Wie auch immer, plötzlich erinnerte sich Wunderlich, daß jeden Morgen um diese Zeit in der gegenüberliegenden Molkerei ein Lastwagen die Milch nach Kaiserslautern fuhr. Nichts wie los – und er erwischte den Wagen, der eben aus dem Gelände der Molkerei herauskurvte, gerade noch. Allerdings reichte es für den vorgesehenen Anschlußzug in Kaiserslautern nicht mehr, so daß er zu spät in Freiburg eintraf. Zu spät, aber gerade noch rechtzeitig, um als letzter der aufgebotenen Gesangsschüler vorzusingen. Dieses Vorsingen fand im Hauptgebäude der Staatlichen Hochschule am Münsterplatz statt, und zwar im Erdgeschoß im sogenannten ovalen Saal. Alle Hochschulprofessoren saßen versammelt da. Wunderlich sang zwei jener Schubert-Lieder, die er mit Käthe Bittel-Valckenberg einstudiert hatte – darunter den »Wegweiser« aus dem Liederzyklus Die Winterreise. »Und zwar mit einer schönen, aber noch ungepflegten Stimme«, erzählte Jahre später Margarethe von Winterfeldt, die damals die Meisterklasse für Gesang leitete und mit den Professorenkollegen im Auditorium saß. »Mit viel Gefühl sang er und aus warmem Herzen, aber etwas überschwenglich. Und als er fertig war, sagte er: ›War wohl schmalzig, was? Na, genau das will ich hier ja auch lernen: Wie man das anders macht.‹«[25] Mehr als die Hälfte der Sänger fiel bei dieser Aufnahmeprüfung durch; Wunderlich bestand und wurde für das kommende Wintersemester als Gesangsschüler angenommen. Als Leiterin der Meisterklasse hatte Margarethe von Winterfeldt die erste Wahl unter den neueintretenden Studenten. Daß sie Fritz Wunderlich sogleich in ihre Meisterklasse aufnahm, überraschte damals keinen: »Allen war eindeutig klar, daß er außergewöhnlich begabt war, trotz dialektaler Ungeschliffenheiten in seiner Aussprache, trotz seines etwas gar kitschigen, sentimentalen Singens.«[26]
Nun hatte Fritz Wunderlich freie Bahn. Ende Oktober begann das Semester, also mußte er sich sogleich nach einer Bleibe in Freiburg umschauen. Er fand ein Zimmer im Herzen der Altstadt, in der Rempartstraße 3. Ein Zimmer gar mit Klavier, so daß er problemlos üben konnte. Auch einen Lebenslauf mußte er zuhanden der Hochschule verfassen:
Freiburg, 2. Oktober 1950
Am 26. September 1930 wurde ich in Kusel als Sohn des Kapellmeisters Paul Wunderlich und seiner Ehefrau Musiklehrerin Anna Wunderlich geboren. Als ich fünf Jahre alt war, verlor ich meinen Vater. Nachdem ich vier Klassen Volksschule hinter mir hatte, trat ich in die Oberschule Kusel ein, wo ich sieben Klassen absolvierte, dann aber infolge finanzieller Schwierigkeiten das Studium abbrechen mußte. Früh schon mußte ich anfangen, die von meinen Eltern übernommene musikalische Begabung zum Broterwerb zu benutzen, indem ich auf Tanzmusiken spielte; meine jetzt 62jährige Mutter und ich waren auf diesen Verdienst angewiesen. Herr Prof. Dr. Joseph Müller-Blattau in Kusel erkannte als erster meine stimmliche Begabung und schickte mich nach Kaiserslautern zu Frau K.B. Valckenberg, wo ich meine erste Ijährige Ausbildung erfuhr.
Auf Tanzmusiken habe ich Akkordeon und Waldhorn gespielt. Auch im Orchesterspiel habe ich mir eine gewisse Routine angeeignet. Im Orchester der Stadt Kusel habe ich nur Waldhorn geblasen.
