Dann hörte man noch drei Schüsse vom Kreml her, ein Schuß traf einen französischen Soldaten am Bein, und man hörte hinter der Barrikade hervor ein seltsames Geschrei verschiedener Stimmen. Auf den Gesichtern des französischen Generals, der Offiziere und der Soldaten verschwand gleichzeitig wie auf Kommando der frühere Ausdruck ruhiger Heiterkeit und wurde durch den Ausdruck hartnäckiger Kampfbereitschaft ersetzt. Inzwischen waren die Rufe von der Pforte her verstummt, die Kanonen wurden vorgeschoben, die Artilleristen bliesen die Lunten an, ein Offizier kommandierte Feuer und zwei Schüsse donnerten nacheinander. Die Kartätschenkugeln prasselten auf den Steinen, Mauern, Balken, und zwei Rauchwolken verbreiteten sich über den Platz. Eine einzelne Menschenstimme antwortete von der Pforte her, und in den Rauchwolken erschien die Gestalt eines Mannes in einem Kaftan, ohne Mütze. Er hielt ein Gewehr und zielte auf die Franzosen.
»Feuer!« kommandierte der Artillerieoffizier, und zu gleicher Zeit ertönten zwei Kanonenschüsse und ein Flintenschuß. Wieder hüllte der Rauch die Mauern ein.
Im Kreml rührte sich jetzt nichts mehr, und französische Soldaten mit Offizieren näherten sich der Pforte. Im Torweg lagen drei Verwundete und vier Tote, zwei Männer in Kaftanen liefen längs der Mauern nach der Snamenkastraße hinab.
»Nehmt das weg!« sagte der Offizier und deutete auf die Balken und Leichen. Wer diese Leute waren, hat niemand erfahren, es hieß nur: »Nehmt das weg!« Nur Thiers hat ihnen einige hochtrabende Zeilen gewidmet.
Murat wurde gemeldet, daß der Weg frei sei. Die Franzosen marschierten ein und errichteten ein Lager auf dem Senatsplatz. Die Soldaten warfen Stühle zu den Fenstern des Senatsgebäudes auf den Platz hinaus und machten Feuer an. Andere Abteilungen marschierten am Kreml vorüber und verbreiteten sich in die Stadt. Überall richteten sich die Franzosen, da sie keine Einwohner vorfanden, nicht wie in einem städtischen Quartier ein, sondern wie in einem Lager, das sich in einer Stadt befindet. Obgleich abgerissen, hungrig und erschöpft und bis zu einem Drittel ihrer früheren Zahl reduziert, marschierte die Armee in Moskau noch in guter Ordnung ein, sie war noch eine kriegerische, drohende Macht. Aber es waren nur so lange Soldaten, bis sie sich in ihre Quartiere zerstreuten. Als diese Leute nach fünf Wochen Moskau verließen, waren sie schon keine Armee mehr, sondern ein Haufen Marodeure, von denen jeder eine Menge Sachen mit sich schleppte, die er für wertvoll hielt, ähnlich jenem Affen, welcher die Hand in einen engen Korb gesteckt hatte und eine Handvoll Nüsse erfaßte, die Hand aber nicht loslassen wollte, um nicht die Nüsse zu verlieren, und daran zugrunde ging. So mußten auch die Franzosen beim Abmarsch von Moskau zugrunde gehen, weil sie Beute mit sich schleppten. Zehn Minuten, nachdem ein Regiment in einem Stadtviertel einmarschiert war, blieb nicht ein Soldat oder Offizier mehr übrig, man sah nur Leute in Mänteln, die durch die Zimmer gingen, in den Küchen kochten und brieten. Solche Leute gab es überall viele, aber Soldaten waren sie nicht mehr.
Die Offiziere wollten die Soldaten aufhalten, wurden aber unwillkürlich mitgerissen. In der Stellmacherstraße waren Läden mit Equipagen zurückgeblieben, und dort drängten sich jetzt Generale, um sich Kutschen und Kaleschen auszuwählen. Reichtümer gab es in großer Menge, überall gab es noch undurchsuchte Stellen, in welchen die Franzosen noch große Reichtümer vermuteten. Ganz ebenso, wie das Wasser im trockenen Boden verschwindet, so verbreiteten sich die hungrigen Soldaten in der weiten, öden Stadt, und so verschwand die Armee und verschwand die Stadt, und nichts blieb übrig als Schmutz, Feuersbrünste, Trümmer und Marodeure.
200
Erst am 2. September abends wurde auch der Stadtteil besetzt, in welchem jetzt Peter lebte. Nach den beiden letzten, in der Einsamkeit und unter ungewohnten Umständen verlebten Tagen befand er sich in einem Zustand, der dem Wahnsinn nahe war. Sein ganzes Wesen beherrschte nur ein Gedanke.
