Zur Weihnachtsfeier 1950 brachte Fritz seiner Mutter ein besonderes Geschenk: eine selber komponierte Arie für Tenor und Klavier mit dem Titel Mutterliebe. Das Titelblatt, mit eigenhändig gezeichneten Weihnachtstannenästchen verziert, weist auch eine Widmung auf: »Meiner treusorgenden Mutter dankbar zugeeignet, Weihnachten 1950.« Ein großartiger Dank an die Mutter, weil sie ihn studieren ließ. Auch das Abschlußdatum dieser Weihnachtskomposition ist säuberlich vermerkt: »Freiburg, am 5. Dezember 1950, F. Wunderlich.« Das kleine Werk, drei Seiten Notenhandschrift umfassend, gliedert sich in ein einleitendes Rezitativ und ein anschließendes Arioso. Komponieren, Texten und Arrangieren: Darin hatte Fritz Wunderlich seit seinen frühen Auftritten mit den »Hutmacher«-Tanzmusikkumpels weitreichende Erfahrungen. Ganze Unterhaltungsprogramme hatte er damals zusammengestellt und arrangiert. Einiges ist handschriftlich von ihm überliefert: unter dem Titel Frohsinn etwa eine Folge »beliebter Walzerlieder«, wie es im Untertitel heißt, von »Kornblumenblau« über »Der alte Peter«, »Gib acht auf den Jahrgang«, »Einmal am Rhein« und »Trink, trink, Brüderlein trink« bis hin zum großen Finale »Oh du wunderschöner deutscher Rhein« reichend, mit Ritardando und im Fortissimo zu beenden. Alle diese Walzerlieder hat Wunderlich mit einfachsten Akkorden harmonisiert. Eingeleitet werden sie mit einem achttaktigen Vorspiel; zwischen den einzelnen Liedern hat er knappe Überleitungen komponiert, um – harmonisch einigermaßen anstandslos – über die Runden, und das heißt: in die neue Tonart des nächstfolgenden Liedes zu kommen. Auch hier schien er der Devise zu vertrauen, daß es im entscheidenden Moment letztlich vor allem auf den eigenen Instinkt ankomme.
Übrigens fuhr Wunderlich schon in der zweiten Dezemberwoche nach Hause. Auf Mitte des Monats war nämlich die Premiere einer neuen Operettenaufführung angesetzt, und Wunderlich hatte die Hauptrolle übernommen. Allerdings mußte er sie noch lernen, hatte demnach für andere Dinge keine Zeit und war überhaupt über die Festtage voll ausgelastet mit Musizieren und Geldverdienen. Entsprechend bedauerte er es, als der Sekretär der Freiburger Hochschule, immer bemüht, armen Studenten einen Verdienst zuzuhalten, ihm für die Festtage ein Engagement anbot. Er mußte ablehnen und schrieb ihm am 15. Dezember 1950 von Kusel:
Sehr geehrter Herr Noeß!
Vielen herzlichen Dank für Ihre Hilfe. Es wird mir, leider, nicht möglich sein, die Stelle jetzt zu besetzen, da mir vorgestern mein Akkordeonbalg gerissen ist. Das Instrument muß in die Fabrik, was einmal viel Geld und das andere Mal viel Zeit kostet, da ich es wahrscheinlich erst Mitte Januar wieder vom Werk bekomme. Die ganzen Weihnachts-, Silvester- und Faschingsbälle muß ich hier mit einem geliehenen Instrument spielen. So dringend ich einen Verdienst in Freiburg brauche, kann ich, wie Sie mir glauben werden, schweren Herzens nur ablehnen, zumal ich mich auf Alleinunterhaltung spezialisiert habe.
Morgen abend ist hier die Premiere der Operette »Glück am Rhein«, in der ich die Hauptrolle singe. Hoffentlich klappt alles. Überhaupt gibt es für mich über Weihnachten sehr viel Arbeit. Von Ferien also keine Spur. Ich bin froh, daß ich acht Tage früher weggefahren bin, ich wäre mit meiner Partie nicht mehr zurechtgekommen. Nun wird es doch gehen.
Also nochmals recht vielen Dank für Ihre Hilfsbereitschaft, vielleicht haben Sie später Gelegenheit, mich irgendwo unterzubringen. Es ist nun einmal so: Wenn der Bettelmann nichts haben soll, verliert er das Brot aus dem Sack! Ich kann ja nichts dafür, daß ich nicht als Sohn eines Bankiers geboren bin. Aber ich werde meinen Platz im Leben einmal behaupten, darauf können Sie sich verlassen!
Nun wünsche ich Ihnen recht frohe Weihnachten und ein frohes, gesegnetes Neujahr!
Nochmals alles Gute und Schöne!
