Am 21. Juli 1954, abends um acht Uhr fand die erste Aufführung statt. Lampenfieber, ein Nervenkrieg, Ängste unter den Sängern, wohin man nur schaute. Fritz hat seiner »lieben, guten Mutter« in einem ausführlichen Brief davon berichtet:[67]
Vor der Aufführung befand ich mich in einem Zustande völligen Betäubtseins. Als dann die Ouvertüre vorbei war und ich auf die Bühne sprang, um das Stück zu eröffnen, da wußte ich, daß diese Aufführung über mein ganzes Leben entscheiden würde . . . Als ich dann gleich am Anfang die Bildnis-Arie sang, hatte ich plötzlich alle Energie wieder; ich sah die 2000 Zuschauer nicht mehr, ich wußte nur noch, wenn Du Dich jetzt nicht fangen kannst, dann ist alles aus. Und als ich den letzten Ton gesungen hatte, dachte ich: Gott im Himmel, laß sie klatschen! Und als dann brausend der Applaus an mein Ohr drang, begeisterter Beifall von 2000 Hörern, da brach ich fast zusammen vor Freude. Ich wußte, ich hatte gesiegt. Und im Folgenden sang ich, getragen von dem Gefühl dieses Kontakts zum Publikum, wie noch nie in meinem Leben…
Als ich nach Schluß der Aufführung allein auf die Bühne kam, wurde der Applaus zum Orkan, mir wurden Blumen auf die Bühne geworfen, ich stand wie belämmert und wußte nicht, wie mir geschah. Ich konnte es nicht fassen, daß ich beim Freiburger Theater-Publikum so schnell anerkannt würde. Ich habe mit diesem Erfolg endgültig das Tor zu meinem über alles geliebten Beruf aufgestoßen! Alle Entbehrungen und alle Sorgen finden jetzt ihren Lohn. Immer wieder mußte ich auf die Bühne . . . Ich bin in tiefster Seele glücklich und auch ein bißchen stolz.
Und auch ein bißchen stolz . . . Fritz hatte dazu reichlich Anlaß, was ihm tags darauf von der Kritik bestätigt wurde: »Nun, da die erste Aufführung vorüber ist, muß man sagen: Es ist geglückt, sogar über alle Erwartungen hinaus geglückt… In erster Linie ist hier der Tamino Fritz Wunderlich zu nennen, ein Tenor von einer seltenen Weichheit und einem bestrickenden Timbre, geführt mit Geschmack und sicherer Musikalität, eine Stimme, die ohne Zweifel Zukunft besitzt.«[68]
Nach all dem ausgestandenen Lampenfieber und den Nervenkriegen rund um die Zauberflöte beschloß Wunderlich mit einigen Kollegen, seiner Gesangslehrerin zum Geburtstag nun noch eine »eigene« Version der Zauberflöte zu schenken. Und zwar eine Jux-Zauberflöte. In Zusammenarbeit mit Hertel und Hackbarth wurde Emanuel Schikaneders Operntext durch einen neuen ersetzt, der so ziemlich alles Ernsthaft-Erhabene durch den sprichwörtlichen Kakao zog. Noch in derselben Nacht wurde dieses neue Zauberflöten-Produkt aufgenommen, und zwar mit Wunderlichs brandneuem Grundig-Tonbandgerät. Dabei konnten sie auf frühere Erfahrungen zurückgreifen: Vor einiger Zeit hatten sie schon ein Hörspiel, »Mörder an Bord«, improvisiert – mit Morsezeichen, Schiffshupen, Wellenrauschen und verfremdeten Akkordeonklängen. Sogar im Hausflur hatten sie damals Aufnahmen gemacht, wegen des gespenstischen Halls. Diesmal ging es nicht weniger professionell zu. Hackbarth spielte die Juxoper am Klavier, Hertel und Wunderlich sangen die diversen Solopartien. Und während der Wasserprobe Taminos und Paminas ließ Wunderlich Wasser in die Badewanne plätschern, um diese Probe möglichst naturgetreu hinzukriegen Eine halbe Nacht arbeiteten sie wie besessen an dieser Zauberflöte und spielten das Band dann ihrer Gesangslehrerin zum Geburtstag vor. Es soll eine Mordsgaudi gewesen sein.
