Fritz Wunderlich. Werner Pfister. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Werner Pfister
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783795786120
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Leben genommen. Seine letzte, seine verzweifelte Antwort auf die neuangebrochene Zeit in Deutschland.

      Eines Abends saß Fritz auf der Treppe vor dem Mietshäuschen in der Schwebelstraße. Noch war es nicht ganz dunkel, aber schon leuchtete der volle Mond am Himmel. Fritz hatte sich, wie viele der Nachbarskinder, eine Steinschleuder gebastelt, die er stets herumtrug – stets bereit, sie auf jedes erdenkliche Ziel zu richten. Einige Zeit betrachtete er staunend den Mond; plötzlich schien ihm dieses breit leuchtende Gesicht ein geeignetes Ziel für seine Schleuder zu sein. Gedacht, getan, und so spannte er die Schleuder und ließ das Steinchen in die Höhe schnellen. Im selben Moment verkroch sich der Mond hinter einer Wolke. Einen Moment lang staunte Fritz ungläubig, dann befiel ihn plötzlich ein jähes Entsetzen. »Mama, Mama!« rief er und rannte heulend ins Haus hinein, »Mama …, jetzt hab’ ich den Mond abgeschossen!«

      Im März 1936 stand der Familie Wunderlich erneut ein Umzug bevor. Noch zu Lebzeiten des Vaters hatte die Nationalsozialistische Kriegsopferversorgung das Gelände an der Gemarkung Holler zum Bau kleiner Siedlungshäuser freigegeben. Das Gelände befand sich am Rand des Städtchens, am Hang über dem Bahnhof gelegen. Man hoffte, mit diesem Projekt sowohl die Wohnungsnot zu lindern, als auch neue Arbeitsplätze zu schaffen. Kriegsversehrte hatten ein Vorzugsrecht für den Erwerb solcher Häuser, und so konnte die Familie Wunderlich unter günstigen Darlehensbedingungen eines dieser Grundstücke zu je tausend Quadratmeter erstehen und, teilweise in Gemeinschaftsarbeit mit anderen Siedlern, mit dem Hausbau beginnen. Nun lastete dieser ganz auf der Mutter. Mit ihrer schmalen Witwenbeihilfe von 89 Reichsmark mußte sie die Finanzierung des Hausbaus auf sich nehmen. In ihrer resoluten Art stellte sich Anna Wunderlich auch diesen Anforderungen; nie ließ sie ihre Kinder Unsicherheit oder Verzweiflung spüren, kaum je Trauer oder Verzagtheit. Sie unterrichtete nun anstelle ihres Gatten am Progymnasium, gab weiterhin privaten Musikunterricht und spielte nach wie vor bei festlichen Anlässen zur Unterhaltung auf.

      Oft wurde sie nun von ihrer Tochter begleitet. Marianne war in die Fußstapfen des Vaters getreten, widerwillig zwar, denn sie haßte das Auftreten und Sich-Produzieren. »Wenn man bedenkt, daß wir damals keinerlei Elektronik zur Verfügung hatten, die heute den Unterhaltungsmusikern doch so viel Kräfteverschleiß erspart«, meinte Marianne später, »so war das reinste Schwerarbeit. Wir spielten oft drei Tage hintereinander, vom Nachmittag bis um Mitternacht.«[9] Zudem waren solche Auftritte verbunden mit stundenlanger Hin- und Rückreise – oft genug zu Fuß, vielfach auch mit einem Pferdefuhrwerk. Die Mutter trug ihre Geige im Rucksack mit, Marianne spielte Klavier, hatte es bei der Mutter gelernt. Tagsüber arbeitete sie zudem auf dem Büro einer Krankenkassenfiliale, doch die trockene Arbeit brachte ihr keine Befriedigung. Schon ein Jahr später verheiratete sie sich und zog dann zu ihrem Gatten. Fritz, mittlerweile ein ABC-Schütze geworden, lebte nun mit seiner Mutter allein im Holler-Häuschen. Platz hatten sie reichlich: Im Erdgeschoß befand sich die Küche, daran angrenzend ein geräumiges Wohnzimmer sowie ein weiteres kleines Zimmer; eine Holztreppe führte in die obere Etage mit zwei Schlafzimmern. Hinzu kamen im Keller Toilette und Bad sowie ein Schweinestall. Es war nämlich Bedingung, daß sich die Mieter Kleintiere hielten, und so zog man im Schuppen Hühner auf und hielt Stallhasen. Für Fritz war das Leben zwischen Hühnern und Hasen fast ein kleines Paradies. Zumal sich gegenüber dem Häuschen freies Wiesengelände erstreckte, wo sich der Junge mit den Nachbarskindern herumtummeln und seiner ersten richtigen Leidenschaft frönen konnte: dem Fußball. Eine einzige Angst nur sollte die Mutter die kommenden Jahre über unentwegt verfolgen: daß ihr vaterloser Fritz verwahrlosen könnte.