Er verließ das Haus nur der täglichen Lebensbedürfnisse wegen. In die Wohnung von Basdejew war er nur unter dem Vorwand gefahren, die Bücher und Papiere des Verstorbenen durchzusehen, weil er Erholung von den Aufregungen des Alltagslebens suchte. Und diese fand er wirklich, als er in der tiefen Stille des Kabinetts mit aufgestützten Ellenbogen an dem staubigen Schreibtisch des Verstorbenen saß.
Als er ausgegangen war, um einen Kaftan zu kaufen, und dabei Rostows begegnete, kam ihm der Gedanke, sich nicht zu schonen und vor dem Feinde nicht zurückzuweichen. Am anderen Tag zog er mit nach den drei Bergen. Als er nach Hause zurückkehrte und einsah, daß Moskau nicht verteidigt werde, hatte er die Empfindung, daß das, was vorher nur eine entfernte Möglichkeit gewesen, jetzt unumgänglich und unvermeidlich geworden sei. Er mußte in Moskau bleiben, seine Habe verbergen, ein Zusammentreffen mit Napoleon suchen und ihn töten, um entweder unterzugehen oder dem Unglück ganz Europas ein Ende zu machen, das nach Peters Meinung nur von Napoleon herrührte.
Der physische Zustand Peters stimmte, wie das immer der Fall ist, mit dem moralischen überein. Die ungewohnte grobe Nahrung, der Branntwein, den er in diesen Tagen trank, die Entbehrungen von Wein und Zigarren, die schmutzige Wäsche, die er nicht wechselte, die beiden Nächte, die er fast schlaflos auf einem kurzen Diwan zugebracht hatte, alles das versetzte Peter in einen Zustand von aufgeregter Reizbarkeit, der sich dem Wahnsinn näherte.
Es war schon zwei Uhr nachmittags, und die Franzosen zogen in Moskau ein. Peter wußte das, und anstatt zu handeln, dachte er nur an sein Vorhaben und überlegte alle Einzelheiten desselben. »Ja, einer für alle! Ich muß es vollbringen oder untergehen«, dachte er. »Mit der Pistole oder dem Dolch?« fragte er sich. »Nun, das ist ganz gleichgültig. ›Nicht ich, sondern die Hand der Vorsehung straft dich‹, werde ich ihm sagen. ›Nun, und jetzt führt mich zum Tode!‹« So sprach er vor sich hin mit düsterer, entschlossener Miene.
In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und auf der Schwelle erschien die ganz veränderte Gestalt Makars, der sonst immer ein schüchternes Benehmen beobachtet hatte. Sein Gesicht war gerötet und entstellt, er war augenscheinlich betrunken. Als er Peter sah, zögerte er, faßte sich aber sogleich und ging mit schwankenden Schritten bis in die Mitte des Zimmers.
»Sie haben Angst bekommen«, sagte er mit heiserer, zuversichtlicher Stimme. »Ich sage, ich ergebe mich nicht, ich sage … nicht wahr, Herr?«
Als er die Pistole auf dem Tisch erblickte, stürzte er darauf zu und lief damit auf den Hausflur hinaus. Gerasim und der Pförtner eilten ihm nach und wollten ihm die Pistole entreißen. Peter ging hinaus und sah mitleidig diesen halbwahnsinnigen Greis an.
»Zu den Waffen!« rief Makar. »Du wirst sie mir nicht entreißen.«
»Aber, ich bitte Sie, lassen Sie los! Ich bitte, Herr …« sagte Gerasim und wollte den Alten vorsichtig zur Tür zurückführen.
»Wer bist du? Bonaparte?« schrie Makar.
»Das ist nicht schön, Herr, bitte, treten Sie doch ins Zimmer ein und ruhen Sie sich aus!«
»Rühre mich nicht an!« schrie Makar und schwang die Pistole in die Höhe. »Zu den Waffen!«
»Faß an!« flüsterte Gerasim dem Dwornik an. Sie faßten den Alten am Arm und zogen ihn zur Zimmertür. Man hörte auf dem Flur Geräusch, Lärm und trunkenes, heiseres Geschrei. Plötzlich vernahm man eine durchdringende weibliche Stimme von der Vortreppe her, und die Köchin kam auf den Flur herausgelaufen.
»Sie sind da, Väterchen! Wirklich, sie sind da! Vier Reiter!« schrie sie. Gerasim und der Dwornik ließen Makar los, während an die Eingangstür geklopft wurde.
Peter beschloß, bis zur Ausführung seines Vorhabens seinen Namen und Stand sowie seine Kenntnis des Französischen nicht zu