Natalie lächelte und auch die Gräfin lächelte schwach.
»Ich wußte, daß sie es erlauben werden!« Und Natalie küßte ihre Mutter, stand auf und ging zur Tür.
Im Saal begegnete sie ihrem Vater, der mit schlechten Nachrichten nach Hause zurückkehrte.
»Wir sind zwar lange sitzengeblieben«, sagte der Graf verdrießlich. »Jetzt ist der Klub geschlossen, und die Polizei zieht ab.«
»Papa, es ist doch recht, daß ich die Verwundeten ins Haus einlud? sagte Natalie.
»Versteht sich«, erwiderte der Graf zerstreut, »aber jetzt halte dich nicht mit Spielereien auf und hilf einpacken! Wir müssen morgen fort!« Und der Graf erteilte dem Hausmeister und den Dienern denselben Befehl. Petja kehrte zu Tisch zurück und erzählte seine Neuigkeiten. Er erzählte, daß das Volk im Kreml sich bewaffnet habe, und obgleich Rostoptschin in seiner Proklamation gesagt habe, er werde das Volk aufrufen, habe man doch schon wirklich Anordnungen getroffen, daß morgen das ganze Volk nach den drei Bergen bewaffnet hinausziehen werde, und daß dort eine große Schlacht stattfinden werde.
Die Gräfin beobachtete mit Entsetzen das erregte, gerötete Gesicht ihres Sohns, während er erzählte. Sie wußte, wenn sie ihn zurückhalten wollte, werde er etwas von Männlichkeit, von Ehre und Vaterland sprechen und andere Unsinnigkeiten, auf die sie nichts erwidern konnte, und deshalb hoffte sie, es möglich zu machen, daß sie noch früher abreisen und Petja als Beschützer mitnehmen konnte. Nach Tisch rief sie den Grafen zu sich und flehte ihn mit Tränen an, sie sogleich fortzuführen, noch in dieser Nacht, wenn es möglich sei. Mit unwillkürlicher weiblicher Schlauheit sagte sie, sie sterbe vor Schrecken, wenn man nicht noch heute nacht abfahre.
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Madame Chausse vermehrte noch die Angst der Gräfin, indem sie erzählte, was sie auf der Mjäsnizkajastraße gesehen hatte, als sie zu ihrer Tochter gehen wollte. Als sie zurückkehrte, lärmten betrunkene Volkshaufen auf der Straße. Sie fuhr mit einer Droschke auf Umwegen nach Hause, und der Kutscher erzählte ihr, daß das Volk die Fässer in einem großen Branntweinlager eingeschlagen habe.
Nach Tisch machte sich die ganze Dienerschaft mit neuer Hast an die Arbeit. Der Graf ging im Hofe umher, schrie die Leute an und brachte sie noch mehr in Verwirrung. Petja kommandierte auf dem Hof. Sonja wußte nicht, was sie bei den widersprechenden Befehlen des Grafen machen sollte und wurde ganz ratlos. Die Leute liefen schreiend, zankend und lärmend durch die Zimmer, und Natalie beteiligte sich jetzt plötzlich auch mit der ihr eigenen Leidenschaftlichkeit an den Arbeiten. Anfangs wurde ihr Eifer ungläubig aufgenommen, man glaubte, sie scherze und wollte ihr nicht gehorchen. Aber sie verlangte hartnäckig Gehorsam und weinte beinahe vor Zorn, und endlich glaubte man an ihren Eifer. Ihre erste Tat war die Einpackung der Teppiche. Es waren teuere Gobelins und persische Teppiche vorhanden. Im Saal standen zwei offene Kisten, die eine war fast bis oben mit Porzellan gefüllt, die andere mit Teppichen. Auf den Tischen stand noch viel Porzellan und man brachte immer noch mehr aus der Vorratskammer. Man mußte eine zweite und dritte Kiste anfangen, welche die Leute holen gingen.
»Es geht nicht, Fräulein, wir haben es schon versucht«, sagte der Tafeldecker.
»Nein, warte doch!« Und Natalie nahm eine Schüssel und Teller heraus. »Die Schüssel hierher zu den Teppichen!« sagte sie.
»Gott gebe, daß wir die Teppiche in drei Kisten hineinbringen!«
»Warte nur!« sagte Natalie und begann rasch einzuteilen. »Die Kiewschen Teller sind nicht nötig, und dies kommt in die Teppiche«, sagte sie, auf eine Meißner Vase deutend.
»Ach, Fräulein«, sagte der Haushofmeister. Aber Natalie warf rasch alles heraus und begann neu einzupacken und entschied, daß die schlechten Hausteppiche und geringes Geschirr nicht mitgenommen werden solle. Als alles andere herausgenommen war, begann man wieder einzupacken, und wirklich, nachdem alle geringen Sachen, welche mitzunehmen nicht wert waren, beiseite geschafft waren, wurden alle kostbaren in zwei Kisten untergebracht.
