Selbst abends saß man oft noch in der Hochschule zusammen, hatte sich eine Flasche Milch mitgebracht oder trank ein Bier. Das Mittagessen nahmen die Hochschulstudenten für gewöhnlich in der benachbarten Universität ein, in der Mensa im Untergeschoß. Ein Essen für 80 Pfennig, mehr schlecht als recht. Zum Teil wurde da auch heftig diskutiert, über die Wiedereinführung der Armee in der Bundesrepublik etwa oder über die Heidegger-Vorlesungen. Martin Heidegger, der nach dem Krieg heftig umstrittene deutsche Philosoph, gab nämlich wieder Vorlesungen an der Freiburger Universität. Und auch der evangelische Theologe Martin Niemöller, der wegen seiner Opposition gegen die Kirchenpolitik des Dritten Reiches zu acht Jahren Konzentrationslager verurteilt gewesen war. Ihre Vorlesungen waren besondere Ereignisse; da pilgerten selbst Studenten der Musikhochschule hinüber in die Universität, um irgendwo, wenn auch nur am Boden des Auditoriums, noch einen Platz zu ergattern. Fritz Wunderlich konnte man dafür nicht begeistern; vielleicht hat ihn das tatsächlich nicht interessiert. Sicher fehlte es auch an der nötigen Zeit. Immer noch mußte er sich den Lebensunterhalt und das Studiengeld mit Musizieren verdienen, und er spielte und sang abends oft bis nach Mitternacht in rauchigen Lokalen. Jeder Verdienst war willkommen, ja mehr noch: war lebensnotwendig. Doch forderte das zusehends seinen Tribut: Wunderlich kam wiederholt übermüdet und ziemlich lädiert in die Gesangsstunde. Daß auf dieser Basis das Studium kaum mehr optimal weitergeführt werden konnte, war ihm klar. Ein Brief aus jener Zeit hat sich erhalten, ein Gesuch um Studiengelderlaß, gerichtet an die Hochschule für Musik, datiert vom 25. Oktober 1951:
Ich studiere jetzt im 3. Semester Waldhorn und Gesang. Meine wirtschaftlichen Verhältnisse sind an der Hochschule hinreichend bekannt, sodaß ich darauf nicht besonders einzugehen brauche.
Durch Krankheit und einen Autounfall war ich den ganzen September nicht in der Lage, Tanzmusik zu machen und mir dadurch etwas Geld zu verdienen. Ich besitze gerade soviel, daß ich bis zu den Weihnachtsferien bescheiden existieren kann.
Aus diesen Gründen bitte ich um größtmöglichen Gebührennachlaß. Es ist mir unmöglich, weiterzustudieren, wenn ich Studiengebühren zahlen muß. Durch das ewige Tanzmusik machen – ich bin schon lange Jahre darauf angewiesen – ist meine Gesundheit nicht mehr die beste. So bin ich zur Zeit in Behandlung wegen eines Herzschadens, entstanden durch Überanstrengung und unregelmäßigen Lebenswandel.
Für alle die genannten Umstände kann ich jederzeit behördliche Belege beibringen. Indem ich nochmals um größtmögliche Rücksichtnahme auf meine wirklich schwierige Lage bitte, grüße ich
Das Gesuch hatte einigen Erfolg. Gustav Scheck, Direktor der Hochschule, ließ Wunderlich wiederholt eine finanzielle Unterstützung zukommen. Andererseits wurde ihm das Studiengeld nicht vollumfänglich erlassen. Auf seiner Karteikarte der Musikhochschule sind weiterhin die Semestergebühren eingetragen: zwischen 140 und 280 Mark pro Semester und Fach. Selbst die entsprechenden Rechnungsnummern sind notiert, die Zahlungen also erfolgt und registriert worden. Weiter geht aus dieser Karteikarte hervor, daß Wunderlich Ende des Wintersemesters 1952/53 seinen Hornunterricht abschloß und sich fortan ausschließlich für die Gesangsmeisterklasse Margarethe von Winterfeldts einschrieb.
