»Hört auf« rief er befehlend und ging hinaus. Die anderen folgten ihm. Die Fabrikarbeiter, die in der Schenke sangen, hatten an diesem Morgen unter Anführung des hochgewachsenen Burschen dem Schenkwirt Leder aus der Fabrik gebracht und dafür Branntwein erhalten. Als die Schmiedeknechte aus einer benachbarten Schmiede davon hörten, vermuteten sie, die Schenke sei geplündert worden, und wollten hineindringen. Auf der Vortreppe entstand ein Streit.
Der Schenkwirt schlug sich mit einem Schmied, und in dem Augenblick, als die Fabrikarbeiter hinausgingen, riß sich der Schmied von dem Schenkwirt los und fiel mit dem Gesicht zur Erde. Ein anderer Schmied stürzte auf die Tür zu und fiel über den Schenkwirt her. Ein kleiner Mensch mit aufgeschlagenen Ärmeln schlug dem durch die Tür eindringenden Schmied ins Gesicht und rief mit wildem Geschrei: »Kameraden, zu Hilfe!«
Der erste Schmied erhob sich von der Erde mit blutendem Gesicht und schrie mit weinerlicher Stimme: »Hilfe! Mord! Man schlägt uns tot, Brüder!«
Eine Gruppe sammelte sich um den blutenden Schmied.
»Hast du noch nicht genug das Volk ausgeplündert?« schrie einer den Wirt an. »Warum schlägst du den Menschen?«
Der hochgewachsene Bursche, welcher auf der Vortreppe stand, blickte mit trüben Augen bald den Wirt, bald den Schmied an.
»Schurke!« schrie er plötzlich den Wirt an. »Bindet ihn, Kinder!«
»Wozu einen einzelnen binden?« schrie der Schenkwirt. Er riß sich los von den Leuten, die auf ihn zustürzten, riß die Mütze vom Kopf und warf sie auf die Erde. Als ob diese Bewegung eine geheimnisvolle, drohende Bedeutung hätte, traten die Leute unschlüssig zurück.
»Ich weiß, was sich gehört, ich gehe zur Polizei! Es ist niemand erlaubt, zu plündern!« schrie der Schenkwirt und hob die Mütze auf.
»Wir gehen auch! Wir gehen auch!« wiederholte der hochgewachsene Bursche und ging auf die Tür zu. Der blutende Schmied ging mit ihm, und die Fabrikarbeiter und anderes Volk folgten ihnen schreiend nach. Als das Gedränge sich immer mehr vergrößerte, schlich sich der Schenkwirt beiseite und kehrte nach Hause zurück. Der Anführer, welcher das Verschwinden seines Feindes, des Schenkwirts, nicht bemerkt hatte, sprach fortwährend.
An den Mauern des Kreml hatte sich eine andere kleine Gruppe um einen Menschen in einem Friesmantel gesammelt, der in den Händen ein Papier hielt.
»Ein Ukas! Ein Ukas wird vorgelesen!« schrie die Menge und drängte sich um den Vorleser. Er blickte erschreckt die Menge an und las auf allgemeines Verlangen mit zitternder Stimme die Ankündigung von Anfang an.
»Morgen früh gehe ich zum Durchlauchtigsten Fürsten, um mich mit ihm zu beraten und zu handeln und den Truppen zu helfen, die Bösewichte auszurotten! Wir werden ihnen den Atem ausblasen und diese Gäste zum Teufel schicken! Zum Mittag komme ich zurück und dann werden wir handeln und die Bösewichte vertreiben.«
Alles schwieg. Niemand schien die letzten Worte verstanden zu haben. Das war alles viel zu einfach. Das war so, wie jeder von ihnen hätte sprechen können. Alle standen in weinerlichem Schweigen umher. Plötzlich lenkte sich die allgemeine Aufmerksamkeit auf die Droschke des Polizeimeisters, der über den Platz fuhr, begleitet von zwei Dragonern. Der Polizeimeister hatte an diesem Morgen vom Gouverneur den Befehl erhalten, die Barken anzuzünden, und bei dieser Gelegenheit eine große Geldsumme erhalten, die er in der Tasche trug. Als er die Menschenmenge erblickte, ließ er halten.
»Was will das Volk?« schrie er die Leute an, welche sich schüchtern der Droschke näherten. »Was ist das für Volk?« fragte er sie.
