SURVIVAL INSTINCT. Kristal Stittle. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Kristal Stittle
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958350250
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      Während sich Tobias an sein Revers heftete, redete er auf ihn ein, zurückzubleiben. »Das sind wahrscheinlich schon andere, die mitfilmen. Sie können doch später aus dem Off kommentieren oder so.«

      »Lucas Jonas kommentiert nicht aus dem Off: Entweder bin ich hautnah dabei, oder nichts läuft.« Er wand sich gerade an einem besonders großen Haufen Kabel und Gerätschaften vorbei. Mit der Kamera auf dem Arm konnte sich Tobias nur schwerlich bewegen, weshalb es nicht lange dauerte, bis er zurückfiel.

      »Scheiße«, fluchte er bei sich, als er sich in einem Kabel verhedderte. Ärsche wie Lucas mit seinem überzogenen Ehrgeiz steckten ihre Nasen ständig in Sachen, die sie nichts angingen. Endlich gelangte Tobias an die Sicherheitsabsperrung und wandte sich an Bruce, der nicht schwer zu finden war. Er zählte nicht nur zu den wenigen Männern in Tobias' Bekanntenkreis, die ihn überragten, sondern war auch zwei- bis dreimal so breit wie er. Heute fiel er besonders stark auf, weil er ein weißes T-Shirt trug, das sich deutlich von seiner dunklen Haut abhob.

      »Hey, hast du die Nervensäge gesehen, mit der ich vorhin hergekommen bin?« Tobias zog seinen Kopfhörer aus. Zum Glück dröhnte die Livemusik hier nicht so laut, sodass sie einander verstanden, auch wenn der unvermittelte Lärm auf Tobias hereinbrach wie ein Erdbeben. Er hasste Konzerte zutiefst.

      »Ja, der Typ ist in diese Richtung gelaufen.« Bruce zeigte in die Menge.

      »Ich glaube, im Publikum geht etwas vor sich – etwas Ungutes.« Tobias wollte sich nicht wieder hinaus in die Meute schlagen.

      »Unter den Zuschauern?« Der stämmige Sicherheitsbeamte wartete nicht auf eine Antwort: Er kletterte auf eine Zementbarriere und hielt sich am Rahmen eines Zaunelements fest, um sein Gleichgewicht zu halten. Nach einem kurzen Blick wandte er sich an einen Kollegen: »Hey, Jake, gib mir das Fernglas.«

      Der andere Wachmann, der genauso kräftig, aber kleiner war, nahm einen Feldstecher von einem Tisch und reichte ihn Bruce nach oben.

      »Was siehst du?« Tobias stand auf Zehenspitzen da, konnte aber nicht weit über die Köpfe der Menge schauen.

      »Gib mir einen Augenblick Zeit.« Bruce drehte an den Einstellrädern, um einen klaren Blick fassen zu können. »Scheiße, Blut. Das sieht übel aus.« Er zog sein Funkgerät vom Gürtel und sprach rasch hinein. Wegen der Musik bekam Tobias nicht mit, was er sagte.

      »Ich nehme an, dein Freund läuft dorthin, weil er sich eine Story erhofft, richtig?« Nachdem Bruce das Gerät wieder an seinen Gürtel geklemmt hatte, hüpfte er neben Tobias hinunter. Der nickte, obwohl er Mr. Jonas niemals als Freund bezeichnet hätte, nicht einmal ironisch gemeint.

      »Komm mit, du wirst mir dabei helfen, diesen Idioten einzufangen.« Bruce zwängte sich durch die Lücke zwischen den Zaunelementen.

      »Aber …« Tobias wollte sich auf gar keinen Fall unter die Masse mischen. Jetzt sträubte er sich sogar noch vehementer davor als sonst, denn sein Bauchgefühl vermittelte ihm ganz deutlich, dass dies eine schlechte Idee war.

      »Bleib dicht bei mir.« Bruce streckte einen Arm nach hinten aus und zog Tobias mit.

      Als sie den Rand der Menge erreichten, ließ Bruce Tobias los, der ihm alsdann widerwillig folgte. Hinter dem großen Sicherheitsmann herzulaufen, war deutlich einfacher, als er es bei Lucas empfunden hatte; Bruce' imposante Gestalt und autoritäre Stimme sorgten dafür, dass die Menschen schnell Platz machten, und seine wuchtigen Schultern bahnten einen Weg für Tobias, der breit genug war, um die Kamera zu tragen. Dennoch wurde Tobias immer unwohler, je weiter sie in den Mob vordrangen.

      Als er noch sehr jung gewesen war, hatte er einmal in einem Vergnügungspark seine Eltern verloren. Stundenlang war er völlig allein im Menschenauflauf herumgeirrt. Alles, was er hatte sehen können, war ein merkwürdiger Wald von Beinen, egal wohin er ging. Schlussendlich war er jemandem aufgefallen, der ihn dann zum Fundbüro gebracht hatte, damit er von seinen in Tränen aufgelösten Eltern abgeholt werden konnte. Er vermutete mittlerweile, dass sein Widerstreben, was Menschenmassen anging, in diesem Erlebnis seinen Ursprung hatte. In solchen Situationen verspürte er stets Unruhe, obwohl er gelernt hatte, damit umzugehen.