Gleich in den ersten Wochen nach Neujahr gab es wiederum Probleme an der Hochschule. Nach bestandener Aufnahmeprüfung hatte er dem Direktorium erklärt, daß es ihm aus finanziellen Gründen nicht möglich sei, ein zweites Hauptfach zu belegen. Der Verwaltungsinspektor hatte ihm daraufhin versprochen, daß er für das Waldhornstudium eine Freistelle bekomme. Nun brachte ihm der Postbeamte eine Kostennachforderung über 100 Mark: die Gebühren für die Hornfachklasse. »Sie werden verstehen«, schrieb Wunderlich am 29. Januar 1951 an das Sekretariat der Hochschule, »daß diese Forderung das Ende meines Studiums bedeuten würde, und ich bitte sie darum, mir die Gebühr zu erlassen.« Aus den Akten der Hochschule geht hervor, daß Wunderlich zur Bezahlung der Gebühr einen Barscheck in Höhe von hundert Mark erhielt, ausgerichtet von der Studentenhilfe.
Noch andere Schwierigkeiten gab es im ersten Semester, Schwierigkeiten, mit denen keiner gerechnet hatte. In seiner Jugendzeit hatte sich Wunderlich in einem Boxkampf einst ein gebrochenes Nasenbein eingehandelt. Für gewöhnlich kam ihm das nicht in die Quere. Jetzt aber, beim Singen, gab es zusehends Schwierigkeiten, weil er nur durch die eine Nasenöffnung Luft bekam. Eine Operation war unumgänglich. Sie wurde in der Universitätsklinik in Ludwigshafen durchgeführt – ein kleiner Eingriff, der ihm dennoch fast zum Verhängnis geworden wäre. Nach der Operation lag Wunderlich mit einem Sterbenden im selben Zimmer. Eben erst hatte man ihm die Wattebäusche, die zur Stillung des Blutes gebraucht wurden, entfernt. Alles schien in bester Ordnung. In der folgenden Nacht bekam sein Bettnachbar plötzlich Anfälle. Die Nachtschwester kam, um ihm Linderung zu verschaffen, und sah dabei, daß Wunderlich blutüberströmt im Bett lag, bewußtlos. Die Wunden hatten nochmals zu bluten begonnen.
Im zweiten und dritten Semester, Sommer 1951 und Winter 1951/52, wählte Wunderlich als Hauptfach Waldhorn und stufte den Gesang zum zweiten Hauptfach zurück. Daß er im Gesang dennoch mächtig Fortschritte machte, bemerkte sogar sein Hornlehrer Lothar Leonards. »Eines Tages nahmen wir die Hornsonate von Hindemith durch, und Wunderlich verbog da einige Töne. Da sagte ich zu ihm: ›Ja, wenn Sie das nicht singen können, dann können Sie das auch nicht blasen.‹ Gemeint hatte ich folgendes: Wenn er sich den Ton nicht richtig vorstellt, dann wird er ihn auf dem Horn auch nicht erreichen. Prompt erwiderte Wunderlich: ›Ja, singen kann ich das schon.‹ Und ich wiederum sagte: ›Das möchte ich dann wohl einmal hören.‹ Und da fing er an zu singen: Arien aus dem Freischütz und aus Aida …«[42] In der Tat machte Fritz hörbar Fortschritte. Nach wie vor hatte er jede Woche zwei Gesangsstunden. Nicht nur Atem- und Bewußtseinsübungen standen auf dem Lehrprogramm. Jetzt wurde auch an der sängerischen Haltung gefeilt. Fritz lernte, daß die korrekte Haltung nicht zuletzt eine Sache der Augen ist: Wenn er den Blick beim Singen ununterbrochen nach oben richtete – wohl in der Meinung, daß die hohen Töne solcherart leichter zu erreichen seien –, so spürte er unweigerlich einen Zug hinten im Hals, eine Verkrampfung also. Richtete er den Blick dagegen nach unten, schaute er »zu tief« in die Noten, so spürte er sofort, daß dadurch ein Druck auf die Luftröhre entstand. Entspannen, immer wieder Entspannen hieß die Devise Margarethe von Winterfeldts. »Oft hat sie sich hinter den Schüler gestellt und die Schulter-, Hals- und Rumpfpartien sorgfältig abgeklopft: ›Wo sind da noch Verspannungen?‹ Wobei sie solche prüfenden Handgriffe im Normalfall kaum nötig hatte, denn sie hörte das alles; sie hatte ein unglaublich differenziertes Gehör. Für gewöhnlich konnte sie ruhig an ihrem Flügel sitzen, aufmerksam zuhören bei den Gesangsübungen und dann plötzlich sagen: ›Komm, mach mal dein Kinn locker!‹ Das hörte sie alles.«[43] So paradox es klingt: Auch wenn sie nicht sehen konnte, sah sie doch alles. Keinem ware es in den Sinn gekommen, in ihrer Gegenwart Faxen zu schneiden oder sich über sie lustig zu machen. Unweigerlich hatte man das Gefühl, daß sie das sofort gespürt hätte.
Längst