SURVIVAL INSTINCT. Kristal Stittle. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Kristal Stittle
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958350250
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in die Enge getrieben worden, aber viele versuchten gar nicht mehr, dort durchzukommen, sondern kletterten die Steinmauern hoch, um auf der anderen Seite hinunterzuspringen. Tobias beschloss, auch diesen Weg zu nehmen, schon weil er den Mauern näher war als irgendeinem Ausgang. Da er sich über den Köpfen der anderen bereits in erhöhter Position befand, hatte er die Barriere schon so gut wie erklommen, bevor er sie überhaupt erreichte.

      Als er tatsächlich dort ankam, wuchtete er sich auf den breiten, flachen Scheitel der Mauer. Sobald er sein Gleichgewicht gefunden hatte, blieb er einen Moment lang sitzen und versuchte, zu Atem zu kommen. Wie viel Zeit war eigentlich verstrichen, seitdem Lucas Jonas den Trubel bemerkt hatte? Lucas …

      Tobias zog die Kamera wieder aus der Tasche. Dass sie keinen einzigen Kratzer abbekommen hatte, erstaunte ihn. Außerdem funktionierte sie noch und nahm sogar weiter auf, denn er hatte im allgemeinen Gewirr vergessen, sie auszuschalten. Nun fing er an, die Menge mit ihr abzusuchen, um Mr. Jonas oder Bruce zu entdecken.

      Ersterer ließ sich leichter finden: Er befand sich immer noch am Rand des weiteren Kreises, schlug und biss andere Menschen. Umso unheimlicher war der Umstand, dass Tobias die Angriffe nach wie vor über Kopfhörer mitverfolgen konnte. Er zog ihn rasch aus der Anschlussbuchse. Der Regenschirm war anscheinend verschwunden, sodass nun ein Loch in Lucas' Torso klaffte, das sich glatt durchschauen ließ. Es war total absurd, völlig surreal. Mit einem Mal wurde Tobias richtig übel. Er beugte sich vornüber und übergab sich auf den Gehsteig, der außen an der Mauer vorbeiführte. Dass er die Menge auf dem Konzertgelände vor seinem Erbrochenen verschonte, lag einzig an dem starken Ekelgefühl, das ihn gezwungen hatte, sich von der Szene abzuwenden.

      Was ging da vor sich? Tobias konnte sich keinen Reim auf die Geschehnisse machen. Alles drehte sich, weshalb er sich an der Mauer festhalten musste, um nicht hinunterzufallen. Er holte mehrmals tief Luft und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen.

      Erst als er aufschaute, bekam er mit, was außerhalb des Geländes passierte: Die Konzertbesucher zerstreuten sich in alle Winde. Viele waren zu ihren Autos gelaufen und wollten jetzt aufbrechen, verursachten aber in ihrer Hast Unfälle und Staus. Die Konzertbesucher rannten voller Panik kreuz und quer herum. Polizei, Feuerwehr und Ambulanzen versuchten, Hilfe zu leisten und die Ordnung wiederherzustellen, aber bisher gelang ihnen das nicht.

      Nicht nur im Park, auch davor herrschte der totale Ausnahmezustand.

      ***

      Tobias nahm sich vor, die Flucht zu ergreifen und sich in Sicherheit zu bringen; vielleicht schaffte er es ja nach Hause. Obwohl er nicht wusste, wie sicher sein winziges, leeres Apartment sein würde, erschien es ihm immer noch besser, als zu bleiben, wo er war.

      Er verschaffte sich von seinem hohen Platz auf der Mauer einen Überblick und machte die zahlreichen Kleinbusse der Medien aus. In einem von ihnen war auch er hergekommen, doch dieser parkte leider mehrere Blocks weit entfernt auf der anderen Seite des Geländes. Tobias suchte mithilfe der Kamera nach irgendjemandem, den er kannte. Auf den Dächern der Busse standen mehrere Reporter mit ihren Kameraleuten und filmten das Chaos in der Umgebung. Diesen oder jenen glaubte Tobias zu kennen, hätte es aber nicht genau sagen können; Kameras neigten dazu, die Gesichter derer zu verdecken, die sie hielten.

      Nun beobachtete er, wie sich ein Arm nach oben ausstreckte und nach einem der Berichterstatter langte. Der Mann wurde hinuntergezogen, woraufhin Tobias ihn von seiner Warte aus nicht mehr sehen konnte. Alles weitere jedoch vermittelte ihm seine Fantasie relativ eindrücklich. Alle Kameraleute dort drehten sich um und schnitten mit, wie der Reporter attackiert wurde. Niemand kam auf den Gedanken, ihm zu helfen.

      »Hey! Hören Sie, können Sie mir helfen? Bitte!«

      Tobias nahm die Kamera herunter und schaute zu Boden. Dort stand ein junges Mädchen und schaute zu ihm auf. Sie konnte kaum älter als 16 sein und hatte Tränen in den von zerlaufener Wimperntusche verschmierten Augen. Sie streckte sich nach ihm aus, und er sah, dass ihre Finger blutig zerschnitten waren, die abwechselnd grell pinkfarben und schwarz lackierten Fingernägel abgebrochen. Er vermutete, sie hatte erfolglos versucht, die Mauer zu erklimmen, hatte sich aber lediglich die Hände blutig gekratzt.

