Auch zusammen gesungen haben die beiden. »Und wenn Fritz einen ganz tollen drauf hatte, imitierte er den Jazztrompeter Louis Armstrong, ›Blueberry Hill‹ zum Beispiel, und zwar mit seiner Trompete. Auch gesungen hat er dann wie Armstrong. Eine umwerfend komische Parodie.«[34] Einige Monate später vergrößerte sich das Duo zum Trio. Ein weiterer Schulmusikstudent, der im selben Haus ein Dachzimmer bewohnte, übernahm nun das Schlagzeug, Fritz spielte weiterhin Akkordeon und Trompete, und Hackbarth begleitete am Klavier. Nach ungefähr einem Jahr trennten sich dann ihre Wege als Unterhaltungsmusiker. Fritz fand Anschluß an eine andere Band, an »Die flotten Fünf«. Oft musizierte er übers Wochenende auch außerhalb von Freiburg, in den umliegenden Landgaststätten und Bierlokalen. Oder er spielte bei Abendveranstaltungen auf. Das muß recht professionell geklungen haben, denn bald kriegten sie fünf D-Mark Honorar pro Stunde.
Während der ersten drei Semester setzte Wunderlich vor allem auf das Hornstudium, denn sollte es mit dem Gesang nicht klappen, so wollte er zumindest ein guter Hornist werden. »Schon das erste Begegnen mit ihm war sehr erfreulich«, erzählte Fachklassenlehrer Lothar Leonards. »Er war hochmusikalisch und hatte schon ein wenig Horn geblasen … Die erste Begegnung mit ihm ist für mich unvergeßlich: Sein Horn sah so ›marmoriert‹ aus. Ich fragte ihn, was mit seinem Horn denn wäre, und da sagte er, da wäre eben ein Lastwagen drüber gefahren, und er habe das Horn anschließend wieder ausbeulen lassen…«[35]
Interessanter und spannender war zweifellos der Gesangsunterricht. Zweimal die Woche stieg Wunderlich im Wenzingerhaus die Treppe hoch ins erste Stockwerk hinauf, wo Margarethe von Winterfeldt in einem Eckzimmer, das zum Münsterplatz hinausging, ihren Unterricht erteilte. Sie stammte aus Potsdam, war von Kindheit an blind, aber von einer unwahrscheinlichen Auffassungsgabe. Sie hatte Klavier und Gesang studiert und wirkte anschließend als Konzertsängerin. Früh schon widmete sie sich der pädagogischen Tätigkeit, anfänglich in Berlin und später, nach Kriegsende, in Freiburg, wo sie eine Meisterklasse für Gesang übernahm. »Sie war ein Mensch, der mit allen Sinnen einen anderen Menschen erfaßt«, erzählte später Dorothea Goesch. Sie hatte Margarethe von Winterfeldt kurz vor Kriegsende kennengelernt und war ihr dann, als persönliche Begleiterin und Betreuerin, nach Freiburg gefolgt, wo sie als Dozentin eine eigene Gesangsklasse unterrichtete. »Wir haben zusammen gewohnt, hatten ja auch denselben Beruf und dieselben Sorgen. Zudem habe ich sie auch zu ihren Konzertauftritten hinbegleitet; allein konnte die blinde Dame ja nicht reisen. Dennoch: Wenn man auch nur fünf Minuten mit ihr an einem Tisch saß, vergaß man völlig, daß sie blind war. Auffälligerweise hatte sie in ihrem Vokabular auch den Ausdruck: ›Das habe ich gesehen…‹«[36]
Schon in den ersten zwei, drei Semestern fiel auf, daß Fritz Wunderlichs Gesang ausgesprochen natürlich klang, daß da nichts Gekünsteltes war und nichts angelernt wirkte. Genau darauf hatte es Margarethe von Winterfeldt in ihrem Gesangsunterricht auch abgesehen: »Das ist ja das Ziel, das wir alle gerne erreichen wollen … Aber das heißt nicht, daß den jungen Sängern, auch wenn sie sehr begabt sind, alles sozusagen in den Schoß fällt. Sondern sie müssen arbeiten, und zwar streng arbeiten. Und das konnte Wunderlich, denn er war Arbeit gewöhnt von zu Hause her.«[37] Begabt war Wunderlich zweifellos, das war schon bei seinem Vorsingen aufgefallen. Später bestätigten das auch seine Kommilitonen: Fritz hätte ebensogut bei einem Schuster singen lernen können oder bei einem Schreiner, hieß es manchmal.[38] Dennoch war Margarethe von Winterfeldt außerordentlich wichtig für ihn. Sie gab ihm Rückenstärkung, und dies nicht nur in sängerischer und musikalisch-künstlerischer Hinsicht. Sondern sie ersetzte ihm in gewissen Bereichen auch seine Mutter, brachte ihm einigermaßen weltmännische Manieren bei und half ihm so, jenen Kulturschock zu überwinden, den die Übersiedlung von Kusel nach Freiburg ausgelöst hatte.
