Tags darauf fuhr Wunderlich mit Katharina von Mikulicz nach Kusel. Der Musikverein rüstete zu einem Festkonzert anläßlich seines 65jährigen Bestehens und hatte seinen berühmten Musensohn als Solisten eingeladen. Auf dem Programm standen zwei Arien und ein Duett aus Mozarts Oper Die Entführung aus dem Serail; nach der Konzertpause spielte der Musikverein mit immerhin einem halben hundert Orchestermitgliedern Schuberts Unvollendete. Anschließend wurde das stolze Jubiläum mit einem festlichen Ball gefeiert. Knapp zwei Monate später, am 16. Januar 1955, absolvierte Wunderlich sein erstes Auslandsgastspiel. Weit über die Grenze Deutschlands hinaus ging die Reise allerdings nicht, sondern nur auf die andere Seite des Rheins hinüber, nach Colmar, 50 Kilometer von Freiburg entfernt. Für ein »Grand Concert« wurde er erwartet; auf dem Programm stand der erste Teil des Oratoriums Der Messias von Georg Friedrich Händel. Der Dirigent Rolf Ummenhofer war zuvor wiederholt nach Freiburg gekommen, um mit Fritz zu proben: »Wunderlich war durch Aufführungen an der Musikhochschule bekannt geworden, als Sänger mit einer besonders schönen Stimme. Um zu proben, suchte ich ihn gelegentlich in seinem Zimmer in der Tellstraße auf. Er pflegte lange zu schlafen, war aber nie unfreundlich oder gar mürrisch, wenn ich ihn weckte. Es war erstaunlich, wie schnell er lernte oder Anregungen aufnahm. Mir war bald einmal klar, daß ich es mit einem außergewöhnlichen Sänger zu tun hatte: probebereit, mit einer herrlichen Stimme und schneller Auffassungsgabe.«[72]
Am 27. März sang Wunderlich erneut Bachs Matthäus-Passion – wiederum in der Lutherkirche zu Worms, mit dem Bachverein Heidelberg unter der Leitung von Hermann Meinrad Poppen. »Den Part des Evangelisten sowie die anfallenden Tenor-Rezitative und Arien gestaltete Fritz Wunderlich«, las man später in der Allgemeinen Zeitung. »Diese Partien stellen an den Solisten ja ganz besonders hohe Anforderungen … Fritz Wunderlich, begabt mit einem lyrisch temperierten Stimmorgan, löste diese Aufgabe in imponierender Weise. Besonders auffallend war die Vielseitigkeit seiner Ausdrucksgebung.«[73] Ein schönes Lob. Ob Wunderlich damals schon ahnte, wie stark er einst mit diesem Werk verwachsen würde? Zwei Wochen später, am Karfreitag, sang er in Schweinfurt Bachs Johannes-Passion, auch hier die Partie des Evangelisten sowie die Tenorarien. Wiederum erntete er ungeschmälertes Lob: »Von den Solisten verdient Fritz Wunderlich, der den technisch recht heiklen Evangelistenpart und die Tenorarien gestaltete, die höchste Anerkennung. Er führte seinen sehr durchgebildeten, beweglichen und wohlklingenden Tenor mit müheloser, heller Höhe und mit eindrucksvoller Leichtigkeit.«[74] Am 11. Juni gab es für Wunderlich gar eine Premiere: In der Freiburger Stadthalle sang er unter der Leitung von Rolf Ummenhofer zum ersten Mal die Partie des Lukas in Joseph Haydns Oratorium Die Jahreszeiten.
Höhepunkt und zugleich auch Abschluß dieser Saison: die Oper Orfeo von Claudio Monteverdi. Die traditionellen »Sommerlichen Musiktage« des Zonengrenzstädtchens Hitzacker an der Elbe feierten ihr zehnjähriges Bestehen mit einem denkwürdigen Ereignis und Wagnis zugleich. Monteverdis musikhistorisch einst revolutionäre »Favola in musica« sollte, beinahe 350 Jahre nach ihrer Uraufführung in Mantua, wieder möglichst originalgetreu dargeboten werden. August Wenzinger hatte die Partitur Monteverdis nach den Quellen erstmals in einer kritischen Edition für den Bärenreiter-Verlag bearbeitet. Das Originalinstrumentarium mit Blockflöten, Zinken und verschiedenen Posaunen, mit Streichern von den Violini piccoli bis zur Kontrabaßgambe, mit Harfe, Chitarronen und Theorben konnte zum Teil unter Mithilfe des Funkhauses Köln beschafft werden, mußte aber auch speziell für diese Produktion nachgebaut werden. Zwei Aufführungen fanden im Rahmen der to. Sommerlichen Musiktage Hitzacker statt, am 23. und 24. Juli. Unter den Sängern:
Orfeo
Helmut Krebs
Euridice
Elisabeth Schmidt
Musica / Proserpina
Margot Guilleaume
Speranza / Messagera
Ulrike Taube
Pluto
Horst Günter
Caron
Peter Roth-Ehrang
Apollo / Pastore / Spirito
Fritz Wunderlich
Pastore / Spirito
Peter Offermanns
August Wenzinger dirigierte die Aufführungen. Im Orchester saßen einige Freiburger Hochschulprofessoren: Gustav Scheck (Blockflöte), Ulrich Grehling (Violine) und Fritz Neumeyer (Cembalo) – schönster Beweis, daß Fritz Wunderlich kein Student mehr, sondern ein professioneller Sänger und gleichwertiger Kollege geworden war. Im Beethovensaal in Hannover wurde die Oper anschließend von der »Archiv-Produktion« der Deutschen Grammophon Gesellschaft aufgenommen: die erste Einspielung einer Oper Monteverdis mit Originalinstrumenten und in authentischer Aufführungspraxis. Und Wunderlichs erste Schallplattenaufnahme. Sie beeindruckt auch heute noch, nach 35 Jahren.
