»Der General hat befohlen, auf jeden Fall alle sogleich hinauszujagen! Das ist ja unerhört, die Hälfte der Leute ist davongelaufen! Wohin gehst du? Wohin geht ihr?« schrie er einigen Soldaten zu, welche ohne Gewehre an ihm vorüberschlichen. »Wartet, Canaillen!«
»Ja, versuchen Sie einmal, sie zu fangen, da müssen Sie schneller laufen«, rief der ältere Offizier.
Der Offizier mit der Schärpe stieg vom Pferd, rief den Trommler zu sich und ging mit ihm zusammen in die Gänge des Großen Kaufhofs hinein. Einige Soldaten kamen herausgelaufen, ein wohlgenährter Kaufmann kam dem Offizier entgegen.
»Euer Wohlgeboren«, sagte er, »ich bitte um Schutz! Wir sind nicht knickerig! Wenn es gefällig ist, es macht mir Vergnügen, Ihnen zwei Stück Tuch herauszubringen! Aber das ist ja der reine Mord! Wenn Sie eine Wache aufstellen möchten, damit wir wenigstens schließen können!«
Noch einige Kaufleute drängten sich um den Offizier.
»Ach, was liegt daran«, sagte einer derselben. »Wenn der Kopf abgenommen ist, braucht man um die Haare nicht zu weinen, mag jeder nehmen, was er will.«
»Du hast gut reden«, erwiderte der erste Kaufmann zornig.
»Ich?« rief der Hagere. »Ich habe dort in drei Läden Ware für hunderttausend Rubel! Kann man diese hüten, wenn die Truppen abgezogen sind?«
»Ich bitte, Euer Wohlgeboren«, begann der erste Kaufmann, sich verneigend. Der Offizier stand ratlos da.
»Was geht mich das alles an?« rief er plötzlich und ging mit raschen Schritten durch die Gänge. In einem aufgebrochenen Laden hörte man Schlagen und Schimpfworte, und als der Offizier nähertrat, flog ein hinausgestoßener Mensch heraus, in einem grauen Kittel und mit rasiertem Kopf. Dieser Mensch duckte sich zusammen und sprang an den Kaufleuten und dem Offizier vorüber. In diesem Augenblick hörte man entsetzliches Geschrei aus einer ungeheuren Menge an der Moskwabrücke, und der Offizier eilte auf den Platz hinaus.
»Was ist das?« fragte er, aber sein Kamerad galoppierte schon in der Richtung, woher das Geschrei kam. Der Offizier stieg auch zu Pferde und ritt dem ersten nach. Als er die Brücke erreichte, sah er zwei Kanonen, welche vor derselben aufgefahren waren, während Infanterie die Brücke überschritt. Vor derselben lagen einige umgeworfene Wagen. Er sah einige angstvolle Gesichter und lachende Soldaten. Neben den Kanonen stand eine zweispännige Fuhre, die mit einem Berg von Sachen beladen war. Ganz oben auf der Spitze saß neben einem umgekehrten Kinderstühlchen ein altes Weib, welches ein durchdringendes, verzweifeltes Geschrei ausstieß. Die Kameraden erzählten dem Offizier, das Geschrei der Menge und das Kreischen des alten Weibes komme daher, daß der General Jermolow, als er erfahren habe, daß die Soldaten sich plündernd in der Stadt zerstreuten und Volksmassen die Brücke versperrten, nun befohlen hatte, zwei Kanonen aufzupflanzen und Anstalten zu treffen, um die Brücke zu beschießen. Unter entsetzlichem Gedränge, wobei mehrere Wagen umgeworfen wurden, und unter verzweifeltem Geschrei wurde die Brücke frei und die Truppen gingen hinüber.
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Das Innere der Stadt war ganz still und öde. Auf den Straßen war fast niemand zu sehen, die Pforten der Häuser und die Läden waren alle geschlossen. Zuweilen hörte man von ferne einsames Schreien oder Singen eines Betrunkenen aus einer Schenke.
In der Powarstraße, wo das Rostowsche Haus lag, war es ganz still und leer. In dem großen, mit allen seinen Reichtümern gefüllten Hause befanden sich zwei Menschen in dem großen Saal. Das war der Pförtner Ignat und der Diener Mischka, der Enkel von Wassilitsch, welcher bei seinem Großvater in Moskau zurückgeblieben war. Mischka öffnete das Klavier und spielte darauf mit einem Finger. Der Pförtner stand lachend vor einem großen Spiegel.
