Mehr als zwei Stunden waren vergangen, Gerasim erlaubte sich, an der Tür ein Geräusch zu machen, aber Peter hörte ihn nicht.
»Befehlen Sie, die Droschke zu entlassen?«
»Ach ja«, sagte Peter erwachend und aufstehend. »Höre«, sagte er und ergriff Gerasim an einem Knopfloch, während er ihn mit glänzenden, feuchten, entzückten Augen ansah, »höre! Du weißt, daß morgen eine Schlacht sein wird.«
»Man spricht davon!« erwiderte Gerasim.
»Sage niemand wer ich bin, und tue, was ich dir sage.«
»Zu Befehl!« erwiderte Gerasim. »Sie wünschen zu speisen?«
»Nein, aber ich brauche etwas anderes. Ich muß einen Bauernrock und eine Pistole haben!« sagte Peter plötzlich erregt.
»Sehr wohl!« erwiderte Gerasim.
Den ganzen Rest des Tages verbrachte Peter allein in diesem Kabinett und sprach mit sich selbst, wie Gerasim hörte. Dann übernachtete er in einem für ihn aufgestellten Bett. Gerasim, als erfahrener Diener, äußerte keine Verwunderung über die Übersiedlung Peters. An demselben Abend brachte er Peter einen Kaftan und eine Mütze und versprach, am anderen Tag die Pistole zu besorgen. Makar erschien an diesem Abend zweimal an der Tür und blickte gespannt nach Peter, aber sobald dieser sich umwandte, nahm Makar seinen Schlafrock zusammen und verschwand hastig. Während Peter in dem Bauernrock mit Gerasim ausgegangen war, um eine Pistole zu kaufen, fand die Begegnung mit Rostows statt.
193
Am 1. September in der Nacht erschien der Befehl Kutusows für den Rückzug der russischen Armee durch Moskau auf der Straße nach Räsan. Die ersten Truppen marschierten schon in der Nacht langsam und in Ordnung vorüber, bei Tagesanbruch aber erblickten die Truppen, die sich der Brücke von Dorogomilowsk näherten, vor sich unendliche Truppenmassen, welche sich von der Seite her nach der Brücke drängten. Es entstand eine grundlose Panik. Alle stürzten vorwärts nach der Brücke, nach der Furt und in die Boote. Kutusow ließ sich auf Nebenwegen nach dem anderen Ufer der Moskwa führen. Um zehn Uhr am 2. September blieb nur noch die Nachhut in der Vorstadt Moskaus zurück. Die Armee war schon jenseits der Moskwa.
Um dieselbe Zeit, um zehn Uhr des Morgens am 2. September, stand Napoleon mit seinen Truppen auf einer Anhöhe vor Moskau und blickte hinab auf das Panorama vor ihm. Seit der Schlacht bei Borodino, am 28. August, herrschte ein prachtvolles Herbstwetter, wo die niedrige Sonne stärker brennt als im Frühjahr, wo alles glänzt in der scharfen, reinen Luft, wo die Brust mit Entzücken die duftige Herbstluft einatmet, wo selbst die Nächte warm sind und durch prächtiges Sternenlicht erleuchtet werden.
Auch am 2. September herrschte ein solches wundervolles Wetter. Moskau dehnte sich weit aus vom Poklonnoiberg an, mit seinem Fluß, mit seinen Gärten und Kirchen und in der glänzenden Sonne strahlenden, vergoldeten Kuppeln der Kirchtürme.
»Das ist endlich diese berühmte, asiatische Stadt, ihr heiliges Moskau! Es ist Zeit!« sagte Napoleon. Dann stieg er vom Pferde, ließ vor sich einen Plan von Moskau ausbreiten und berief den Dolmetscher Lagorin Dideville zu sich.
»Eine Stadt, die vom Feind eingenommen wird, ist wie ein Mädchen, das seine Unschuld verloren hat!« dachte er, und von diesem Standpunkt aus betrachtete er die vor ihm liegende orientalische Schönheit.
»Aber konnte es anders sein?« dachte er. »Da liegt sie, diese Residenz, zu meinen Füßen und erwartet ihr Schicksal.« Er sah diesen Krieg wie einen persönlichen Kampf zwischen sich und Alexander an. »Von der Höhe des Kreml werde ich Gesetze diktieren und jenem Volk die Bedeutung der wahren Zivilisation zeigen. Ich werde der Deputation sagen, daß ich nicht den Krieg wollte, daß ich Alexander liebe und verehre, und solche Friedensbedingungen in Moskau annehme, welche meiner und meines Volkes würdig sind. Den Bojaren werde ich sagen, daß ich nicht den Krieg will, sondern den Frieden und das Wohl aller meiner Untertanen. Ich werde mit ihnen sprechen wie immer, klar, feierlich und großmütig. Ist es aber auch wahr, daß ich in Moskau bin? Doch ja, da ist es!«
»Man führe die Bojaren herein!« sagte er zu seiner Suite.
