Gegen Ende August kam ein zweiter Brief von Nikolai. Er schrieb aus Woronesch, wohin er zum Einkauf von Pferden gesandt worden war. Dieser Brief beruhigte die Gräfin nicht; da sie einen Sohn für jetzt außer Gefahr wußte, war sie noch mehr in Angst um Petja.
Obgleich schon seit dem 20. August fast alle Bekannten Rostows Moskau verlassen hatten, und obgleich alle der Gräfin dringend rieten, so schnell wie möglich abzureisen, wollte sie doch damals nichts von Abreise wissen, bevor ihr teurer Petja zurückgekehrt sei. Dieser kam am 28. August, aber die leidenschaftliche Zärtlichkeit, mit der er empfangen wurde, gefiel dem sechzehnjährigen Offizierchen schlecht. Er erriet das Vorhaben seiner Mutter, ihn nicht mehr aus ihren Fittichen zu entlassen, und in der Befürchtung, durch ihre Zärtlichkeit weibisch zu werden, benahm er sich kühl gegen sie, vermied sie und hielt sich ausschließlich zu Natalie.
Bei der gewohnten Sorglosigkeit des Grafen war am 28. August noch nichts zur Abreise bereit, und die Fuhren, die er von den Gütern im Räsanschen und Moskauschen Gouvernement erwartete, um alle Habseligkeiten aus dem Hause fortzubringen, kamen erst am 30. an.
Vom 28. bis zum 31. August befand sich ganz Moskau in Aufregung und Bewegung. Jeden Tag wurden Tausende von Verwundeten durch Moskau geführt und Tausende von Fuhren und Habseligkeiten verließen durch alle Tore die Stadt. Trotz der Proklamation Rostoptschins, vielleicht sogar infolge derselben, liefen die widersprechendsten Gerüchte durch die Stadt. Man sagte, es sei verboten, jemand hinauszulassen, andere dagegen erzählten, man habe alle Heiligenbilder aus den Kirchen fortgebracht und die Leute werden gewaltsam fortgebracht werden. Dann hieß es, nach der Schlacht bei Borodino habe noch eine andere stattgefunden, in welcher die Franzosen geschlagen worden seien, wogegen andere behaupteten, die ganze russische Armee sei vernichtet; es hieß, man habe Verräter gefangen, die Bauern seien aufständisch geworden und plünderten diejenigen, welche abfuhren, und so weiter. Aber alle fühlten, ohne es auszusprechen, daß Moskau jedenfalls dem Feinde überlassen werde und daß man so schnell wie möglich sich selbst und alle Habseligkeiten in Sicherheit bringen müsse. Bis zum 1. September trat keine Veränderung ein; obgleich man wußte, daß der Untergang nahe war, nahm doch das gewohnte Leben in Moskau noch immer seinen Fortgang.
Während dieser drei Tage vor der Einnahme Moskaus war die ganze Familie des Grafen Rostow mit verschiedenen Alltagssorgen beschäftigt. Das Haupt der Familie fuhr beständig in der Stadt umher, sammelte die umlaufenden Gerüchte ein und traf zu Hause oberflächliche, hastige Anordnungen für die Abreise. Die Gräfin beaufsichtigte die Aufräumung der Sachen, war mit allem unzufrieden und eifersüchtig auf Natalie, bei der Petja die ganze Zeit verbrachte. Nur Sonja widmete sich einer praktischen Tätigkeit, dem Einpacken der Sachen, war aber in der letzten Zeit schweigsam und kummervoll. Der Brief Nikolais, in dem er seine Begegnung mit der Fürstin Marie erwähnte, hatte hoffnungsvolle Äußerungen der Gräfin hervorgerufen, welche in dieser Beziehung eine Fügung Gottes sah. »Ich war niemals froh«, sagte die Gräfin, »über die Brautschaft Natalies mit Bolkonsky, aber ich habe ein Vorgefühl und habe es immer gewünscht, daß Nikolai die Fürstin heiraten werde. Und wie schön wäre das!«
Sonja wußte, daß die einzige Möglichkeit, die Umstände der Familie zu verbessern, in einer reichen Heirat Nikolais lag, und daß die Fürstin eine gute Partie war. Aber das war ihr ein sehr bitteres Gefühl. Ungeachtet ihres Kummers, oder vielleicht gerade infolgedessen, nahm sie alle Mühe und Sorge für die Einpackung der Sachen auf sich und war ganze Tage lang eifrig beschäftigt. Der Graf und die Gräfin wandten sich immer an sie, wenn sie etwas zu befehlen hatten. Petja und Natalie dagegen leisteten den Eltern nicht nur keine Hilfe, sondern waren allen im Hause lästig und störend. Fast den ganzen Tag hörte man im Hause ihr geräuschvolles Wesen, Schreien und Lachen. Petja freute sich, daß er, nachdem er das Haus als Knabe verlassen hatte, jetzt, wie dies alle sagten, als junger Mann zurückgekehrt war, und hauptsächlich deshalb, weil Natalie so froh und heiter war, deren Stimmung er stets geteilt hatte, Natalie aber befand sich deshalb in lustiger Stimmung, weil jemand zugegen war, der über sie entzückt war, und dieses Entzücken anderer war die Wagenschmiere, welche immer notwendig war, um ihre Maschine in Bewegung zu setzen. Sie waren überhaupt vergnügt darüber, daß man sich bei Moskau schlagen werde, daß alle flohen, daß überhaupt etwas Ungewöhnliches vorging, was immer den Menschen, besonders den jungen Menschen erheitert.