Auch andere Krisen mußte Wunderlich durchstehen lernen, anderen Verunsicherungen standhalten. Selbst gegen Zweifel an der Effizienz seiner eigenen Gesangsausbildung war er nicht restlos gefeit, obwohl er seine Gesangslehrerin außerordentlich schätzte und sie in Briefen stets als »liebe, verehrte Meisterin« oder als »hochverehrte Meisterin« anredete. »Ich erinnere mich noch gut, wie Fritz eines Tages zu mir kam«, erzählte Dorothea Goesch. »›Du, Goeschlein‹, fragte er, ›kann ich dich einmal alleine sprechen? Ich habe da ein Problem – der Harlan läuft mir nämlich hinterher; er will mich unbedingt als Schüler haben.‹« Fritz Harlan, erster Bariton an den Städtischen Bühnen in Freiburg, war an der Hochschule der vielbewunderte Opernmann; die Winterfeldt dagegen nur Konzert- und Oratoriensängerin. Zwar vermittelte sie ihren Schülern eine ungeheure Menge an Musikliteratur: Lieder, Oratorienpartien, überhaupt geistliche Musik, dazu das ganze Spektrum der Alten Musik. Dieses vielfältige Nebeneinander zwang den Schüler, stilistisch genau unterscheiden zu lernen, wie man zu welcher Art von Musik den richtigen Zugang gewinnt. Das rein Stimmbildnerische hingegen, das Trainieren der Stimme auf Größe und Belastbarkeit hin, stand bei Margarethe von Winterfeldt nicht im Vordergrund. Sie war da wesentlich zurückhaltender als ihr Kollege Fritz Harlan. »Fritz war in einen echten Zwiespalt geraten; durchaus verständlich also, daß er mich um Rat anging: ›Goeschlein, du mußt mir helfen! Was soll ich nur machen?‹ Nun, das war keine leichte Sache für mich, zumal ich beide, die Winterfeldt und den Harlan, sehr verehrte. Dennoch riet ich ihm nach einiger Überlegung, er solle bei Margarethe von Winterfeldt bleiben; was er hier lernen könne, werde er sonst nirgends finden. Und das andere, die Bühnenausstrahlung und das Opernsingen, das werde er schnell noch haben, sowie er einmal auf der Bühne stehe.«[45]
Fritz Wunderlich blieb bei der Winterfeldt, befaßte sich dort weiterhin mit Liedern und Alter Musik, sang vor allem aus den berühmten Arie antiche, einer Sammlung mit italienischen Barockarien von Carissimi, Cesti, Bononcini, Händel, Lully und unzähligen anderen Komponisten. Und abends sang und spielte er auf irgendeiner Tanzveranstaltung die neuesten Schlager. Größer hätte der Kontrast kaum sein können. Und daß sich das nicht nachteilig auf ihn ausgewirkt hat, sondern im Gegenteil eine positive, wegweisende Erfahrung war, bestätigte Wunderlich später selbst: »In Freiburg kam ich gleich mit Alter Musik in Berührung. Scheck nahm mich in den bekannten, seit 1930 bestehenden ›Kammermusikkreis Scheck-Wenzinger‹ auf, der als erstes Barockensemble mit alten Instrumenten musizierte. Um mir mein Studium zu verdienen, machte ich nebenbei Tanzmusik. Ich habe Jazz gemacht, habe Trompete geblasen, habe Akkordeon gespielt und Jazz gesungen nachts, und am nächsten Morgen bin ich zum Studium gegangen und habe alte Arien gesungen. In erster Linie Monteverdi, Lully, eben die alten Meister. Das war, glaube ich, für meine spätere Entwicklung eine sehr wichtige Zeit, weil ich etwas gelernt habe, was für einen Sänger, überhaupt für jeden Musiker, ungeheuer wichtig ist: das Stilgefühl. Wenn man Stilgefühl hat und weiß, wie man die Dinge auseinanderhalten muß, dann kann einem praktisch nichts mehr passieren. Man kann dann jede Art von Musik machen, ohne sich dabei irgend etwas zu vergeben.«[46]
Diese Instinktsicherheit war es auch, die Wunderlichs Studienkollegen am meisten verblüffte. »Also Instinkt hat der Mann gehabt«, erinnerte sich Manfred Schuler, »unvergleichlich! Was andere in Jahren erst kapieren, das hat er auf einmal hingekriegt. Nicht nur stimmlich, sondern instinktmäßig. Zudem war Fritz ungeheuer zielstrebig. Es schien uns, daß er vom ersten Augenblick an genau gewußt hat, wohin die Reise gehen soll. Er war ganz einfach überzeugt davon. Und er hat auch hart an sich gearbeitet. Ich kann mich erinnern, daß er gesagt hat: ›Also diese zwei Töne müssen noch anders werden.‹ Das merkte er genau, und was das Singen anbelangt, war er hochintellektuell. Mit einem unwahrscheinlichen Gespür.«[47]
Auch sein Wohnkollege Hans-Martin Hackbarth bestätigte das: »Fritz war unglaublich stilsicher. Aus dem Moment heraus konnte er Haydn, Bach oder Schubert singen und stilsicher gestalten. Das hatte bei ihm sicher nichts mit Intelligenz zu tun; er war ganz einfach ein subtil empfindendes Naturtalent. Er machte sich keine großen Gedanken, sondern wußte aus dem Augenblick heraus: So und so muß es sein und nicht anders. Und wie gesagt: Instinktiv, das war er. Aus dem Stand heraus brachte