Auch am 6. Januar 1945 waren die beiden Jungen morgens beim Stollenbauen. Am Mittag mußte Fritz allerdings zurück ins Städtchen; er sollte sich mit der Mutter treffen, und beide waren sie nach der Mittagspause bei Marianne verabredet. Anschließend wollte Fritz wieder hinauskommen und am Stollen weiterbauen helfen, so lautete die Abmachung. Über Mittag aber – Fritz war bereits bei seiner Schwester – explodierten etwa dreihundert Bomben, beinahe auf einen einzigen Schlag, abgeworfen von ungefähr dreißig größeren zweimotorigen Bombern. Anna Wunderlich war gerade auf dem Weg zu ihrer Tochter. Sie wurde vom Bomberangriff überrascht, flüchtete ins nächststehende Haus und wurde dort mit anderen Schutzsuchenden verschüttet. Später konnte sie wohlauf geborgen werden: Ein Türbalken über ihrem Kopf hatte standgehalten und die niederprasselnden Schutt- und Geröllmassen weggelenkt. Fritz ging, nachdem die Lage wiederum einigermaßen sicher schien, zurück zum Stollen. Seinen Kameraden fand er tot, getroffen von den Bomben des Fliegerangriffs.
Bereits am 6. Juni 1944 waren amerikanische, britische und kanadische Truppen in der Normandie gelandet. Doch die Offensive der Alliierten kam bald zu einem vorläufigen Stillstand, und so wurden im deutschen Grenzgebiet in den folgenden Monaten Volkssturmmänner und Hitlerjungen zum »Schanzen«, zum Ausheben von Schützengräben, an den Westwall beordert. In Kusel hatten sich sämtliche Jungen im Alter ab 14 Jahren beim HJ-Oberscharführer zu melden. Das ging auch Fritz an. Die Mutter packte den Rucksack, Fritz hängte sich das Akkordeon um die Schulter. Am Bahnhof sollten sich die Jungen treffen. Die Mutter begleitete Fritz, was ihm wegen der schon im Transportzug wartenden Kollegen peinlich war. Schnell verabschiedete er sich von der Mutter und sprang aufs Trittbrett – da riß sie ihn in plötzlicher Verzweiflung wieder herunter: »Du bleibst da! Die sollen mir den Sohn nicht nehmen dürfen; schließlich bin ich Witwe und auf meinen einzigen Sohn angewiesen.« Und nahm ihn wieder nach Hause. Ein Verwarnungsschreiben des HJ-Oberscharführers lag tags darauf im Briefkasten. Und ein Wiederaufgebot zum »Schanzen« folgte auch; diesmal mußte Fritz mit.[12]
Anfang März 1945 gelang es amerikanischen Truppen, im Bereich der Eifel die deutschen Linien zu durchbrechen; daß die Truppen bald auch in Kusel einmarschieren würden, war nur noch eine Frage der Zeit. Allerdings wurde man über Einzelheiten dieser Offensive nur unzureichend unterrichtet. Unsicherheit und Angst machten sich breit: Ob der Einmarsch der Amerikaner wohl Befreiung bringen würde? Oder den Anfang neuer Schrecken und Greuel bedeutete? Fritz hielt diese Spannung und Ungewißheit kaum mehr aus. Zunehmend verstärkte sich in ihm das Gefühl, daß der Tod um ihn sei. Ein früher Tod würde es sein, das schien ihm gewiß. Er verbrachte diese Tage in einem Luftschutzkeller, meistens ganz allein mit sich selbst. Was er an Eßbarem auffinden konnte, nahm er mit. Im Halbdunkel, in endlosen Stunden ungewissen Wartens, ritzte er in sämtliches Eßgeschirr, das er bei sich hatte, Blechteller und Becher, Aluminiumkesselchen und Getränkeflasche, seinen Namen ein. Wie eine verzweifelte Bestätigung seiner selbst.
ZWEITES KAPITEL
18. März 1945, Palmsonntag, ein sonniger, aber noch kalter Frühlingsmorgen. Für Fritz Wunderlich ein ganz spezieller Tag: Heute sollte er konfirmiert werden. Vorbei war es mit den Kinder- und Jugendjahren. Den Kinderschuhen war er längst entwachsen; die letzten, harten Jahre hatten ihn geformt, und nicht zuletzt hatte ihm seine Mutter eine strenge Schule des Lebens beispielhaft vorgelebt. Fast hatten sie über der Vorbereitung des Festes die bedrohliche Stimmung vergessen, die seit Wochen über allem Tun lastete. Der Mutter war es gelungen, von den Eltern eines ihrer Musikschüler einen dunklen Anzug für Fritz zu borgen, und auch Lebensmittel, Wurst, Fleisch und Kuchen, hatte sie organisiert. Ein würdiges Fest sollte die Konfirmation ihres Sohnes allemal werden.