Sie machte verzweifelte Anstrengungen und wies den Tafeldecker und Petja, den sie zu sich berufen hatte, an. »Jetzt binde fest, Petja! Wassil, drücke den Deckel zu!« Die Koffer wurden zusammengedrückt und die Deckel geschlossen. Natalie schlug erfreut die Hände zusammen und Tränen standen in ihren Augen. Aber sogleich begann sie eine andere Arbeit. Der Graf wurde nicht ärgerlich, wenn man ihm sagte, Natalie habe seine Befehle umgeändert, und die Diener kamen zu Natalie nach Befehlen. Sie ließ immer überflüssige Sachen zurück, und so gelang es ihr, die teuersten sicher unterzubringen. Aber so sehr auch die Leute sich bemühten, war in später Nacht noch nicht alles eingepackt. Die Gräfin schlief ein und der Graf schob die Abfahrt auf den Morgen auf und ging schlafen. Sonja und Natalie schliefen, ohne sich auszukleiden, im kleinen Salon.
In der Nacht fuhr noch ein Verwundeter durch die Straßen vorüber, und Mawra, welche an der Pforte stand, ließ den Wagen in den Hof einbiegen. Dieser Verwundete war nach Mawras Meinung eine sehr bedeutende Persönlichkeit. Er fuhr in einer Kutsche, auf dem Bock saß ein alter, würdiger Kammerdiener neben dem Kutscher, hinter dem Wagen ritt ein Arzt und zwei Soldaten.
»Bitte, kommen Sie zu uns! Die Herrschaft fährt fort, das ganze Haus ist leer!« sagte die Alte zu dem alten Diener.
»Nun ja«, erwiderte der Kammerdiener, »wir haben ein eigenes Haus in Moskau, aber es ist weit und dort wohnt niemand.«
»Bitte, kommen Sie zu uns! Unsere Herrschaft hat an allem Überfluß, bitte!« sagte Mawra. »Ist der Herr sehr krank?« fragte sie.
Der Kammerdiener machte eine Handbewegung.
»Wir wagen nicht, ihn weiter zu bringen, ich muß den Arzt fragen«, sagte der Kammerdiener und stieg vom Bock.
»Gut«, sagte der Arzt.
Der Kammerdiener ging wieder zur Kalesche, blickte hinein, wiegte den Kopf und befahl dem Kutscher, hineinzufahren. Mawra schlug vor, den Verwundeten ins Haus zu tragen.
»Die Herrschaft hat nichts dagegen«, sagte sie. Aber um die Haupttreppe zu vermeiden, wurde der Verwundete in das Seitengebäude getragen und in das frühere Zimmer von Madame Chausse gebracht. Dieser Verwundete war Fürst Andree Bolkonsky.
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Der letzte Tag Moskaus brach an. Es war ein helles, heiteres Herbstwetter und ein Sonntag. Wie an gewöhnlichen Sonntagen wurde auf allen Kirchen zur Messe geläutet, niemand schien begreifen zu können, was Moskau erwartete. Nur an zwei Merkmalen zeigte sich die Lage, in der sich Moskau befand: das Benehmen des niederen Volkes und die Preise der Gegenstände. Fabrikarbeiter, Dienstleute, Bauern zogen in großen Massen, unter die sich auch Beamte, Seminaristen, Adlige mischten, frühmorgens nach den drei Bergen hinaus. Nachdem sie dort einige Zeit gestanden und vergebens Rostoptschin erwartet hatten, überzeugten sie sich, daß Moskau übergeben werde, und die ganze Menge zerstreute sich in Moskau in den Branntweinschenken. Die Preise für Waffen, für Gold, Wagen und Pferde stiegen ungeheuer, aber die Preise für Luxuswaren verminderten sich rasch, so daß es gegen Mittag vorkam, daß teuere Waren, wie Tuch, Möbel, Spiegel, umsonst weggegeben wurden, während man für ein Bauernpferd fünfhundert Rubel zahlte. In dem würdigen, alten Rostowschen Hause zeigten sich diese Anzeichen noch sehr schwach. In bezug auf die Leute ereignete sich nur, daß in der Nacht drei Männer von der großen Dienerschaft verschwanden, aber nichts wurde gestohlen, und in bezug auf die Preise der Sachen erwiesen sich die dreißig Fuhren, welche von den Gütern gekommen waren, als ein ungeheurer Reichtum, welchen viele mit Neid ansahen und wofür Rostow große Summen geboten wurden. Dabei aber kamen schon früh am Morgen die Burschen von verwundeten Offizieren und selbst Verwundete, welche sich herbeigeschleppt hatten aus dem Rostowschen und benachbarten Häusern und flehten