges zum Essen habe. Lange Zeit über dankte Fritz auch regelmäßig für diesen Zustupf. »Doch eines Tages schrieb er der Mutter, sie solle doch bitte mal was anderes schicken als immer nur Hackbraten. Sein Zimmergenosse könne nämlich Hackbraten kaum mehr sehen, geschweige denn essen.«[33]
Morgens konnte es also vorkommen, daß Hackbarth für Wunderlich in den Klavierunterricht ging. Auch abends wußten sich die beiden zu arrangieren. »Wir hatten nur einen einzigen Hausschlüssel. Wenn nun einer abends länger weg war, so mußte der andere den Schlüssel aufs Fensterbrett legen, und zwar an einer langen Schnur festgemacht. Der Spätheimkehrer warf dann ein Steinchen gegen das Fenster, um den schon Schlafenden zu wecken. Dieser ließ den Schlüssel an der Schnur hinunter, und so konnte die Haustür aufgeschlossen werden.« Manchmal waren sie sich allerdings nicht einig, wer zu Hause bleiben sollte oder umgekehrt: wer ausgehen durfte. »Einmal wollte Fritz durchaus Skat spielen. Ich aber sagte: ›Nein, ich geh’ zu meiner Freundin‹, und kam erst spät in der Nacht nach Hause. Fritz lag schon im Bett, ich suchte meinen Schlafanzug, doch ich suchte lange vergeblich – Fritz hatte ihn unter den Klavierdeckel geschoben. Nun wollte ich reinschlüpfen, kam aber nicht rein: Die Ärmel waren zugenäht und auch die Beine. Der entsprechende Kraftausdruck meinerseits ließ selbstverständlich nicht auf sich warten – und Fritz schüttelte sich vor Lachen. Dann warf ich mich aufs Bett, flog aber gleich wieder raus: Fritz hatte mir leere Bierflaschen unter die Matratze geschoben.«
Wie gesagt: Schon in den ersten Wochen sah sich Fritz nach einem Verdienst um. Für sein Studium und seinen Lebensunterhalt mußte er selber aufkommen, Unterstützung gab es keinerlei. Naheliegend war, daß er es wiederum mit Tanzmusik versuchte wie schon in Kusel; Erfahrungen hatte er ja genug gesammelt. Hackbraten wollte am Klavier mitmachen – warum es nicht einmal ausprobieren? Und zwar unten in ihrem Haus in der Rempartstraße, in der Gastwirtschaft »Breisacher Hof«. Das war zwar ein etwas verrufenes Lokal, und man hörte oft von nächtlichen Messerstechereien munkeln. Die Wirtin war einverstanden: Man könne das durchaus mal versuchen, am liebsten an Wochenenden. »Und so spielten wir sozusagen auf Abruf, oft schon am Freitag,