Auf sechs Uhr in der Frühe war die Konfirmation in der evangelischen Stadtkirche angesetzt. Die täglichen Tieffliegerangriffe zwangen zu dieser frühen Morgenstunde, zudem erhärteten sich Gerüchte, wonach die amerikanischen Truppen bereits bis ins Saarland vorgedrungen seien. Schwester Marianne war vorübergehend zu ihrer Schwägerin in eine Nachbargemeinde gezogen. Um fünf Uhr in der Früh kamen auch Fritz und die Mutter nach, unter dem Arm ein Bündel mit den Köstlichkeiten fürs Festessen. Die Mutter wollte dableiben; Marianne dagegen lieh sich zwei Fahrräder und fuhr mit Fritz zurück nach Kusel zum Konfirmationsgottesdienst. Eine feierliche Stimmung wollte allerdings nicht aufkommen; es fehlte an der nötigen Konzentration; die Gedanken waren anderswo. Plötzlich hörte man draußen das Detonieren von Bomben. Kaum hatte sich der Morgennebel gelichtet, flogen amerikanische Jagdbomber ihren ersten Einsatz über Kusel. Flugzeuglärm brauste über der Stadt, und schließlich wurde durch Druckwellen detonierender Bomben die Kirchentür aufgerissen. Kurzentschlossen segnete der Dekan alle Konfirmanden, dann wurde der Gottesdienst abgebrochen, und die Menschen flüchteten in die Schutzräume. Fritz aber und seine Schwester radelten wieder in die Nachbargemeinde zurück, wo die Mutter wartete. Man beschloß, sich in den niedrigen Gängen eines nahegelegenen alten Kalkstollens zu verstecken und der Dinge zu harren, die da kommen sollten. Die Amerikaner rollten in ihren Panzern vorbei; bald wurde die Parole laut, es sei alles vorbei und keine Gefahr mehr zu befürchten. Zögernd nahm jeder seine Habseligkeiten wieder an sich, und erschöpft machte man sich auf den Weg nach Hause. An eine Familienfeier dachte keiner mehr.[13]
Schon im Juli 1945 legten die Alliierten für das besiegte Deutsche Reich vier Besatzungszonen fest. Kusel wurde – wie überhaupt der Verwaltungsbezirk Mittelrhein-Saar samt einigen rechtsrheinischen Gebieten Hessens und dem südlichen Teil des Landes Baden-Württemberg – von französischen Truppen besetzt. Die Situation von 1918 schien sich zu wiederholen: Als die Alliierten im darauffolgenden Februar das Saarland aus der Besatzungszone wieder ausgliederten, wurde das legendäre Remigiusland erneut Grenzland. Wie einst zog sich nur wenige Kilometer von Kusel entfernt die Zollgrenze hin.
In vielen Bereichen des öffentlichen Lebens gab es nach Kriegsende Schwierigkeiten. Die Schulen konnten ihren Betrieb nach einer fast einjährigen Unterbrechung nur reduziert aufnehmen. An den Unterricht in Großklassen war Fritz längst schon gewöhnt. Neu dagegen war ein Mangel an geeigneten Schulräumen und an Lehrbüchern; kaum die Hälfte der Fächer konnte planmäßig erteilt werden. Auch an Heizmaterial fehlte es, so daß die Schüler in den ersten Nachkriegswintern angehalten wurden, Heizmaterial selbst mitzubringen. War alles aufgebraucht, so mußten »Kohleferien«, eingelegt werden. Das waren Probleme, doch für Fritz waren es nicht die vordringlichsten. Ihm und seiner Mutter fehlte es an Geld und Nahrungsmitteln. Wiederum sah man Anna Wunderlich mit ihrem Handwagen unterwegs. Die entbehrungsreichen Kriegsjahre hatten ihr besonders zugesetzt: Ihre Finger wurden langsam krumm, wohl die Folge einer Rheumaerkrankung, und das Geigenspielen bereitete ihr zunehmend Schwierigkeiten. Nur noch selten trat sie auf, am liebsten in den Offizierskasinos der französischen Besatzungsmacht, weil die am besten zahlten und manchmal sogar noch zu einem bescheidenen Essen einluden. Seit einiger Zeit mußte auch Fritz mit; mit dem Akkordeon konnte er sich mühelos profilieren, und auch auf der Trompete durfte er sich hören lassen. Ab und zu sang er einen Schlager; Bedürfnis nach solcher zumeist von den amerikanischen Besatzungstruppen importierten Unterhaltungsmusik war nach der jahrelangen kulturellen Gleichschaltung im Tausendjährigen Reich reichlich vorhanden.
Daß die Schule dabei zu kurz kam – wer wollte es Fritz verargen. Auch der damalige Schulleiter, Studienrat Julius Gerlach, zeigte Verständnis: »Nach dem Krieg war er ja in einer finanziell und wirtschaftlich schwierigen Situation. Und da hat er halt als Musikant in den Kapellen mitgespielt