»Mamachen, es kann nicht sein. Sehen Sie, was auf dem Hof vorgeht! Sie bleiben zurück.«
»Was ist dir? Von wem sprichst du?«
»Von den Verwundeten! Es kann nicht sein, Mamachen, es wäre unerhört! Nein, Mamachen, das darf nicht sein! Ich bitte, verzeihen Sie mir. Mamachen! Was hilft uns das, was wir fortbringen? Sehen Sie nur, was auf dem Hof vorgeht!… Mamachen … das kann nicht sein!«
Der Graf stand am Fenster und hörte zu. Die Gräfin sah ihre Tochter an und blickte sich dann ratlos um.
»Macht, was ihr wollt, ich störe ja niemand«, sagte sie. Dann ging sie auf den Grafen zu. »Mein Freund, du hast getan, was recht ist, ich verstehe das nicht«, sagte sie mit gesenkten Augen.
»Die Eier… die Eier wollen klüger sein als die Hühner«, sagte der Graf unter Tränen und umarmte gerührt seine Frau, welche beschämt ihr Gesicht an seiner Brust verbarg.
»Papachen, Mamachen, kann ich den Befehl geben?« fragte Natalie. »Wir können immer noch alles Nötige mitnehmen.«
Der Graf nickte mit dem Kopf, und Natalie eilte durch den Saal und die Treppe hinab in den Hof.
Die Leute sammelten sich um Natalie und konnten nicht sogleich an den seltsamen Befehl glauben, den sie ihnen überbrachte, bis der Graf selbst im Namen seiner Frau den Befehl bestätigte, man solle alle Fuhren den Verwundeten übergeben und die Kisten in die Speicher stellen. Als die Leute dies begriffen, machten sie sich mit freudiger Dienstwilligkeit an die Arbeit. Der Dienerschaft erschien dies keineswegs sonderbar, sondern, im Gegenteil, sie dachten, es könne nicht anders sein, ebenso wie eine Viertelstunde vorher sich niemand darüber gewundert hatte, daß die Verwundeten zurückbleiben und die Sachen mitgenommen werden sollten.
Die Verwundeten kamen aus ihren Zimmern hervor und umgaben mit freudigen, bleichen Gesichtern die Fuhren. Auch in den benachbarten Häusern verbreitete sich das Gerücht, es seien Fuhren da, und auch aus den anderen Häusern kamen Verwundete in den Rostowschen Hof. Viele derselben baten, die Sachen nicht abzunehmen, sondern sie nur darauf Platz nehmen zu lassen, aber nachdem man einmal begonnen hatte, die Sachen abzuladen, war kein Halt mehr möglich. Es war ja ganz gleichgültig, ob man alles oder nur die Hälfte zurückließ. Auf dem Hof lagen die Kisten mit Geschirr, mit Bronzen, Bildern, Spiegeln, welche in der vergangenen Nacht so sorgfältig eingepackt worden waren.
»Vier kann man noch aufnehmen«, sagte der Verwalter. »Ich gebe meine Fuhren auch ab, aber wohin mit den anderen?«
»Dann lassen Sie meine Garderobe zurück«, sagte die Gräfin. »Dunjascha kann bei mir in dem Wagen sitzen.« Die ganze Dienerschaft war in fröhlicher Aufregung, und Natalie befand sich in einer glücklichen, entzückten Stimmung, wie sie sie lange nicht mehr empfunden hatte.
»Wohin soll das kommen?« fragten die Leute, indem sie eine Kiste herabschleppten. »Man muß wenigstens eine Fuhre behalten.«
»Was ist denn darin?« fragte Natalie.
»Die Bücher des Grafen.«
»Laßt sie zurück! Wassilitsch wird sie aufbewahren.«
Der kleine Jagdwagen war ganz voll Menschen, und man wußte nicht, wo Petja Platz finden sollte.
»Auf dem Bock! Du kannst ja auf dem Bock sitzen«, rief Natalie. Sonja war unaufhörlich beschäftigt, aber in anderer Art als Natalie. Sie schrieb auf den Wunsch der Gräfin alle Sachen auf, welche zurückbleiben sollten, und bemühte sich dabei aber, so viel als möglich zum Mitnehmen zu erhaschen.
191
Um zwei Uhr standen die vier Equipagen Rostows vor der Unterfahrt, während die Bauernwagen mit den Verwundeten nacheinander zum Hof hinausfuhren. Als die Kalesche des Fürsten Andree an der Haupttreppe vorüberfuhr, erregte sie die Aufmerksamkeit Sonjas, welche mit einer Zofe bemüht war, die ungeheuer hohe Kutsche für die Aufnahme der Gräfin bereitzumachen.
