Als der Graf am Morgen des 1. September erwachte, ging er auf Zehenspitzen in seinem seidenen Schlafrock hinaus auf die Vortreppe. Die beladenen Fuhren standen im Hof und die Equipagen vor der Tür. Der Haushofmeister sprach mit einem bleichen, jungen Offizier mit verbundenem Arm. Als er den Grafen erblickte, gab er dem Offizier einen strengen Wink, sich zu entfernen.
»Ist alles fertig, Wassilitsch?« fragte der Graf und nickte dem Offizier zu.
»Wir können sogleich anspannen, Erlaucht.«
»Vortrefflich! Gleich wird die Gräfin erwachen, und dann fort mit Gott! – Wer sind Sie, mein Herr?« wandte er sich an den Offizier. »Sind Sie bei mir im Hause?«
Der Offizier trat näher und sein bleiches Gesicht rötete sich lebhaft. »Graf, ich bitte Sie, erlauben Sie mir … um Gottes willen … irgendwo auf Ihren Fuhren ein Plätzchen! Ich habe nichts bei mir…«
Noch ehe der Offizier ausgesprochen hatte, kam ein Offiziersbursche mit derselben Bitte für seinen Herrn.
»Ach, ja, ja«, sagte der Graf, »ich freue mich sehr! Wassilitsch, sorge dafür! Man muß einen oder zwei Wagen abladen, nun dort … was nötig ist …« sagte der Graf mit unbestimmten Ausdrücken. In demselben Augenblick wurde durch den Ausruf heißer Dankbarkeit auf dem Gesicht des Offiziers dieser Befehl schon bekräftigt. Als der Graf sich umblickte, erschienen im Hof, an den Pforten und an den Fenstern überall Verwundete und Offiziersburschen, welche alle nach dem Grafen sahen.
»Erlauben Sie, Erlaucht, was soll mit den Bildern in der Galerie geschehen?« fragte der Haushofmeister. Der Graf ging mit ihm ins Haus, nachdem er seinen Befehl wiederholt hatte, die Verwundeten nicht zurückzuweisen, welche mitfahren wollten. »Nun, man kann etwas zusammenrücken«, fügte er mit leiser, geheimnisvoller Stimme hinzu, als ob er fürchtete, daß ihn jemand hören könnte.
Um neun Uhr erwachte die Gräfin, und Matrena, ihre frühere Zofe, meldete, Madame Chausse sei sehr erbost, und man könne doch die Sommerkleider der Fräulein nicht zurücklassen. Durch weitere Fragen, warum Madame Chausse entrüstet sei, erwies es sich, daß ihr Koffer von der Fuhre herabgenommen worden war, daß alle Fuhren aufgebunden und die Sachen abgeladen wurden und daß man die Verwundeten mitnehmen wolle. Die Gräfin ließ ihren Mann zu sich rufen.
»Was ist das, mein Lieber, wie ich höre, nimmt man die Sachen wieder ab?«
»Weißt du, meine Freundin, ich wollte dir sagen … Gräfin … ein Offizier hat mich gebeten, einige Fuhren für die Verwundeten abzugeben. Bedenke, wie sollen sie hier zurückbleiben? … Sie sind nun einmal auf dem Hof, wir haben sie selbst hereingerufen … Weißt du, ich glaube wirklich, meine Freundin, wir … man muß sie fortführen lassen …« Das sprach der Graf schüchtern, wie immer, wenn es sich um Geld handelte. Die Gräfin aber war an diesen Ton schon gewöhnt, der immer einer Sache vorherging, welche für die Kinder nachteilig war, wie der Bau irgendeiner Galerie oder Orangerie, oder die Errichtung eines Haustheaters, und darum hielt sie es immer für ihre Pflicht, sich dem zu widersetzen, was in diesem schüchternen Ton gesprochen wurde.
»Höre, Graf«, sagte sie in ihrem gehorsam weinerlichen Ton, »du hast es so weit gebracht, daß wir für das Haus nichts mehr erhalten, und jetzt willst du noch alles untergehen lassen, was den Kindern geblieben ist! Du hast selbst gesagt, im Hause seien Sachen im Wert von hunderttausend. Nein, mein Freund, ich kann nicht beistimmen, mache, wie du willst! Für die Verwundeten muß die Regierung sorgen, das wissen sie. Bei Lopuchins ist schon vorgestern alles fortgeführt worden. So handeln vernünftige Leute, nur wir sind Dummköpfe! Erbarme dich wenigstens der Kinder, wenn auch nicht meiner!« Der Graf verließ achselzuckend das Zimmer.