Höhepunkt und zugleich auch Abschluß dieser Saison, wie gesagt. Und mehr noch: nämlich der Abschluß von Wunderlichs Studienzeit. »Fritz Wunderlich, der an der Musikhochschule in der Meisterklasse von Frau Professor Margarethe von Winterfeldt studiert, wurde von der Leitung der Württembergischen Staatstheater Stuttgart für drei Jahre als lyrischer Tenor verpflichtet«, hatte die Badische Zeitung schon am 4. April 1955 gemeldet. Und dabei leicht untertrieben: Einen Fünfjahresvertrag hatte man Wunderlich angeboten. Wie war es dazu gekommen? »Eines Tages berichtete man mir von einem jungen Mann aus der Pfalz«, erzählte Ferdinand Leitner, damals Generalmusikdirektor an der Württembergischen Staatsoper. »Ein junger Mann, der übers Wochenende Tanzmusik macht, Jazz singt und Trompete bläst. Das scheine eine besonders schöne Stimme zu sein, wurde mir versichert. Also sagte ich zu unserem Regisseur: ›Hören Sie sich den doch mal an.‹ Und er kam zurück und sagte mir: ›Wunderschön.‹«[75] Noch ein anderer hatte Wunderlich gehört: der Theateragent Felix Ballhausen. Und zwar an der Freiburger Oper, als Fritz in einer Bettelstudent-Aufführung eingesprungen war. Ballhausen empfahl ihn darauf nach Stuttgart. »So kam Wunderlich – ich sehe ihn noch genau vor mir – zum Vorsingen. Ganz langsam kam er auf die große Stuttgarter Bühne. Wahrscheinlich hatte er noch nie eine so große Bühne gesehen. Und dann sang er. Für alle, die anwesend waren, war eines sofort klar: Das war eine ganz außergewöhnliche Stimme, wenn auch noch mit sehr vielen Einschränkungen. Zum Beispiel kiekste er: Jedesmal, wenn es höher als f ging, dann kiekste er. Und er kiekste so oft, bis er zu weinen anfing, bekam dann einen Schrecken und wollte abgehen. Ich hatte mich längst mit dem Intendanten abgesprochen und sagte zu Wunderlich: ›Kommen Sie doch in mein Büro.‹ Dort begann ich: ›Also, Herr Wunderlich…‹ Aber er fiel mir sofort ins Wort und sagte: ›Das eben war gar nichts!‹ Ich aber mahnte ihn zur Ruhe: ›Jetzt passen Sie mal auf! Sie mögen schon recht haben. Dennoch: Ich gebe Ihnen einen Fünfjahresvertrag.‹ Und da sagte er völlig entgeistert: ›So was können nur Wahnsinnige tun.‹ ›Na ja‹, gab ich zur Antwort, ›lassen Sie uns wahnsinnig sein. Sie kriegen vorerst auch nur einen kleinen Vertrag, und Sie müssen genau tun, was wir Ihnen sagen.‹«[76]
Wenige Wochen zuvor hatte Wunderlich auch von der Freiburger Oper ein Angebot bekommen. »Eigentlich war Fritz Feuer und Flamme gewesen für dieses Angebot aus Freiburg«, erinnerte sich Studienkollege Manfred Schuler; »und in gewisser Weise hatte er auch eine provisorische Zusage gegeben. Doch dann kam Stuttgart, und ich weiß noch genau, wie mir Fritz gesagt hat: ›Nun habe ich plötzlich zwei Angebote. In Freiburg könnte ich sofort die großen Rollen singen, in Stuttgart dagegen kriege ich nur einen kleinen Vertrag. Dennoch gehe ich lieber nach Stuttgart; in Freiburg würde ich zu schnell ausbrennen. Da müßte ich jeden Abend auf der Bühne stehen, und das ist nichts für einen Anfänger.‹«[77]
Stuttgart also. Schon auf den 1. August wurde er erwartet. Das hieß: Abschied nehmen von Freiburg. Von den