      Das Jahr 1937 brachte erneut Aufregung in Kusel, eine zum Teil freudig begrüßte Aufregung. Im Mai zogen erstmals seit Ende des Ersten Weltkrieges wieder Soldaten im Städtchen ein; das linksrheinische Gebiet hatte seinen Status als entmilitarisierte Zone verloren, und schon im Juli 1938 wurde Kusel Garnison. Bedachte man die besondere geographische Lage des Städtchens, so nahe an der Westgrenze des Deutschen Reiches, so mußten Sinn und Zweck dieser Aktivitäten wohl auf der Hand liegen. Hellhörig war man schon seit einiger Zeit: Bereits 1934 war in Kusel ein Luftschutzbund gegründet worden, und zwei Jahre später konnte der erste Luftschutzraum geprüft und abgenommen werden – ausgerechnet in »Emrichs Braustübl« wo Fritz Wunderlich seine ersten Kinderjahre verbracht hatte. Am 18. August 1939 schließlich erklärte Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, den Landkreis Kusel zum Operationsgebiet des Heeres: »Komme da, was kommen mag.«[10]

      Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs brachte in Kusel vorerst kaum Veränderungen, da sich das Kriegsgeschehen auf die Ostfront konzentrierte. Selbst am Bau der neuen Heeresstraße, 1938 begonnen als eine nördliche Umfahrung des Städtchens, wurde weitergearbeitet. Sie sollte, allerdings erst Jahrzehnte später, in Fritz-Wunderlich-Straße umbenannt werden. Spürbar wurde zusehends ein Mangel an Arbeitskräften, da die Mehrheit der Männer in den Kriegsdienst einberufen worden war. In der Schule wurde deshalb in Großklassen unterrichtet, doch das war Alltag, war Schüleralltag für den, der nichts anderes kannte. Für Fritz war die Schule nie viel mehr als ein notwendiges Übel gewesen. Nicht, daß er ungern zur Schule ging. Und er war ein recht guter Schüler, in der Volksschule wie später, ab September 1941, in der Oberschule für Jungen. Hier wurde er in den Fächern Deutsch, Geschichte, Erdkunde, Kunsterziehung, Musik, Biologie, Mathematik, Englisch und Sport unterrichtet. In der dritten Klasse kam noch Latein hinzu, in der vierten Französisch und Physik und in der fünften Chemie. Dem Schüler Wunderlich wurde bescheinigt, daß er »brav ist und sein Fleiß und seine Leistungen im ganzen befriedigend sind«. In den Leibesübungen zeigte er besonderen Einsatzwillen. Aus dem Notenbild läßt sich insgesamt schließen, daß ihm die musischen Fächer und Sprachen mehr lagen als die mathematisch-naturwissenschaftlichen.[11]

      Zu Hause wirkte und werkelte Fritz mit der für ihn typischen, oft geradezu obsessiven Energie. Alles andere vergaß er dann, hatte Augen und Sinn nur noch für seine momentane Beschäftigung. Immer noch gab es im Wohnzimmer jene Standuhr, die er als Dreikäsehoch einst zu Fall gebracht hatte. Nun wollte er diese Standuhr zu einem Wecker umfunktionieren. Auf dem Gelände der nahegelegenen Molkerei machte er jene Aluminiumdeckelchen ausfindig, mit denen man Sahnebecher zuzuschweißen pflegte. Er schnitt sich ein Streifchen zurecht, befestigte dieses am Zifferblatt der Standuhr und verband das Ganze in aufwendiger Kleinarbeit mit einem dünnen Leitungsdraht und einer Klingel, die er in seinem Zimmer im oberen Stockwerk des Hauses befestigte. Den Aluminiumstreifen konnte man auf dem Zifferblatt ganz nach Belieben verschieben: je auf die gewünschte Uhrzeit, zu der Fritz geweckt werden wollte. Rückte der kleine Uhrzeiger dann gegen die gewählte Zeit vor, so berührte er den kleinen Aluminiumstreifen. Dadurch wurde der Stromkreis geschlossen und ein elektrischer Kontakt ausgelöst – und im Zimmer von Fritz rasselte die Klingel. Zeit zum Aufstehen. Die Mutter sah den Nutzen solcher technischer Einrichtung zwar ein, hatte aber nicht nur eitel Freude daran. Denn zeitweise sah es im Wohnzimmer wie in einer Bastelstube aus, mit überall herumliegendem Werkzeug und der Boden mit Materialresten übersät. Zudem hingen die Leitungsdrähte und Verbindungskabel, die Fritz von der Standuhr ins obere Stockwerk gespannt hatte, oft bedenklich durch und konnten für den, der nicht unentwegt auf der Hut war, zu ärgerlichen Schlingen werden. Entsprechend ereiferte sich die Mutter dann auch: »Friedrich…«, und das verhieß Unheil. Für solche Momente aber hatte Fritz längst ein eigentliches Beschwichtigungszeremoniell eingeübt: Regelmäßig fiel er dann vor der Mutter auf die Knie, erklärte ihr charmant und mit glühendsten Worten den doch augenfälligen Nutzen seiner eben installierten »Erfindungen« – und hatte damit bei der Mutter auch meistens den gewünschten Erfolg.

      Zudem hatte die Mutter andere Sorgen – und weitaus ernstere. Zusehends fehlte es am Nötigsten, an Kleidern und vor allem an Lebensmitteln. Doch auch da wußte sie sich einzurichten. Einige ihrer Musikschüler kamen aus der ländlichen Umgebung Kusels. Statt sich von diesen nun mit Geld bezahlen zu lassen, bat sie deren Eltern um Nahrungsmittel, und so zog sie oft mit einem Handwagen in die umliegenden Dörfer, um Brot oder Kartoffeln, aber auch Holz heimzukarren. Fritz mußte sie jeweils begleiten. Nichts war ihm so verhaßt, denn es kam ihm wie Bettelei vor. Und er schämte sich auch vor den Leuten. Meistens setzte er sich deshalb am Dorfeingang auf einen Stein und ließ die Mutter allein herumfuhrwerken. Unbeirrt ging diese ihren Weg. Scham oder Rücksichtnahme


<p>9</p>

Marianne Decker: Fritz Wunderlich, Mein Bruder und ich.

<p>10</p>

Ernst Schworm: Kusel, 466ff.

<p>11</p>

Überblick über die Schullaufbahn von Fritz Wunderlich, ausgestellt am 19. Februar 1990 vom Staatlichen Gymnasium Kusel.