Zwei Dinge aber waren, rückblickend beurteilt, in Wunderlichs Gesangsausbildung von zentraler Bedeutung. Zum einen, daß Margarethe von Winterfeldt den jungen Sänger stets auf seinen ureigenen Instinkt verwies, ihm also Selbstbewußtsein einflößte und ihn auf seine Gefühle vertrauen lehrte. Und zum andern, daß sie ihn stets anhielt, sich alle Vorgänge beim Singen bewußt zu machen. Gesang sollte ja etwas Natürliches sein. Also mußte er auch auf natürlichen Voraussetzungen basieren. Und Wunderlich sollte sich nun im Verlaufe des Unterrichts all dieser natürlichen Vorgänge bewußt werden und sie über das Bewußtsein auch kontrollieren lernen. Wenn er jeweils ins Unterrichtszimmer trat, saß die Lehrerin schon am Flügel. Gesprächsweise versuchte sie, zu Beginn jeder Gesangsstunde die momentane Alltagsverfassung ihres Studenten zu erspüren, auch seine Sorgen und Nöte. Wenn sie merkte, daß er keinen guten Tag hatte und innere Spannungen da waren, stellte sie sich darauf ein. Nie hätte sie sich in einem solchen Moment auf ein bestimmtes Unterrichtspensum versteift.
Ihr Unterricht war im wesentlichen ein technischer Unterricht: Intonations- und Resonanzübungen, Intervalle singen und immer wieder Atemübungen. Grundlage sollte die normale Atmung sein; also kein Stützatem oder Preßatem. Und beim Tiefatmen nicht die Schultern hochziehen. Denn das bewirkt augenblicklich eine Verspannung der Schultermuskulatur. Anschließend das Ausatmen: Langsam mußte Fritz, die Lippen zugespitzt, die Luft herausblasen und spüren lernen, wie sich, sobald man die Lippen stärker schürzt, in der Bauchgegend ein Gegenreflex einstellt. Eine Art von Gegendruck, der dem Sänger das Gefühl einer inneren Luftsäule vermittelt, die von der unteren Bauchgegend bis zu den geschürzten Lippen hinauf reicht. Wie wichtig es für einen Sänger ist, sich dieser Vorgänge bewußt zu werden, hat Fritz Wunderlich später wiederholt betont: »Eigentlich ist es so: Einen langen Atem hat man genau so, wie man eine Stimme hat. Aber man kann einen langen Atem dadurch verlängern, daß man weiß, wie man es gesangstechnisch anstellt, keine Luft zu verschenken zwischen den Tönen. Es wird da viel zu wenig darauf geachtet von seiten der Gesangslehrer. Langer Atem heißt zunächst einmal: Wie wird der Körper mit dem Stickstoff fertig, der sich dadurch ansammelt, daß man die Luft anhält? Man singt ja mit verbrauchter Luft und nicht mit frischer, und der Körper will eben nach einer gewissen Zeit Sauerstoff haben. Und langen Atem kann man trainieren, indem man Atemübungen macht. Wie ein Taucher.«[39]
Atmen und Singen, Atemführung und Stimmführung gehörten für Margarethe von Winterfeldt aufs engste zusammen. Entsprechend hielt sie ihre Gesangsschüler an, über das Ausatmen nach den Resonanzen zu suchen. Zum Beispiel durch ein langgezogenes W-w-w. Oder durch die Vokale U und Ü, die beide hervorragende Resonanzsucher sind. Gesucht und ausprobiert wurden diese Resonanzen zur Hauptsache beim Singen von Intervallen auf einzelnen Vokalen. Es kam darauf an, die Resonanzfarben in allen Tonhöhen möglichst gleichzuhalten. »Bewußt sprach die Winterfeldt dabei nie von Registern«, betonte Dorothea Goesch, »daß die Bruststimme von da bis da reiche, die Mittellage von da bis da und so weiter. Denn sie war der Ansicht, daß einer, der das mal so richtig eingetrichtert bekommen hat, innerlich sozusagen unüberwindliche Grenzen aufbaut: Zäune, die völlig künstlich sind. Und beim Singen steht dann ein einziger Gedanke unentwegt im Vordergrund: Wie komme ich jetzt über diesen Zaun?«[40]
Im ersten Studienjahr muß es gewesen sein, als der Postbote eines Tages bei Mutter Wunderlich in Kusel Sturm läutete. Ein Telegramm, aus Freiburg:
Habe Radio gewonnen – stop – bin überglücklich – stop – dein Bub.
»Fritz hatte in einem Kaufhaus ein Überhemd im Sonderangebot gekauft«, erzählte seine Schwester Marianne. »Der Zufall wollte es, daß er der 500ste oder 1000ste Kunde war, der ein solches Überhemd kaufte, und auf diesen wartete als Geschenk ein kleines Radio, ein Volksempfänger, auf dem man mehrere Sender empfangen konnte. Und impulsiv, wie er war, hat er sofort ein Telegramm aufgegeben.«
Während der Semesterferien ging Fritz stets nach Hause. »Kaum eine halbe Stunde später standen jeweils schon seine Kumpels vor der Haustür. Fritz suchte schleunigst seine