Wenige Wochen später wurde Wunderlich erneut eine große Zukunft prophezeit – diesmal in Triberg, wo die Freiburger Musikhochschule mit einer Zauberflöten-Aufführung gastierte. »Von den Sängern darf wohl dem Tamino des Fritz Wunderlich mit Recht der erste Platz eingeräumt werden. Hier ist an allerbestem Material schon sehr viel gebildet worden. Sein strahlend schöner Tenor von fast italienischer Klangfärbung sitzt fest in allen Tönen, kommt in allen Lagen klar zum Klingen und beherrscht das Belcanto in einer Weise, die eine erfreuliche Zukunft verspricht.« Besonders erfreulich sah diese Zukunft vorerst aber nicht aus. Im Gegenteil: In gewisser Hinsicht war Fritz sogar enttäuscht. Seine Pamina, Katharina von Mikulicz, war aufgrund ihres Erfolgs in der Freiburger Zauberflöten-Aufführung als erste lyrische Sopranistin an die Freiburger Städtischen Bühnen engagiert worden. Und zwar schon für die kommende Saison. Mit Wunderlich schien die Intendanz zwar auch einiges vorzuhaben, doch zu einer verbindlichen Anfrage kam es vorerst nicht. Obwohl sich vor längerer Zeit schon sein Hornlehrer Lothar Leonards diesbezüglich für ihn eingesetzt hatte: »Ich habe gesehen, daß es ihm damals wirtschaftlich nicht gut ging, und so bin ich zum Generalmusikdirektor gegangen und habe gesagt: ›Ich hab’ da einen jungen Mann; ich glaube, der kann singen. Hören Sie sich den einmal an.‹ Wunderlich ging dann zum Theater und sang dort vor. Man hielt zwar sehr viel von seinem Gesang, hatte aber kein Geld, um ihn zu engagieren . . . Es dauerte eine Weile, da war eine Erkrankung im Personal, und er wurde eingesetzt in einer Operette: in Millöckers Bettelstudent.«[69] Ein Engagement aber stand nach wie vor nicht zur Diskussion.
Auch sonst stand es mit Wunderlichs Aussichten nicht gerade gut. Erst kürzlich hatte es Ärger gegeben, weil er wiederholt mit Willi Stech im Freiburger Landesstudio Schnulzenaufnahmen gemacht hatte. Einige Hochschulprofessoren waren offensichtlich der Ansicht, daß solche Aktivitäten seiner Stimme nicht bekommen würden und, was weit schlimmer wog, seinem Ruf als »ernsthafter Künstler« – und auch dem hervorragenden Renommee der Freiburger Musikhochschule – schaden könnten. Man denke sich: ein Gesangsstudent, und erst noch der begabteste, erfolgreichste unter allen, der, statt seine Berufung zum seriösen Künstler wirklich ernst zu nehmen, in die Unterhaltungsbranche abdriftet und Schnulzen singt. »Das hat Ärger gegeben damals. Und zwar nicht nur für Fritz. Einer von seinen Studienkollegen, der als Geiger ab und zu ebenfalls Aufnahmen machte bei Stech, wurde gar von der Hochschule gewiesen. Auch Fritz war von dieser Sache betroffen. Zumal sich auch Theodor Egel einmischte und ihn vor ein Ultimatum stellte: ›Entweder du singst draußen beim Stech – oder bei mir.‹«[70] Das ließ sich nicht auf die leichte Schulter nehmen. Egel war ein einflußreicher Musiker, er beherrschte die Freiburger Musikszene und pflegte weitreichende Kontakte bis hin zu den renommierten Bachwochen in Ansbach. Mit ihm zu musizieren war wichtig: für junge Sänger ein eigentliches Sprungbrett.
Nun, Fritz sang weiterhin für Willi Stech: Am 14. September nahm er »Nacht überm See« von Hans Anders auf. Und er sang weiterhin unter Theodor Egel: ein Konzert mit Bach-Kantaten »am Vorabend des 27. November«, wie es speziell auf dem Programmblatt vermerkt steht. Zehn Jahre war es her, seit Freiburg – am 27. November 1944 – durch Luftangriffe der Alliierten weitgehend zerstört worden war. Ein Gedenkkonzert also, für das Freiburger Publikum von ganz besonderer Bedeutung. Drei der schönsten Bach-Kantaten hatte Egel aufs Programm gesetzt: »Komm, du süße Todesstunde«, anschließend die berühmte »Kreuzstabkantate« und, zum feierlichen Abschluß, »Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit«. Neben Wunderlich sangen Marga Höffgen sowie der Bassist Franz Kelch, als Instrumentalsolisten im Orchester hörte man den Oboisten Lothar Koch, den Gambenspezialisten August Wenzinger sowie Fritz Neumeyer am Cembalo. Wunderlich scheint sich ernsthaft, ganz ohne vordergründige Stimmprotzerei, in den Dienst dieser musikalischen Feierstunde gestellt zu haben – was ihm von der Badischen Zeitung prompt einen Vorwurf einbrachte: »Der Tenor hätte getrost viel mehr von seinem erst kürzlich wieder bewiesenen italienischen Opernschmalz in die Kirche hinüberretten dürfen.«[71]
Opernschmalz in der Kirche? Belcantodemonstrationen bei geistlicher Musik? Ein Dilemma, aus dem der Konzertsänger Wunderlich fortan kaum mehr herausfinden sollte. Hielt er als Oratoriensänger nämlich mit dem Opernschmalz, mit der spezifischen Sinnlichkeit seiner Stimme bewußt zurück, so konnte er sicher sein, daß es tags darauf zumindest in einer Kritik hieß, er habe sich ungebührlich zurückgehalten, er habe sich geschont, habe fahl und ohne Stimmglanz gesungen, kurz: er hätte mehr geben dürfen. Und gab er dann wirklich mehr, sang er in den Passionen und Messen mit vollendetem belcantistischem Schmelz, so hagelte es unweigerlich entsprechende Verdikte: Es gehe ihm das Stilgefühl für geistliche Musik ab, er habe nur vokale Selbstinszenierung betrieben, statt der Musik zu dienen, er habe sich ungebührlich in den Vordergrund gesungen,