Auffällt bei diesen Aufnahmen der perfekte Sitz von Wunderlichs Stimme, die in diesen frühen Jahren noch auffallend hell timbriert, aber in allen Lagen ebenmäßig durchgebildet ist. Und jedes Wort, das er singt, ist verständlich: Die typische Wunderlich-Diktion ist hier schon perfekt ausgebildet. Sein Stilgefühl zeigt sich vor allem im Maßhalten – keine Übertreibungen, keine Seichtheiten und kein Schmalz, dafür aber Charme. In rein vokaler Hinsicht hält sich Wunderlich auffallend zurück. Streckenweise tönt das fast wie ein frequenzbeschnittener Richard Tauber. Was aber ausnahmslos zu fesseln vermag: Wunderlich gestaltet jede Phrase souverän, er kennt seine Stimme und deren vorläufige Grenzen offenbar sehr genau. Er kommt ohne Druck auf die Stimme aus und ohne einen einzigen Drücker; kein angestrengter, kein verquälter Ton. Wie hat es Katharina von Mikulicz formuliert? »Wenn wir andern uns total verausgabt hatten, dann merkten wir: Der Fritz hat das gleichsam nur von der Oberfläche genommen, hatte stets noch viele Reserven.« Darauf ließ sich eine Zukunft bauen.
Neue Aufgaben warteten an der Hochschule. Ein Semester lang besuchten Wunderlich und Hackbarth den Italienischunterricht, der für Gesangsstudenten als Nebenfach erteilt wurde und also an den Rand des Stundenplans gedrückt war – nämlich einmal die Woche frühmorgens von halb acht bis neun. »Da lagen wir uns jeweils gegenüber in unseren Betten«, erzählte Hackbarth, »hatten den Wecker gestellt auf halb sieben. Er schellte pflichtgetreu, und wir schauten uns verschlafen an. ›Gehen wir?‹ ›Gehen wir nicht!‹ Und jeder zog sich seine Decke wieder über den Kopf.« Manchmal konnte Fritz noch hinzufügen: »Weißt du, Hackbraten, das einzig Anständige an mir bist du!«[63]
Fragte man Fritz, ob er mitgehe, es sei da ein interessantes Konzert in Freiburg, so konnte er sagen: Nein, er gehe nur noch in seine eigenen Konzerte. Überheblichkeit oder Selbstschutz eines Vielbeschäftigten? Gleich in zwei großen Chorwerken sollte er demnächst zum ersten Mal auftreten: am Palmsonntag in der Johannes-Passion von Johann Sebastian Bach, und zwar in einer von Hermann Meinhard Poppen geleiteten Aufführung in der Lutherkirche zu Worms, und am Karfreitag in der Matthäus-Passion in der Michaeliskirche in Hof. In Worms erwartete ihn ein besonders anspruchsvolles Pensum: Er sollte nicht nur die Partie des Evangelisten singen, sondern zusätzlich auch noch die Tenorarien. Sicher eine der größten Anforderungen, die es für einen Konzertsänger überhaupt gibt, zumal das Nebeneinander von rezitativischem Erzählbericht des Evangelisten und den weitausladenden Arien ein besonders breites Ausdrucksspektrum erfordert.