»Wem gehört diese Kalesche?« fragte Sonja.
»Wissen Sie das nicht, Fräulein?« erwiderte die Zofe. »Es ist der verwundete Fürst, der bei uns übernachtete und mit uns weiterfährt.«
»Wer ist es denn? Wie heißt er?«
»Unser gewesener Bräutigam, Fürst Bolkonsky«, erwiderte die Zofe seufzend. »Man sagt, er sei dem Tode nahe!«
Sonja sprang aus dem Wagen und lief zur Gräfin. Diese war schon in Reisekleidung mit Schal und Hut. Sie ging erschöpft im Salon umher und erwartete die Dienerschaft, um vor der Abreise zu beten. Natalie war nicht im Zimmer.
»Mamachen«, sagte Sonja, »Fürst Andree ist hier! Er ist tödlich verwundet und fährt mit uns weiter.«
Die Gräfin erschrak. »Und Natalie?« fragte sie.
Sonja und die Gräfin kannten Natalie, und die Angst vor den Folgen, welche diese Nachricht bei Natalie hervorrufen würde, erstickte in ihnen das Mitgefühl für den Menschen, den sie beide liebten. »Natalie weiß es noch nicht, aber er fährt mit uns«, erwiderte Sonja.
»Du sagst, er sei schwer verwundet?«
Sonja nickte. Die Gräfin umarmte sie und weinte. »Die Wege Gottes sind wunderbar!« dachte sie.
»Nun, Mama, alles ist fertig, wo bleiben Sie?« fragte Natalie, welche mit gerötetem Gesicht auf der Schwelle stand.
»Gut, gehen wir!« sagte die Gräfin und beugte sich auf ihre Handtasche herab, um ihr ihre ängstliche Miene zu verbergen. Sonja umarmte Natalie und küßte sie. Natalie blickte sie fragend an.
»Was ist dir? Was ist geschehen?« fragte sie.
»Nichts! … Nichts! …«
»Etwas Schlimmes für mich? Was ist es?« fragte Natalie.
Sonja seufzte und gab keine Antwort. Der Graf, Petja, Madame Chausse, Mawra und Wassilitsch traten in den Saal. Die Türen wurden verschlossen, alle setzten sich und saßen schweigend einige Augenblicke da.
Der Graf erhob sich zuerst mit einem schweren Seufzer und bekreuzigte sich vor dem Heiligenbild. Alle folgten seinem Beispiel. Dann umarmte der Graf Mawra und Wassilitsch, welche in Moskau zurückblieben, und während sie seine Hand küßten, klopfte er sie auf den Rücken und sprach einige unklare, freundliche, tröstende Worte. Die Gräfin ging in die Hauskapelle, und Sonja fand sie dort auf den Knien vor den zurückgelassenen Heiligenbildern. Diejenigen, welche nach den Familienüberlieferungen die kostbarsten waren, wurden mitgenommen. An der Haupttreppe und auf dem Hof verabschiedeten sich von den Zurückbleibenden die Leute, welche Petja mit Dolchen und Säbeln bewaffnet hatte und die mit in die Stiefel gesteckten Beinkleidern und mit Riemen umgürteten Kitteln hinauszogen.
Wie immer bei einer Abreise wurde viel vergessen und vieles mußte anders gelegt werden. Ziemlich lange standen zwei Heiducken zu beiden Seiten der geöffneten Wagentüren, um der Gräfin in den Wagen zu helfen, während Mädchen mit Kissen und Bündeln aus dem Hause nach dem Wagen, der Kalesche und dem Jagdwagen zuliefen, und dann wieder ins Haus zurückeilten.
»Ewig haben sie etwas vergessen«, sagte die Gräfin. »Du weißt doch, daß ich nicht so sitzen kann!« Und Dunjascha stieg mit zusammengebissenen Zähnen in den Wagen, um den Sitz besser zu arrangieren.
»Ach, dieses Volk!« sagte der Graf, den Kopf wiegend.
Der alte Kutscher Jefim, mit dem allein die Gräfin fahren wollte, saß hoch auf seinem Bock und blickte sich nicht um nach dem, was hinten geschah. Aus dreißigjähriger Erfahrung wußte er, daß man ihm noch nicht so bald zurufen werde: »Mit Gott!« und daß er dann, wenn das auch gesagt sei, noch zweimal anhalten müsse, damit man nach vergessenen Sachen senden könne, und daß er darauf noch einmal anhalten müsse, worauf die Gräfin den Kopf zum Fenster hinausstrecken und