Zu Hause in Kusel wurde er mit großem Hallo empfangen. Es war beschlossene Sache, ihm eine würdige Abschiedsfeier zu bereiten. Gefestet wurde bei der Mutter zu Hause, zusammen mit den Kameraden aus dem Städtchen und den Kumpels von der Tanzkapelle. »Wenn Fritz mit seiner Tanzkapelle jeweils in den umliegenden Dörfern aufspielte, aß er stets unheimlich gerne Waffelbruch«, erzählte seine Schwester, »Abfälle von gefüllten Zuckerwaffeln, die an den Kirmessen in bunten Tüten verkauft wurden. Für das Abschiedsfest erstanden seine Musikerkumpels bei einem Großhändler einen ganzen Karton mit hundert solcher Waffeltüten und schenkten sie Fritz zum Abschied. Aus lauter Freude improvisierte dieser mit seinen Kollegen sogleich eine ›Waffelbruch-Oper‹. Jeder hatte ja sein Instrument bei sich, passende Texte wurden aus dem Stegreif ersonnen, und Fritz dirigierte das Ganze vom Klavier aus.«[27]
DRITTES KAPITEL
»Es ist merkwürdig, wenn man beim Eintritt in das alte, schöne Wenzingerhaus am Domplatz in Freiburg aus allen Ecken Musik von Strawinsky, Hindemith, Bartók und anderen neuen Komponisten hört. Und es scheint fast paradox, daß man in diesem alten Bau die modernste Musikhochschule Deutschlands finden soll. Hier gibt es keine modernen und zweckmäßigen Unterrichtsräume, keine Teppiche, keine gepolsterten und schallsicheren Doppeltüren und keine repräsentativen Professorenheiligtümer. Manche Räume sind nur mit einem Flügel, einer schlichten Holzbank und allenfalls noch mit einem Notenpult möbliert. Das ›Büro‹ des Direktors ist eine winzige Klause mit einem alten Schreibtisch und einem Sessel.« Zu lesen war das in der Illustrierten Funkwelt. Sie informierte ihre Leserschaft über eine bevorstehende Sendung des SWF mit dem Titel »Kunst, die nicht verdirbt«, und der Untertitel machte klar, worum es gehen werde: »Deutschlands modernste Musikhochschule in Freiburg«.
Staatliche Hochschule für Musik hieß sie offiziell, gleich neben dem Münster im Wenzinger-Palais untergebracht, einem der wenigen Häuser, die während des Krieges nicht beschädigt wurden. Daß die Illustrierte Funkwelt für dieses moderne Institut im alten, stilvollen Rokokogebäude voller Bewunderung war, hatte seine guten Gründe: »Bekannte Künstler … bilden den Lehrkörper der Schule. Es sind alles Persönlichkeiten, die neben ihren großen fachlichen Qualitäten es vor allem verstehen, menschlichen Kontakt mit den Schülern zu bekommen. Die Zahl der Schüler darf 240 nicht überschreiten … Die Auswahl der Studenten, die aufgenommen werden, geschieht nach außergewöhnlich strengen Maßstäben. Man vermeidet dadurch in diesem Beruf, zu dem sich immer noch viele junge Menschen drängen und der so wenigen materielle Existenz im späteren Leben bietet, den Zulauf von nur durchschnittlichen Begabungen..«[28]
Diesen gestrengen Maßstäben hatte Fritz Wunderlich standzuhalten vermocht. Nun schrieb er sich zum Studium ein: Im Hauptfach belegte er Gesang in der Meisterklasse Margarethe von Winterfeldts. Weiter schrieb er sich für das zweite Hauptfach bei Lothar Leonards ein, dem ersten Hornisten im Städtischen Orchester in Freiburg und Leiter einer Fachklasse für Horn. Als Nebenfach belegte er Klavier bei Friedrich Finke. Das Nebenfach war, laut der auf Fritz Wunderlich ausgestellten Karteikarte der Freiburger Musikhochschule, gebührenfrei. Der Hornfachklassenunterricht kostete dagegen 100 Mark pro Semester, und für die Gesangsmeisterklasse mußte er gar 280 Mark hinblättern. Die Mutter hatte ihm zum Abschied eine ganze Monatsrente mitgegeben, 89 Mark. Nicht einmal für den Start in Freiburg würde dieses Geld ausreichen, bei weitem nicht. Also mußte sich Wunderlich schleunigst nach Verdienstquellen umsehen.
Die Freiburger Musikhochschule wurde im ersten Nachkriegsjahr, am 26. Februar 1946, gegründet. Initiator war Gustav Scheck, damals einer der führenden Flötisten. Bis 1945 hatte er als Dozent für Flöte an der Berliner Musikhochschule unterrichtet. Dann setzte er sich nach Überlingen an den Bodensee ab, um dort das Ende des Krieges abzuwarten – und zu überleben. Nach wiederholten Verhandlungen wurde Scheck im Februar 1946 mit der Gründung einer Musikhochschule in Freiburg beauftragt, und zwar in Zusammenarbeit mit Wilibald Gurlitt, damals Ordinarius für Musikwissenschaft an der Freiburger Universität. Der Oberbürgermeister hatte ihnen freie Wahl unter den wenigen geeigneten, heil gebliebenen Gebäuden der fürchterlich zerstörten Stadt angeboten, und so wählten sie das Palais »Zum Schönen