      »Ich komm nicht alleine hoch!«, rief sie ihm zu.

      Nun erst wurde Tobias bewusst, dass sich noch mehr Menschen über die Mauern wälzten. Ein Blick auf den nahen Ausgang sagte ihm, warum: Mittendrin wüteten ein weiterer Angreifer, vor dem sie das Feld räumten. Links wie rechts neben ihm kletterten immer mehr Menschen über die Mauer, und unten drängelte sich eine Unzahl, die das Mädchen wiederholt dagegen schubste.

      Tobias dachte an die Kameraleute und sein eigenes, egoistisches Verhalten zuvor. Er verstaute sein Gerät wieder in der Tasche, legte sich auf die Mauer und streckte dem Mädchen einen Arm entgegen.

      »Weiter komme ich nicht, den Rest musst du selbst schaffen!«, rief er der Kleinen zu. Hätte er sich noch weiter nach hinausgelehnt, das wusste er, wäre er in dem Moment von der Mauer gezogen worden, da er ihre Hand nahm.

      Das Mädchen wagte einen neuerlichen Anstieg. Mehrmals verfehlte es ihn nur knapp, streifte seine Fingerspitzen und rutschte wieder hinunter.

      »Mach schon!« Tobias war die Lage unangenehm, in der er sich befand, doch nun da er sich zur Hilfe verpflichtet hatte, gab es kein Zurück mehr. »Du schaffst das. Streng dich an!«

      »Das tue ich doch!« Sie griff wieder ins Leere, doch als sie diesmal abrutschte, stieß die Menge jemanden genau unter sie; von den Schultern des Mannes stieß sie sich ab und bekam Tobias' Hand endlich zu fassen. Er zog so fest, wie er konnte, und spannte die Armmuskeln an, wobei er ihr Gewicht zu übereifrig ausgleichen wollte und beinahe auf der anderen Seite nach unten gestürzt wäre.

      »Danke«, keuchte das Mädchen, als es neben ihm auf der Mauer saß. »Ich heiße Tammy.«

      »Tobias. Sehen wir zu, dass wir von hier verschwinden, sonst stößt uns noch jemand herunter.«

      »Gute Idee.« Das Mädchen ließ sich unbeschwert auf den Gehsteig hinunter, landete auf den Füßen und trat auch nicht in die Lache von Tobias' Erbrochenem.

      Er schlang seine Arme um die Kameratasche und tat es ihr gleich, weniger elegant, doch zumindest ebenfalls ohne seine eigene Kotze zu treffen. Er kam unglücklich auf und kippte seitwärts aufs Pflaster. Dabei schürfte er sich den Arm auf, was zwar brannte, aber keine ernste Verletzung darstellte. Tammy half ihm auf die Beine.

      Tobias nahm ihre Hand, um sie über die verstopfte Straße zu ziehen. Er wollte sich nicht in der Nähe der Mauer aufhalten und Gefahr laufen, dass ihnen jemand auf die Köpfe sprang. Schließlich blieben sie am Angestellteneingang eines Restaurants stehen, um sich nach all dem Durcheinander zu beruhigen und zu orientieren. Dort waren sie relativ sicher, da die Masse weiter über die Straße strömte.

      »Bist du allein hier?«, fragte Tobias Tammy, während er den Kopf aus der Gasse streckte, um ein Straßenschild auszumachen.

      »Ich kam mit Bekannten her. Ashley, meine beste Freundin – ihre Eltern haben bei irgendeinem Radiosender Karten gewonnen und uns vorgeschlagen, mit ihnen zu kommen. Als das Geschrei und Gerenne losging, wurden wir voneinander getrennt. Was ist da los?«

      »Ich habe keinen blassen Schimmer.« Tobias zog den Kopf wieder ein und versuchte, sich einen Stadtplan vor Augen zu rufen. Sein Orientierungssinn ließ leider zu wünschen übrig, und er kannte nur den Weg zwischen seiner Arbeit und seinem Apartment, beides Orte am anderen Ende der Stadt. »Wüsstest du, wohin du dich hier wenden könntest?«

      »Ashleys Mom sollte uns nach Hause bringen.« Tammy begann, an einer der drei Ketten zu nesteln, die sie um den Hals trug. Ihre Finger sahen fürchterlich aus.

      »Habt ihr einen Treffpunkt ausgemacht für den Fall, dass ihr euch aus den Augen verlieren würdet?«

      »Ja.« Tammy zeigte mit ihren blutigen Fingern zurück zum Park. »An einem der Verkaufsstände.«

      »Nun ja, diese Möglichkeit scheidet schon einmal aus.« Tobias schaute noch einmal kurz in beide Richtungen. »Pass auf, ich rufe einen Polizeibeamten her, der uns helfen wird, okay?«

      »Was?