Diese ganze Nacht erteilte Rostoptschin Befehle, welche von allen Seiten von ihm verlangt wurden. Seine Umgebung hatte ihn nie so finster und reizbar gesehen.
»Nun, sage diesem Dummkopf«, antwortete er auf eine Frage aus dem Domänenhof, »er soll hierbleiben und seine Papiere bewachen!«
»Was fragst du für Unsinn über die Feuerwehr? Sie hat doch Pferde, also kann sie nach Wladimir fahren, damit sie nicht den Franzosen in die Hände fällt.«
»Erlaucht«, kam der Aufseher vom Irrenhaus, »was befehlen Sie wegen der Irren?«
»Was ich befehle? Lasse sie alle laufen, wohin sie wollen! Wenn bei uns die Verrückten die Armee kommandieren, so ist es so der Wille Gottes.« Auf die Frage nach den Verbrechern im Gefängnis schrie der Graf zornig den Direktor an: »Was, soll ich dir zwei Bataillone zur Bedeckung geben! Die sind nicht da! Lasse sie alle laufen!«
»Erlaucht, es sind auch politische darunter, Mjeschkow Wereschtschagin.« »Wereschtschagin? Ist er noch nicht gehängt?« rief Rostoptschin. »Führe ihn her!«
198
Um neun Uhr morgens, als die Truppen schon durch Moskau zogen, kam niemand mehr, um Befehle vom Grafen zu verlangen. Alles, was flüchten konnte, floh von selbst, diejenigen, welche zurückblieben, entschieden selbst, was sie zu tun hatten. Der Graf hatte Pferde verlangt, um nach Sokolniki zu fahren, und saß gelb und schweigend in seinem Kabinett.
Der Polizeimeister, welcher der Menge entgangen war, und der Adjutant, der melden kam, daß die Pferde bereit seien, traten zu gleicher Zeit ein. Beide waren bleich, und der Polizeimeister meldete, daß draußen eine große Menschenmenge versammelt sei, die ihn sehen wolle.
Rostoptschin gab keine Antwort, stand auf, begab sich mit schnellen Schritten in seinen prachtvollen, hellen Salon und ging auf die Balkontür zu, trat dann aber an ein Fenster, aus welchem er die Menge übersehen konnte. Der große Bursche stand in der vordersten Reihe und sprach mit strenger Miene und lebhaften Gebärden. Der blutende Schmied mit dem finsteren Aussehen stand neben ihm. Durch die verschlossenen Fenster vernahm man ein wildes Stimmengewirr.
»Ist die Equipage bereit?« fragte Rostoptschin.
»Zu Befehl, Erlaucht«, sagte der Adjutant.
»Was wollen die Leute?« fragte er den Polizeimeister.
»Erlaucht, sie sagen, sie wollen den Franzosen entgegengehen auf Ihren Befehl, und schreien auch etwas von Verrat. Es ist eine wilde Menge, Erlaucht! Ich bin ihnen kaum entgangen! Ich wage Ihnen vorzuschlagen …« »Gehen Sie! Ich weiß selbst, was ich zu tun habe!« schrie Rostoptschin zornig.
»Dahin haben sie Rußland und mich gebracht«, dachte er. Wie es bei hitzigen Leuten oft geschieht, beherrschte ihn schon die Wut, während er noch einen Gegenstand dafür suchte. »Dieser Plebs da, dieser Abschaum der Bevölkerung«, dachte er, »will ein Opfer haben!« Dieser Gedanke kam ihm in den Sinn, weil er selber ein Opfer haben wollte für seine Wut.
»Ist die Equipage bereit?« fragte er nochmals.
»Zu Befehl, Erlaucht. Was soll mit Wereschtschagin geschehen? Er wartet an der Vortreppe«, erwiderte der Adjutant.
»Ah«, rief Rostoptschin, als ob er sich plötzlich erinnerte. Rasch öffnete er die Tür und trat auf den Balkon. Der Lärm verstummte, die Mützen wurden abgenommen und alle Augen richteten sich auf Rostoptschin.
»Guten Tag, Kinder!« sagte der Graf rasch und laut. »Ich danke euch, daß ihr gekommen seid! Ich komme sogleich zu euch hinaus! Aber vor allem müssen wir einen Bösewicht abfertigen, wir müssen den Bösewicht bestrafen, welcher am Untergang Moskaus schuld ist! Erwartet mich!« Der Graf kehrte rasch ins Zimmer zurück und schlug die Tür zu. Die Menge durchlief ein zufriedenes Gemurmel.
»Er wird die Bösewichte alle abfertigen, und du sagst, er sei ein Franzose!« riefen verschiedene Stimmen.
