»Mit dem Beil! Mit dem Beil! Der Verräter hat Christus verkauft und muß seinen Lohn haben! Mit dem Beil, aber rasch!«
Erst als der Unglückliche aufhörte, sich zu verteidigen, und sein Geschrei in ein gleichmäßiges, gedehntes Stöhnen übergegangen war, trat die Menge von der auf dem Boden liegenden blutigen Gestalt zurück. Jeder trat näher, betrachtete, was geschehen war, und drängte sich mit vorwurfsvoller Verwunderung und Entsetzen zurück.
»O Gott, was ist das Volk für ein wildes Tier!« hörte man in der Menge. »Und so ein junger Mensch! Wahrscheinlich ein Kaufmann! O Himmel, und der andere ist auch beinahe totgeschlagen! Ach, was für ein Volk! … Fürchtet keine Sünde!« sagten jetzt dieselben Leute, indem sie mit entrüsteten Mienen auf den Toten hinabsahen.
Auf den Befehl eines diensteifrigen Polizeibeamten, welcher die Anwesenheit eines Leichnams auf dem Hof seiner Erlaucht nicht schicklich fand, zogen die Dragoner den entsetzlich entstellten Leichnam auf die Straße hinaus. Der blutige, mit Staub bedeckte, halbrasierte Kopf auf dem langen Hals schlug auf dem unebenen Fußboden auf. Das Volk zog sich scheu zurück von der Leiche.
Als Wereschtschagin niederstürzte, und die Menge mit wildem Geheul über ihn herfiel, sich drängte und schwankte, erbleichte Rostoptschin plötzlich, und anstatt zur Hintertür zu gehen, wo ihn sein Wagen erwartete, ging er, ohne zu wissen warum und wohin, mit gesenktem Kopf und raschen Schritten über den Korridor, der in die Zimmer der unteren Etage führte. Das Gesicht des Grafen war bleich, und seine Kinnlade zitterte wie im Fieber.
»Ihre Erlaucht, hierher! Wohin gehen Sie?« sagte hinter ihm eine zitternde Stimme. Rostoptschin war nicht imstande, eine Antwort zu geben, wandte sich gehorsam um und ging nach der Richtung, die man ihm andeutete. An der Hintertreppe stand der Wagen. Das ferne Geheul der Menge hörte man auch hier noch. Graf Rostoptschin setzte sich eilig in die Kutsche und befahl, nach seinem Landhaus vor der Stadt in Sokolniki zu fahren. Als er durch die Mjäsnizkajastraße fuhr und das Geschrei nicht mehr hörte, befiel ihn Reue.
»Eine Volksmenge ist schrecklich und widerlich!« dachte er. »Wie die Wölfe kann man sie mit nichts befriedigen, außer mit Fleisch!« – »Graf, nur Gott ist über uns!« fielen ihm plötzlich die Worte Wereschtschagins ein und ein unangenehmer Frost überfiel seinen Rücken. Aber das war vorübergehend, und Graf Rostoptschin lächelte verächtlich über sich selbst. »Ich habe andere Pflichten«, dachte er, »noch viel größere Opfer müßten dem allgemeinen Wohl gebracht werden! Wereschtschagin war ein Verräter und durfte nicht ungestraft bleiben, und so habe ich mit einem Schlag zwei Fliegen getroffen, ich habe dem Volk ein Opfer zur Beruhigung gegeben und einen Bösewicht bestraft.«
Als er in seinem Hause angekommen war und verschiedene häusliche Anordnungen traf, hatte er sich vollkommen beruhigt. Nach einer halben Stunde fuhr er in raschem Lauf über das Feld von Sokolniki und erinnerte sich nicht mehr an das Geschehene, sondern dachte nur an das, was kommen werde. Jetzt fuhr er an die Jaussche Brücke, wo, wie man ihm sagte, Kutusow war. Er bereitete diejenigen zornigen und scharfen Vorwürfe vor, welche er Kutusow für seine Enttäuschung sagen wollte. Das Feld von Sokolniki war ganz verödet und am Ende desselben, wo »das gelbe Haus« stand, wie das Irrenhaus vom Volk genannt wurde, sah man verschiedene Gestalten in weißen Hemden und einige solche Leute, welche allein, schreiend und mit wilden Gebärden über das Feld liefen. Einer derselben kam auf die Kutsche des Grafen Rostoptschin zu. Der Graf, der Kutscher und die Dragoner blickten mit Entsetzen und Neugierde nach diesen freigelassenen Wahnsinnigen und besonders nach dem, der ihnen entgegengelaufen kam. Auf seinen dünnen, hageren Beinen schwankend, in einem weißen, flatternden Schlafrock lief der Wahnsinnige Rostoptschin entgegen und schrie ihm mit heiserer Stimme zu, er solle halten.