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Am Sonnabend, den 31. August, ging im Hause Rostow alles drunter und drüber. Alle Türen waren weit offen, alle Möbel wurden umgestellt oder fortgetragen, die Spiegel und Bilder abgenommen. In den Zimmern standen Koffer und Kisten, Heu und Packpapier lag umher. Die Dienerschaft und Bauern trugen Sachen hinaus und gingen mit schweren Schritten über das Parkett. Draußen drängten sich die Bauernwagen, einige waren schon beladen und festgebunden, andere noch leer. Der Graf war seit dem Morgen ausgefahren, niemand wußte, wohin; die Gräfin hatte Kopfschmerzen von all dem Lärm bekommen und lag in einem Salon mit einem Essigumschlag um die Stirne. Petja war nicht zu Hause, Sonja beaufsichtigte im Salon das Einpacken von Kristall und Geschirr. Natalie saß auf der Diele in ihrem Zimmer zwischen umherliegenden Kleidern, Bändern und Schärpen. Sie war beschämt darüber, daß sie nichts tat, während alle so eifrig arbeiteten, und seit dem Morgen versuchte sie es mehrmals, mitzuhelfen. Aber sie vermochte es nicht, ließ immer wieder alles liegen und ging in ihr Zimmer, um ihre Sachen einzupacken. Anfangs belustigte sie sich damit, ihre alten Kleider an die Zofen zu verteilen, dann aber, als die übrigen eingepackt werden sollten, erschien ihr das langweilig.
»Dunjascha«, sagte sie, »du wirst das alles zurechtlegen, mein Täubchen, nicht wahr?«
Dunjascha versprach, alles zu machen, und Natalie setzte sich mit einem alten Ballkleid auf die Diele und dachte nicht mehr an das, was jetzt geschehen sollte. Sie stand auf und betrachtete sich im Spiegel.
Auf der Straße hielt ein ungeheurer Wagenzug mit Verwundeten. Die Mädchen und Diener, die Köche, Kutscher und Stallknechte eilten zum Tore, um die Verwundeten zu sehen. Natalie band ein weißes Taschentuch um die Haare, hielt es mit beiden Händen an den Enden fest und ging auf die Straße hinaus. Die alte Haushälterin Mawra ging an einen Wagen und sprach mit einem darinliegenden, bleichen Offizier. Natalie näherte sich und hörte schüchtern zu, während sie immer noch die Zipfel ihres Tuches mit beiden Händen festhielt.
»Sie haben niemand In Moskau?« fragte Mawra. »Sie könnten ruhiger sein irgendwo in einer Wohnung, vielleicht gleich hier bei uns. Die Herrschaft reist ab.«
»Ich weiß nicht, ob die Herrschaft das erlauben wird«, sagte der Offizier mit schwacher Stimme. »Fragen Sie den Kommandierenden!« Dabei deutete er auf einen dicken Major, welcher längs der Wagenreihe näherkam. Natalie blickte angstvoll den Verwundeten an. »Können die Verwundeten bei uns im Hause bleiben?« fragte sie den Major.
Der Major legte lächelnd die Hand an den Schirm. »Was ist Ihnen gefällig, Mamsell?« fragte er lachend.
Natalie wiederholte ihre Frage mit ernster Miene.
»O ja, warum nicht?« erwiderte der Major. Der Wagen des Offiziers und noch zehn andere mit Verwundeten fuhren in den Hof ein. Natalie war sichtlich erfreut über dieses ungewöhnliche Ereignis und die Begegnung mit fremden Menschen und bemühte sich, mit Mawra soviel als möglich Verwundete in den Hof hineinzuführen.
»Aber man muß es doch erst dem Herrn Papa sagen«, meinte Mawra.
»Ach, das ist doch ganz gleichgültig, wir richten uns auf einen Tag im Salon ein und können ihnen unsere ganze Wohnung überlassen. »Aber bedenken Sie, Fräulein, man könnte doch erst fragen.« Natalie eilte ins Haus und ging auf den Zehenspitzen nach der halb offenen Tür des kleinen Salons, aus welchem ein Geruch von Essig und Hoffmannstropfen herauskam.
»Mama«, sagte Natalie und ließ sich auf die Knie vor ihrer Mutter nieder, »verzeihen Sie, daß ich Sie geweckt habe! Mawra schickt mich, unten sind verwundete Offiziere, welche kein Unterkommen haben; ich