Nach einigen Minuten kam durch die Haustür rasch ein Offizier heraus, gab einen Befehl, und die Dragoner machten Front. Die Menge bewegte sich vom Balkon gierig nach der Vortreppe. Mit raschen, zornigen Schritten erschien Rostoptschin an der Vortreppe und blickte sich hastig um, als ob er etwas suche.
»Wo ist er?« rief er, und in demselben Augenblick sah man einen jungen Menschen mit langem, dünnen Hals und halbrasiertem Kopf, welcher aus einer Ecke des Hauses zwischen zwei Dragonern hervorkam. Dieser junge Mensch trug einen eleganten, mit einst blauem Tuch besetzten, abgetragenen Fuchspelz und schmutzige Arrestantenbeinkleider, welche in schmutzige, herabgetretene, feine Stiefel gesteckt waren. An den dünnen, schwachen Beinen hingen schwerfällig Fesseln, die den schüchternen Gang des jungen Menschen hinderten.
»Nun«, sagte Rostoptschin, »stellt ihn da hin!« Er deutete auf die unterste Stufe der Treppe.
Der junge Mensch schritt schwerfällig auf die bezeichnete Stufe herab, wandte zweimal seinen langen Hals um, seufzte und kreuzte seine feinen, wohlgepflegten Hände. Einige Augenblicke schwieg die Menge, nur in den vordersten Reihen hörte man Keuchen, Stöhnen und schwere Schritte.
»Kinder!« sagte Rostoptschin mit metallischer Stimme, »dieser Mensch da, Weretschschagin, ist derselbe Schurke, der an Moskaus Untergang schuld ist.«
Der junge Mensch in dem Fuchspelz, stand demütig und gebückt da, sein durch den halbrasierten Kopf entstelltes, junges Gesicht war mit hoffnungslosem Ausdruck zu Boden gerichtet. Bei den ersten Worten des Grafen hob er langsam den Kopf auf, blickte nach dem Grafen hinauf, als ob er ihm etwas sagen wollte, aber Rostoptschin sah ihn nicht an. Alle Augen waren auf Wereschtschagin gerichtet.
»Er hat seinen Kaiser und sein Vaterland verraten, hat sich Bonaparte verkauft! Er allein von allen Russen hat den russischen Namen beschimpft, und seinetwegen geht Moskau zugrunde!« sagte Rostoptschin mit scharfer Stimme. Aber plötzlich blickte er auf Wereschtschagin herab, der diese Stellung beibehielt, hob die Hand auf und schrie dem Volk zu: »Richtet ihn, wie er es verdient hat, ich übergebe ihn euch!«
Das Volk schwieg. Die Leute in den vordersten Reihen mit erschreckten, weit aufgerissenen Augen, stemmten sich aus aller Kraft gegen den Druck der Hintenstehenden.
»Schlagt ihn nieder! Der Verräter muß untergehen und nicht mehr den russischen Namen beschimpfen!« schrie Rostoptschin. »Schlagt ihn nieder! Ich befehle es!« Beim Anblick der zornigen Gebärden Rostoptschins, dessen Worte sie kaum vernehmen konnten, geriet die Menge in Bewegung, blieb aber wieder stehen.
»Graf«, sagte die schüchterne und zugleich theatralische Stimme Wereschtschagins, als auf einen Augenblick Stille eingetreten war. »Graf, Gott allein ist über uns!…« Sein Gesicht rötete sich, aber er konnte nicht aussprechen, was er sagen wollte.
»Schlagt ihn nieder! Ich befehle es!« wiederholte Rostoptschin, der plötzlich ebenso bleich wurde wie Wereschtschagin.
»Die Säbel heraus!« schrie der Offizier den Dragonern zu und zog selbst den Säbel.
Eine andere, noch stärkere Welle wogte durch das Volk bis in die vordersten Reihen. Ein großer Bursche mit steinernem Gesichtsausdruck stand neben Wereschtschagin.
»Schlagt ihn nieder!« sagte der Offizier fast flüsternd zu den Dragonern. Einer der Soldaten schlug mit plötzlicher Wut Wereschtschagin mit dem stumpfen Säbel über den Kopf.
»Ah!« schrie Wereschtschagin kurz und verwundert auf und blickte sich erschrocken um, als ob er nicht begriff, was mit ihm vorging. Ein ebensolcher Schrei der Verwunderung und des Entsetzens durchlief die Menge. »O Himmel!« rief jemand mit erschrockenem Ton. Aber nach dem ersten Ausruf der Verwunderung schrie Wereschtschagin vor Schmerz laut auf, und dieser Aufschrei