Johannas fliegende Fische. Martin Jaeger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martin Jaeger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742788078
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seinen Schritt, brummt dabei zufrieden in sich hinein. Genau hier findet der erweiterte Versuchsaufbau statt, die finale Frage, die es zu beantworten gilt. Ein Langzeitexperiment – hoffentlich.

      Arbeiten, so teilte ihm Raumer am Telefon mit, müsse er nicht viel. Halt nach dem Rechten sehen, Glühbirnen auswechseln, verstopfte Abflüsse reinigen, ein bis zweimal am Tag im Heizungskeller die Anlage überprüfen.

      Die Haltestelle «Heimat». Hier auf den Feldweg und dann noch einen knappen Kilometer auf das Bergmassiv zu bis zur letzten Biegung. Was hatte er gesagt: «Du wirst das Haus schon erkennen; ein aufgelassener Hotelbetrieb, durchaus heruntergekommen, aber nicht so sehr, dass es unangenehm auffällt.»

      Cord nähert sich einem grauweißen, verfallenen Gebäudekomplex direkt am Fuß des Berges. Früher muss das Anwesen einmal ein schmuckes Hotel gewesen sein. Nun hat es seit mindestens zehn Jahren keine frische Farbe mehr gesehen. Nur wenige, allenfalls Einheimische, werden hier gern und freiwillig wohnen, wegen der latenten Lawinengefahr – eher Steinschlag, denn die Gefahr verringert sich inzwischen durch die milden Winter. Und im Endeffekt hat die Interessengemeinschaft dieses Landhauses nicht mehr allzu viel zu befürchten. Er auch nicht. Passt schon. Max kichert.

      Über der Eingangstür hat jemand wie im Wilden Westen an zwei Ketten ein braunes Holzschild mit einer altmodischen Brandmalerei in Sütterlinschrift gehängt:

      Niemand stirbt für sich allein.

      Quietschend schaukelt das verwitterte, vom Wind zerfurchte Holzbrett hin und her. Eine Libelle fliegt auf das Hängebrett, setzt sich auf den i-Punkt von «allein». Na, dann.

      Ist das so, fragt sich Cord, sieht vor sich noch einmal Bulgakovs aufgerissene Augen, die sich tief in sein Herz eingebrannt haben, holt tief Luft. Unwillkürlich überkommt ihn erneut dieses Gefühl, immer plastischer und eingängiger, in dem er sich selbst wiedererkennt: dass dies hier seine letzte Station sein wird. Hoffentlich. Er ist müde. Und an einem Ort angekommen, den er, wie die meisten anderen hier, nurmehr in der Horizontalen verlassen wird. Wahrscheinlich. Aber noch ist nicht aller Tage Abend.

      Bevor er die drei Holzstufen erklimmt, um an der Glocke zu läuten, öffnet sich die Tür und eine adrette, junge Frau steht lächelnd im Rahmen. Ui! So viel sympathische Jugend, damit hätte er gerade hier nicht gerechnet.

      «Grüß Gott, die Kirchgasser Marlene bin ich; Sie müssen Max, der neue Hausmeister, sein. Herr Raumer hat Sie avisiert. Wie war doch gleich Ihr ganzer Name?»

      «Nennen’S mi einfach nur Max, gute Frau! Passt scho.»

      Marlene Kirchgasser tritt einen Schritt zurück und öffnet weit das Portal. Für einen Moment schließt Cord die Augen, wird sich bewusst, wo er sich befindet, spürt mit dem ersten Atemzug die heitere, glückliche Energie, – an einem Ort, der dem Sterben gewidmet ist.

      Unmöglich zu sagen, ob das, was er fühlt, ein neuer Anfang oder schon das Ende ist. In jedem Fall ist es das, was er sich immer gewünscht hat. Er erahnt die außergewöhnlichen Erfahrungen, die er hier machen wird, kann sie gelassen vorwegnehmen, freut sich, lächelt verbindlich. Marlene blickt ihn offen und interessiert an, legt den Kopf leicht schief, berührt mit den Fingern das ägyptische Henkelkreuz an ihrer Halskette.

      «Wenn Sie mögen, Max …, i hab soeben an frischen Kaffee gebrüht.»

      Aber gerne doch. Die große Küche gefällt ihm. Anschließend lässt er sich von der Hospizschwester Marlene das Anwesen zeigen. Dann stellt sie ihn den Gästen vor. Gerade an die zwanzig Leute werden hier zurzeit betreut. Gegenwärtig sind es nur Senioren.

      «Ja, mal mehr, mal weniger. Die Kinder gehen eh woanders hin», sagt Marlene, und er erkennt am Klang ihrer Stimme nicht genau, ob sie das bedauert oder nicht.

      Die meisten Patienten hier, er soll «Gäste» sagen, hat Marlene ihm eingeschärft, schlafen oder dämmern vor sich hin. Andere betrachten ihn kurz oder länger – «Hallo, Max» – vergessen ihn aber sogleich wieder, zwei finden Gefallen daran, ihn kennenzulernen, allein wegen der Abwechslung. «Kommst zu uns, magst mit uns sterbn?», fragt ihn eine Dame lachend aus ihrem Bett heraus.