»Sie wollten nur die Ankündigung hören, Graf«, sagte der Mann im Friesmantel. »Es sind keine Aufrührer!«
»Der Graf ist noch hier und wird Anordnungen in bezug auf euch treffen!« sagte der Polizeimeister. »Vorwärts!« rief er dem Kutscher zu. Die Leute blieben stehen, drängten sich um diejenigen, welche gehört hatten, was der Beamte gesprochen hatte, und blickten der Droschke nach. Der Polizeimeister aber blickte sich ängstlich um, rief dem Kutscher etwas zu, worauf die Pferde rascher davonrannten.
»Das ist Betrug, Kinder!« schrie die Stimme des hochgewachsenen Burschen. »Laßt ihn nicht fort, Kinder! Er soll Rechenschaft geben! Haltet ihn! Haltet!« schrien verschiedene Stimmen, und das Volk lief der Droschke nach. Die Menge bewegte sich lärmend nach der Lubjankastraße zu.
»Was soll das heißen? Die Herren und die Kaufleute sind davongefahren, und wir gehen hier zugrunde! Sind wir etwa Hunde?« schrien verschiedene Stimmen aus der Menge.
197
Am Abend des 1. September kehrte Graf Rostoptschin, nach seiner Begrüßung mit Kutusow, erzürnt und beleidigt darüber, daß man ihn nicht zum Kriegsrat eingeladen hatte, nach Moskau zurück. Nachdem er zu Abend gespeist hatte, legte er sich angekleidet auf einen Diwan, und um ein Uhr nachts wurde er von einem Kurier geweckt, der ihm einen Brief von Kutusow brachte. Der Brief enthielt eine Aufforderung, einige Polizisten zu senden, um die durchmarschierenden Truppen zu führen, die sich nach Räsan zurückziehen werden. Diese Nachricht war Rostoptschin nicht neu. Alle Generale, welche er auf der Durchreise gesehen hatte, hatten erklärt, es sei unmöglich, noch eine Schlacht zu schlagen. Dennoch erschütterte ihn diese Nachricht, die er plötzlich um Mitternacht in Form eines einfachen Befehls von Kutusow erhielt, aufs tiefste.
In der Folge äußerte Rostoptschin in seinen Memoiren mehrmals, er habe damals zwei wichtige Zwecke verfolgt, die Ruhe Moskaus zu sichern und die Einwohner hinauszuführen.
Wenn man diese beiden Zwecke anerkennen will, so erscheint Rostoptschin vorwurfsfrei. Warum wurden aus Moskau die Heiligtümer, Waffen, Patronen, Pulver, Getreidevorräte nicht fortgeführt? Warum wurden Tausende von Einwohnern getäuscht mit der Behauptung, Moskau werde nicht übergeben werden? – »Deshalb, um die Ruhe der Residenz zu sichern!« lautete die Erklärung, die Rostoptschin gab. Man braucht nur zuzugeben, daß die öffentliche Ruhe bedroht sei, und jede Maßregel erscheint gerechtfertigt. Aber warum fürchtete Rostoptschin für die öffentliche Ruhe im Jahre 1812? Welchen Anlaß hatte er, an eine Neigung zum Aufstand zu glauben? Die Einwohner waren geflohen, die abziehenden Truppen erfüllten Moskau. Warum sollte infolgedessen das Volk Au stände anregen? Weder in Moskau noch im übrigen Rußland ereignete sich beim Einmarsch des Feindes irgend etwas wie ein Aufstand. Am 1. und 2. September waren noch mehr als zehntausend Menschen in Moskau geblieben und es war nichts vorgekommen außer der Ansammlung einer Menschenmenge im Hof des Gouverneurs, welche er selbst veranlaßt hatte. Es wäre also jedenfalls noch weniger ein Volksaufstand zu erwarten gewesen, wenn Rostoptschin nach der Schlacht bei Borodino, wo die Räumung der Stadt schon vorauszusehen war, Anstalten getroffen hätte, um alle Heiligtümer, Kriegsvorräte und Kassen fortzuschaffen, und dem Volk offen angekündigt hätte, daß die Stadt geräumt werde.
Rostoptschin, ein hitziger, sanguinischer Mensch, hatte nicht den geringsten Begriff von dem Volk, das er zu regieren meinte, und glaubte es mit seinen Ankündigungen zu lenken. Die schöne Rolle eines Lenkers der Volksgefühle gefiel Rostoptschin so sehr, daß die Notwendigkeit, sie aufzugeben und Moskau ohne jeden heroischen Effekt zu verlassen, ihn ganz aus der Fassung brachte. Obgleich er wußte, daß Moskau aufgegeben werden mußte, so tat er doch nichts in bezug darauf. Die Einwohner zogen gegen seinen