»Eh! Fein! Nicht wahr, Onkelchen Ignat?« sagte der Knabe und schlug plötzlich mit beiden Händen auf die Tasten.
»Gewissenlos! Wirklich gewissenlos!« sagte hinter ihm die Stimme Mawras, welche eintrat. »Dieser da mit der dicken Fratze, der die Zähne fletscht!«
Ignat zog den Gürtel zurecht, hörte auf zu lachen, schlug demütig die Augen nieder und verließ das Zimmer.
»Tantchen!« sagte der Knabe.
»Warte, ich werde dir geben, du Strolch!« schrie Mawra, ihm mit der Hand drohend. »Geh und stelle den Samowar auf!« Mawra wischte den Staub ab, schloß das Klavier und ging mit einem schweren Seufzer aus dem Saal hinaus, dessen Tür sie verschloß. Als sie auf den Hof trat, überlegte sie, wohin sie zuerst gehen sollte, Tee trinken mit Wassilitsch, oder in die Vorratskammer, um aufzuräumen.
In der stillen Straße hörte man schnelle Schritte, welche bei der Pforte anhielten, jemand klopfte an.
Wawra ging an die Pforte. »Wer ist da?« fragte sie.
»Ist der Graf Rostow da?«
»Wer seid Ihr denn?«
»Ich bin ein Offizier, ich muß ihn sprechen!« sagte eine angenehme, russische Stimme.
Mawra öffnete das Pförtchen. Ein etwa achtzehnjähriger Offizier mit einem runden Gesicht von Rostows Familientypus trat in den Hof. »Alles fort, Väterchen! Gestern abend geruhten sie abzufahren!« Der junge Offizier blieb unschlüssig am Pförtchen stehen.
»Ach, wie schade!« sagte er. »Gestern hätte ich sollen … ach, wie schade!« Mawra hatte inzwischen gespannt die ihr bekannten Züge der Rostowschen Rasse betrachtet, sowie den zerrissenen Mantel und die abgenutzten Stiefel, die der Offizier trug.
»Was wollten Sie vom Grafen?« fragte sie.
»Nun ja … was ist zu machen? …« sagte der Offizier und wandte sich zum Gehen. Dann blieb er wieder unschlüssig stehen.
»Sehen Sie«, sagte er, »ich bin ein Neffe des Grafen, und er war immer sehr gut gegen mich. Nun, sehen Sie«, fuhr er mit einem gutmütigen Lächeln fort, »meine Kleider sind abgerissen, und ich habe kein Geld, deswegen wollte ich den Grafen bitten …« Mawra ließ ihn nicht ausreden.
»Warten Sie doch ein Minütchen, Väterchen«, sagte sie, und sowie der Offizier die Hand von der Pforte nahm, wandte sich Mawra um und ging mit raschen Schritten durch die Hintertür nach ihrer Wohnung.
»Wie schade, daß ich Onkelchen nicht getroffen habe!« sagte der Offizier mit einem Blick auf seine zerrissenen Stiefel. »Aber eine prächtige Alte! Wo ist sie nur hingelaufen? Sie schien mich beinahe zu erkennen! Und wie soll ich nun erfahren, auf welchem Wege ich am schnellsten das Regiment einholen kann, welches sich jetzt schon Rogoschsk nähert?«
Mawra erschien wieder an der Ecke und hielt in der Hand ein eingewickeltes, kariertes Tuch. Als sie näherkam, öffnete sie das Tuch, nahm einen neuen Schein von fünfundzwanzig Rubeln heraus und reichte ihn hastig dem Offizier.
»Wäre Seine Erlaucht zu Hause gewesen, so hätte er … würde er …« Mawra wurde verlegen und verwirrt.
Aber der Offizier wies das Geld nicht zurück, nahm gemütlich das Papier und dankte Mawra.
»Wenn nur der Graf zu Hause wäre …« sagte Mawra entschuldigend. »Christus sei mit Ihnen, Väterchen! Gott schütze Sie!« fügte sie mit einem tiefen Seufzer hinzu. Der Offizier lachte, nickte mit dem Kopf und lief fast im Trab auf die leere Straße hinaus, um sein Regiment an der Jausschen Pforte einzuholen. Mawra stand noch lange Zeit mit feuchten Augen an dem verschlossenen Pförtchen, wiegte nachdenklich den Kopf und empfand einen plötzlichen Ausbruch mütterlicher Zärtlichkeit für den ihr unbekannten Offizier.
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