Ein General ritt sogleich mit einer glänzenden Suite ab, um die Bojaren zu holen.
Zwei Stunden vergingen. Napoleon frühstückte und stand wieder auf derselben Stelle auf dem Poklonnoiberg und erwartete die Deputation. Er hatte schon die Anrede an die Bojaren bereit, voll Würde und Majestät. Inzwischen entstand im Hintergrunde in der Suite Napoleons ein aufgeregtes Flüstern. Der General, welcher die Bojaren holen sollte, war zurückgekehrt mit der Nachricht, Moskau sei leer, alles sei geflohen! Die Gesichter wurden bleich und aufgeregt; daß Moskau von seinen Einwohnern verlassen war, erschreckte sie nicht, aber sie waren ratlos darüber, wie sie dem Kaiser das mitteilen sollten, was seine Majestät in die schreckliche Lage brachte, die die Franzosen »le ridicule« (das Lächerliche) nennen, wie sie ihm mitteilen sollten, daß er vergeblich so lange auf die Bojaren gewartet habe, während dort nur noch eine betrunkene Volksmenge zu finden sei. Die einen meinten, man müsse doch um jeden Preis irgendeine Deputation zusammenbringen, andere widersprachen und hielten es für passender, dem Kaiser nach einer vorsichtigen Vorbereitung die Wahrheit zu sagen, aber sie konnten doch zu keinem Entschluß kommen. Inzwischen wurde der Kaiser müde der vergeblichen Erwartung und fühlte, daß der majestätische Augenblick durch die lange Erwartung seinen Glanz verliere. Er gab ein Zeichen mit der Hand, ein entfernter Kanonenschuß ertönte, und die Truppen rückten von verschiedenen Seiten auf Moskau zu. Schneller und schneller bewegten sich die Truppen vorwärts und verschwanden in dichten Staubwolken.
Napoleon ritt mit den Truppen bis zum Schlagbaum von Dorogomilowsk, dort aber hielt er wieder an, stieg vom Pferde und ging lange auf und ab in Erwartung einer Deputation.
194
Währenddessen war Moskau verödet. Es war vielleicht noch der fünfzigste Teil der früheren Einwohnerschaft anwesend, aber es war verödet, um dieselbe Zeit, als Napoleon ermüdet und unruhig mit finsterer Miene vor Moskau auf und ab ging und die nach seiner Meinung für den äußeren Anstand erforderliche Deputation erwartete. Als Napoleon mit der nötigen Vorsicht mitgeteilt wurde, daß Moskau menschenleer sei, blickte er zornig den meldenden Adjutanten an und ging schweigend wieder auf und ab. »Eine Equipage!« rief er, und er setzte sich mit einem Adjutanten in den Wagen und fuhr nach der Vorstadt.
»Moskau verödet! Welch unglaubliches Ereignis!« sagte er zu sich selbst und fuhr nicht in die Stadt ein, sondern blieb in einem Gasthof in der Dorogomilowskschen Vorstadt.
Seit zwei Uhr in der Nacht waren die russischen Truppen durch Moskau gezogen und um zwei Uhr mittags zogen sie auch die letzten Flüchtlinge und Verwundeten nach sich. Das größte Gedränge während des Abzuges hatte an der Steinernen Brücke, an der Moskwarezkibrücke und an der Jausschen Brücke stattgefunden. Während desselben hatte eine große Anzahl Soldaten den Aufenthalt und das Gedränge benutzt, um von den Brücken nach der Stadt zurückzukehren und zu plündern. Schweigend zogen sie an der Kathedrale von Wassili Blaschennoi vorüber nach dem Roten Platz, wo sie die meiste Beute zu finden hofften. Eine andere Menschenmenge war in alle Gänge des Großen Kaufhofs eingedrungen, aber sie fanden nicht die höflich zum Kaufen einladenden Verkäufer, noch die bunte weibliche Menge von Käufern, sondern nur Soldaten ohne Gewehre, welche mit leeren Händen in die Gänge eilten und mit Beute beladen herauskamen. Die wenigen übriggebliebenen Krämer verschlossen ihre