      Wichtiger als die derben Scherze ist ihm die kleine, feine Hausmeisterwohnung gleich neben dem Schuppen, den sie vor Ort hochtrabend Wirtschaftstrakt nennen. Das Gästebett in dem Apartment bedeutet, dass Johanna am Wochenende hier wohnen kann. Wenn sie will. Na ja, später einmal, wenn sich der Lärm gelegt hat, vielleicht. Aber er wird ihr von dem neuen Wohnort und der interessanten Arbeit berichten.

      Irgendwann.

      Bald.

      Eventuell.

      Hospiz

      Rein äußerlich betrachtet verändert sich der Tagesablauf von Max in der Ramsau nur wenig. Nicht vor dem dritten Jahr seines Aufenthalts. Doch entwickelt er einige schwer zu durchschauende Marotten.

      Die siechenden Alten im Hospiz mögen ihn, das ist das Wichtigste. Gleich nach seiner Ankunft montiert er neue Glühlampen im gesamten Anwesen. Es wird viel gelacht. Ganz im Gegensatz zu seinem äußeren Auftreten – grauer Hausmeisterkittel, Holzschuhe, ein gelber Strohhut sommers wie winters – wirkt er auf Patienten und Pflegepersonal wie eine erlösende Lichtgestalt, ein ruhender Pol, dessen bloße Gegenwart Trost und Heiterkeit zu spenden vermag, obwohl er immer noch nicht viel spricht. Doch tun das die meisten der Kranken ebenfalls nicht, man verständigt sich eher wortlos.

      Wie immer erhebt er sich morgens um fünf von der Pritsche der kleinen Hausmeisterwohnung, bereitet mit seinem angerosteten Tauchsieder einen Pulverkaffee, betrachtet im Sommer, wenn die Dämmerung bereits aufgezogen ist, mit fragenden Augen den Gipfel des Dachsteinmassivs, wird aus der Melange von Nebelschwaden und Lichtstimmungen in Verbindung mit der Analyse seiner Ohrgeräusche und dem aufkommendem Wind Schlüsse für den Tag ziehen. Eine Art Quersummenorakel.

      Der Tag beginnt, wenn die Uhrzeiger eine senkrechte Linie bilden. Dann steht auch Max aufrecht, beginnt mit der Arbeit. Es ist genau 6 Uhr morgens.

      Über den Kiesweg marschiert er zur Eingangstür, schließt auf, weil jederzeit jemand zum Sterben kommen könnte, schaut nach dem Licht, wie es gerade heute auf das Holzschild fällt, achtet auf Libellen, nimmt einige tiefe Atemzüge, horcht auf das sanfte Quietschen der Aufhängung.

      Die wichtigen Tage, das sind immer die, wenn er nichts hört, - privater Erfahrungswert quasi. Dann schlüpft er in ein paar bereitstehende Mokassins, Strickstrümpfe mit Ledersohlen, die Marlene ihm gleich zu Beginn seines neuen Jobs überreicht.

      Auf leisen Sohlen absolviert er seine Runde, jeden Tag dieselbe. Lautlos schleicht er an den Zimmern der Hospizgäste vorbei, hält vor der einen oder anderen Tür einen Moment inne. Bisweilen geht er in eines der Sterbezimmer, setzt sich still an ein Bett, ergreift für eine Viertelstunde schlafende Hände, tritt in einen stummen Dialog. Doch kann es auch anders kommen:

      Als Erstes, wenn er ein Krankenzimmer betritt, schaut er, ob die Todgeweihte schlafen oder wachen, ihn gar erwarten. Möglich, dass Max ein kurzes Schwätzchen hält und sofort weiterzieht. Doch können sich auch andere, eigentümlichere Situationen einstellen, vor allem, wenn der Patient nicht bei Bewusstsein ist, halb im Koma seiner Transition entgegen dämmert.

      Ein-, zweimal beobachtet Marlene Kirchgasser ihn heimlich vom Garten aus hinter dem Haus, wo sie in aller Herrgottsfrühe barfüßig meditierend durch den Tau läuft. Eigenartig, welcher Dinge sie da bei einem scheuen Blick durch die Fensterscheibe gewahr wird:

      Wie auf Samtpfoten schleicht Max in dem ungewohnten Schuhwerk an das Bett, wo einer der Gäste, halb bewusstlos oder komatös, sein Ende erwartet. Eine halbe Stunde später würde sie selbst nach ihm sehen, aber Max ist an manchen Tagen einfach schneller. Ein Verhalten gleicher Art wird sie in Folge noch einige Male bei ihm beobachten:

      Zu Beginn steht er nur in der Tür, verengt seine Augen zu Schlitzen, macht den Blick diffus und weit, als wolle er sich nicht durch eine falsche Fokussierung von Äußerlichkeiten ablenken lassen. Dann atmet er tief ein, öffnet Hände und Arme, den Raum umarmend, nimmt die Atmosphäre und die vorhandene Energie ganz in sich auf. Für gewöhnlich kennt er