Das Engagement in Hof hatte ihm übrigens Klaus Hertel vermittelt – der Tenorist im Freiburger Bachchor, der ihn im vergangenen Dezember eben erst im Weihnachts-Oratorium erlebt hatte. »In einem kurzen, zerschlissenen Mäntelchen und mit einem Pappkoffer unter dem Arm kam Wunderlich am Bahnhof Hof an. Mein Freund, der Dirigent Hans Gebhard, holte ihn persönlich ab – und war entsetzt: ›Um Gottes willen, wen hat mir Hertel da nur als Evangelisten aufgeschwatzt!‹ In seiner Verwirrung fuhr er mit Fritz gar nicht erst ins Hotel, sondern direkt in die St. Michaeliskirche. Hier mußte Fritz probeweise erst einmal einige Töne von sich geben, um den Dirigenten zu beruhigen: daß er in der Tat singen könne.« Hertel übernahm in der Aufführung ebenfalls eine kleine Solopartie. »Bei dieser Gelegenheit hörte mich Fritz zum ersten Mal – wir hatten bis dahin ja noch keinen persönlichen Kontakt gehabt –, und er sagte sofort zu mir: ›Du mußt unbedingt Stunden nehmen. Und zwar bei meiner Lehrerin.‹ So kam ich als junger Referendar an die Freiburger Musikhochschule, und zwar in die Meisterklasse von Margarethe von Winterfeldt. Da war nicht nur Fritz drin, sondern auch meine spätere Frau: Katharina von Mikulicz.« Schnell wurde Hertel in die Gemeinschaft aufgenommen, absolvierte mit Fritz und seinen Kommilitonen unzählige Skatrunden in der »Villa Heuboden«. Übrigens war Fritz ein herrlicher Gastgeber, ein leidenschaftlicher Koch. Er hatte sich aus Brettern ein kleines Regal zusammengebastelt. Zuunterst war Platz für Schuhe, in der Mitte wurden ein paar Kochtöpfe verstaut, und oben stand sein kleiner Kocher. Da konnte er einen ganzen Abend lang brutzeln und braten. War Hertel mit dabei, so fragte Fritz unweigerlich nach den neuesten Gerichtsfällen, denn Hertel mußte als Referendar oft für die Staatsanwaltschaft vor Gericht plädieren. »Und dann kam jeweils die ganze Horde in den Verhandlungssaal, angeführt von Fritz; alle haben sie meinen Plädoyers zugehört und ihre Witze gemacht. Ich mußte den Amtsrichter vorher jeweils warnen.«[64]
»Jugendfrischer Mozart« – unter diesem Titel berichtete die Freiburger Zeitung, und zwar in leidenschaftlich begeisterten Worten, über eine recht außergewöhnliche Opernaufführung. Seit Monaten nämlich war man an der Freiburger Musikhochschule mit der Einstudierung von Mozarts Zauberflöte beschäftigt. Chor und Orchester wurden ausschließlich aus Hochschulstudenten rekrutiert, und die Leiter der beiden Gesangsmeisterklassen, Margarethe von Winterfeldt und Fritz Harlan, wählten unter ihren Studierenden die begabtesten aus für die anspruchsvollen Solopartien. Reinhard Lehmann, Intendant der Freiburger Städtischen Bühnen, übernahm die szenische Betreuung und führte die Gesangsstudenten in die Geheimnisse des Rollenspiels ein. Denn Bühnenerfahrung hatte keiner der Studenten, dramatischen Unterricht oder gar eine veritable Opernschule gab es in Freiburg nicht. Lehmann mußte sich in seiner Arbeit also weitgehend auf ein szenisches Arrangement beschränken, Auftritte und Abgänge einüben, Standorte festlegen, Gesten einstudieren. Fritz sang den Tamino, Katharina von Mikulicz war seine Pamina, Wolfgang Anheisser, damals ein junger Tenor aus der Meisterklasse Fritz Harlans, sang den Ersten Geharnischten, und Hackbarth profilierte sich als Sprecher und Zweiter Geharnischter. »Was haben wir gelacht während der Proben! Wenn ich mit Fritz auftauchte, sagte Lehmann stets: ›So, jetzt kommen die beiden Spaßmacher.‹«[65] Die Proben fanden in einem Nebengebäude der Hochschule in der Schusterstraße statt, aufgeführt wurde die Zauberflöte im Paulussaal.
»Die Proben mit Fritz waren herrlich«, bestätigte Katharina von Mikulicz. »Überhaupt war er in diesen Wochen sehr feinfühlend, merkte sofort, wenn ich irgendwelche Probleme hatte. Einmal lud er mich sogar zu sich nach Hause ein; er spürte, daß ich mit Schwierigkeiten zu kämpfen hatte, und wollte mich trösten. Er kochte für mich und steckte mich vorsorglich sogar in sein Bett.« In der Zauberflöte kommt bekanntlich ja alles zu einem guten Ende; Tamino gewinnt seine Pamina, nachdem die beiden zuvor etliche Prüfungen bestehen mußten. »Nun, wir beide hatten damals auch so einen Abend, wo wir uns über einiges in dieser Richtung aussprachen. Wir waren uns