»Papa, was ist das?« sagte Natalie, welche nach ihm ins Zimmer der Mutter trat.
»Was willst du?« fragte der Graf ärgerlich.
»Ich habe alles gehört«, sagte Natalie. »Warum will Mama nicht?«
»Was geht es dich an?« schrie der Graf.
Natalie trat ins Zimmer und dachte nach.
»Papa, Berg ist gekommen«, sagte sie, durchs Fenster blickend.
190
Berg, der Schwiegersohn Rostows, war schon Oberst und bekleidete die ruhige, angenehme Stellung eines Gehilfen des Generalstabes des zweiten Armeekorps. Er war am 1. September von der Armee nach Moskau gekommen. Obgleich er dort nichts zu tun hatte, hielt er es doch für nötig, sich einen Urlaub zu erbitten, wie alle übrigen taten. Er umarmte den Grafen, küßte Natalie und Sonja die Hand und fragte hastig nach der Gesundheit der Gräfin.
»Wie geht’s?« fragte der Graf. »Was macht die Armee? Zieht sie sich zurück, oder wird eine Schlacht stattfinden?«
»Nur der ewige Gott kann das Schicksal des Vaterlandes entscheiden. Man weiß nicht, was nun werden wird, aber einen solchen Heldenmut, wie ihn die russische Armee zeigte, kann man sich nicht vorstellen und nicht genug rühmen.« In diesem Augenblick erschien die Gräfin mit ermüdeter und unzufriedener Miene. Berg sprang hastig auf, küßte ihr die Hand und erkundigte sich nach ihrem Befinden.
»Ja, es sind schwere Zeiten für jeden Russen«, sagte Berg. »Aber warum beunruhigen Sie sich? Sie haben noch Zeit, abzureisen.«
»Ich begreife nicht, was die Leute tun«, sagte die Gräfin zu ihrem Mann. »Man hat mir eben gesagt, es sei noch nichts bereit, man muß doch Anordnungen treffen.«
Der Graf stand auf und ging zur Tür.
»Ich kam mit einer großen Bitte zu Ihnen, Papa«, sagte Berg.
»Nun?« fragte der Graf stehenbleibend.
»Ich kam eben bei Jusupows Haus vorüber, der Verwalter kam heraus und fragte, ob ich nicht etwas kaufen wollte. Ich habe dort so eine Chiffonniere und Toilette gefunden, Sie wissen, wie sie Wera immer gewünscht hat, entzückend. Ich möchte sie gern damit überraschen. Ich sehe, Sie haben so viele Bauern im Hof, geben Sie mir wenigstens einen, ich werde gut bezahlen.«
»Gehen Sie zur Gräfin, ich habe nichts zu sagen«, erwiderte der Graf.
»Wenn es Schwierigkeiten macht«, sagte Berg, »dann lassen wir es! Ich wünschte es nur zu sehr für Wera.«
»Ach, macht, daß ihr alle zum Teufel kommt! Zum Teufel! Zum Teufel! Zum Teufel!« schrie der alte Graf. »Mir geht der Kopf in die Runde.« Damit lief er aus dem Zimmer. Die Gräfin brach in Tränen aus.
»Ja, ja, Mamachen, sehr schwere Zeiten!« sagte Berg.
Natalie ging mit ihrem Vater hinaus. Im Hof standen noch immer die beladenen Fuhren; zwei derselben waren abgeladen worden, und auf eine derselben stieg ein Offizier, unterstützt von seinem Burschen.
»Weißt du, warum Papa und Mama stritten?« fragte Petja. Natalie gab keine Antwort.
»Weil Papachen alle Fuhren den Verwundeten geben wollte«, sagte Petja. »Nach meiner Ansicht …«
»Nach meiner Ansicht«, schrie Natalie auf, »ist das eine solche Abscheulichkeit, eine solche Niedrigkeit … Ich weiß nicht … sind wir etwa solche Deutschen? …« Ihre Kehle zuckte vor verhaltenem Weinen, und in der Befürchtung, daß sich die Ladung ihres Zornes umsonst entladen würde, wandte sie sich um und stürmte die Treppe hinauf. Berg saß neben der Gräfin, und der Graf ging mit der Pfeife in der Hand im Zimmer auf und ab, als Natalie mit vor Zorn verzerrter Miene wie ein Sturmwind ins Zimmer stürzte und auf