»Halt! sage ich!« schrie er mit heftigen Gebärden. Als er den Wagen erreicht hatte, lief er neben ihm her. »Dreimal hat man mich totgeschlagen und dreimal bin ich von den Toten auferstanden, sie haben mich mit Steinen erschlagen, ich aber stehe immer wieder auf«, schrie er.
Der Graf erbleichte, wie in dem Augenblick, als die Menge sich auf Wereschtschagin stürzte, und wandte sich ab.
»Fort! Fort!« schrie er dem Kutscher mit zitternder Stimme zu. Er fühlte, daß diese Erinnerung sich tief in sein Herz eingegraben hatte und daß ihre blutige Spur niemals verschwinden, daß im Gegenteil diese entsetzliche Erinnerung bis zu seinem Ende in seinem Herzen leben werde. Jetzt glaubte er seine eigenen Worte zu hören: »Schlagt ihn nieder!« – »Warum habe ich das gesagt? Das habe ich ohne meinen Willen ausgesprochen, ich konnte nicht anders.« Er sah das erschrockene und gleich darauf wuterfüllte Gesicht des Dragoners und den Blick schweigenden Vorwurfs, welchen dieser junge Bursche in dem Fuchspelz ihm zugeworfen hatte.
»Aber ich habe es nicht für mich getan, ich mußte so handeln. Die Menge … der Bösewicht… das allgemeine Wohl…« dachte er.
An der Jausschen Brücke drängten sich noch immer die Truppen. Es war heiß. Kutusow saß erschöpft auf einer Bank bei der Brücke und spielte mit der Peitsche im Sand, als der Wagen geräuschvoll vor ihm anhielt. Ein Mann in Generalsuniform trat mit halb erschrockenen, halb wütenden, unsteten Blicken auf Kutusow zu und redete ihn französisch an. Das war der Graf Rostoptschin. Er sagte Kutusow, er sei hierhergekommen, weil Moskau und die Residenz nicht mehr seien, sondern nur noch die Armee. »Es wäre alles anders gekommen, wenn Euer Durchlaucht mir nicht gesagt hätten, Sie werden Moskau nicht übergeben, ohne zuvor noch eine Schlacht zu schlagen«, sagte er.
Kutusow blickte ihn verstört an, als ob er ihn nicht verstanden habe. Rostoptschin schwieg, Kutusow wiegte den Kopf und ohne seine forschenden Blicke von Rostoptschin abzuwenden, erwiderte er leise: »Ja, ich werde Moskau nicht übergeben, ohne eine Schlacht zu schlagen.« Graf Rostoptschin gab keine Antwort und entfernte sich rasch von Kutusow, und seltsam! Der Oberkommandierende von Moskau, der stolze Graf Rostoptschin, nahm die Peitsche in die Hand, trat an die Brücke und begann mit lautem Geschrei die zusammengedrängten Banden auseinanderzujagen.
199
Um vier Uhr nachmittags rückten die Truppen Murats in Moskau ein. Hinter einer Abteilung Husaren ritt der König von Neapel mit großer Suite. Am Eingang der Stadt hielt der König, um Nachricht von der Vorhut zu erhalten, in welchem Zustand sich die im Zentrum Moskaus gelegene Burg, der Kreml, befinde. Einige in Moskau zurückgebliebene Einwohner sammelten sich um Murat und starrten mit schüchterner Neugierde die seltsame Erscheinung des langhaarigen, mit Federn und Gold geschmückten Königs an.
»Ist er das selbst, ihr Kaiser?« fragten einige.
»Die Mützen ab!« sprachen die Leute unter sich.
Murat ließ durch einen Dolmetscher fragen, wo die russischen Truppen seien, und ob es weit bis zum Kreml sei. Mit Mühe verstanden einige Leute diese Fragen und beantworteten sie. Ein Offizier kam von der Vorhut und meldete Murat, die Türen des Kreml seien geschlossen.
»Gut«, sagte Murat und beauftragte einen der Herren seiner Suite, vier leichte Geschütze aufstellen und das Tor beschießen