      Im Augenblick jedoch und in dieser Menge pochte sein Herz heftiger als das Riff des Bassisten der Band auf der Bühne. Er blickte fortwährend zum klaren, blauen Himmel auf, was ihn normalerweise unter Garantie beschwichtigt hätte – leider aber nicht in dieser Meute. Irgendetwas stimmte einfach nicht … etwas, das er nicht benennen konnte.

      Er nahm wahr, dass Bruce nunmehr lauter brüllte, während sie deutlich langsamer vorankamen. Die Menschen ringsum strebten ausnahmslos in die entgegengesetzte Richtung. Zu Anfang, als sie sich unters Publikum gemischt hatten, waren die Besucher weitgehend ruhig gewesen, wenn auch leicht genervt, doch die Gesichtsausdrücke änderten sich, je weiter Bruce und Tobias vorstießen.

      Dann blieb der Wachmann endgültig stehen, sodass er den Ansturm vor sich teilte. Die Zuschauer strömten an ihm vorbei wie ein Fluss um einen Felsen. Die Mienen wandelten sich rasch von leicht beunruhigt zu ängstlich und letztlich geradezu entsetzt. Als Tobias die ersten Blutenden sah, wurde ihm bewusst, dass er auf Bruce ununterbrochen einredete.

      »Bitte, Bruce, wir müssen gehen, wir müssen von hier fort. Komm schon, Bruce, verschwinden wir, lass uns zur Bühne zurückkehren.« Er packte das Hemd des Wachmannes fester und zerrte daran wie ein Kleinkind, das an der Hand oder dem Hosenbein seines Vaters zog.

      Plötzlich brach die Musik ab, sodass man Schreie vernahm. Anscheinend hatte jemand unter den Verantwortlichen realisiert, dass etwas nicht in Ordnung war.

      Der Andrang der Menschenmenge ließ ein wenig nach.

      »Um Gottes willen«, murmelte Bruce gerade so laut, dass Tobias es mitbekam.

      Er trat vorsichtig hinter Bruce zur Seite, nun da Platz war. Vor ihm hatte sich ein freies Rund gebildet, und mittendrin zwischen fallengelassenem Müll lagen Menschen: verwundet, blutend und vor Schmerz zuckend. Ein paar sahen aus, als seien sie entweder bewusstlos oder gar tot. Einer war auf jeden Fall nicht mehr am Leben; ein Regenschirm steckte zwischen seinen Rippen. Tobias musste unweigerlich daran denken, wie seltsam es war, auf diese Art den Löffel abzugeben: Tod durch Schirm.

      Auf der anderen Seite des Platzes rangen mehrere Sicherheitsbeamte und eine Handvoll Polizisten mit einem Mann, der überhaupt nicht auf ihr Geschrei und die gelegentlichen Schläge einging, die sie ihm versetzten. Tobias und Bruce sahen mit Grauen dabei zu, wie der Widerspenstige einen beträchtlichen Fetzen Fleisch aus dem nackten Arm eines Wächters biss.

      Langsam führte Tobias die Kamera an sein Auge. Durch den Sucher zu blicken, enthob ihn der Szene, als spiele sie sich bereits im Fernsehen ab. Ein Polizeibeamter zückte eine Elektroschockwaffe und schoss damit auf den rasenden Kerl. Dieser zuckte etwas, gab aber nicht nach. Der Stromschlag bewirkte praktisch nichts. Der Mann schnappte sich den Polizisten mit der Waffe, biss ihm aber nicht in den Arm, sondern hatte es auf sein Gesicht abgesehen. Verdammt, er hat ihm die Kehle rausgerissen!

      Am unteren Rand von Tobias' Sichtfeld regte sich etwas. Er richtete die Kamera auf den Toten … der aber wohl doch noch lebte, sonst hätte er sich nicht bewegt. Tobias konnte es sich nicht erklären: Der Schirm trat an der Stelle hervor, wo eigentlich ein Lungenflügel hätte sein sollen, aber trotzdem setzte sich der Mann gerade hin.

      Tobias' Entsetzen nahm weiter zu, als ihm klar wurde, dass er den Mann kannte: Es war Lucas Jonas.

      Der Moderator hatte es irgendwie geschafft, sich am Boden aufzurichten und schließlich hinzustellen, wobei der Schirm aus seiner Brust ragte wie ein aberwitzig großes, grelles Ansteckröschen. Während er in einem engen Kreis schlurfte, gab er ein Röcheln von sich und wirkte dabei desorientiert. Als er Bruce und seinen Kameramann bemerkte, humpelte er in ihre Richtung.

      »Bruce …«, flüsterte Tobias, dem es beinahe die Sprache verschlug. »Bruce …« Er konnte nichts anderes sagen.

      Lucas wankte weiter auf sie zu und schleifte dabei sein Mikro, das noch an seiner Taille befestigt war, hinter sich her. Tobias hörte durch den Kopfhörer an seinem Hals, wie es über den Boden kratzte. Als Lucas die Hände