Johannas fliegende Fische. Martin Jaeger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martin Jaeger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742788078
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Max stürzt zu Boden, fällt auf den Rücken. Sein Herz bleibt sofort stehen, ein Lächeln umspielt seine Lippen.

      Wie man einen Mantel ablegt, schlüpft sein Geist mitsamt den Resten an Vitalstoffen plasmatisch aus dem leblos auf der Erde liegenden Körper. Das Geschehen unter ihm zurücklassend, fliegt Cord van Galten über den Dachstein, wird schnell seiner neuen Heimat gewahr, entscheidet sich für den Augenblick gegen die Reise zu den Sternen. Zuerst will er noch nach dem Rechten sehen, bewegt den Astralleib zurück an die Zimmerdecke des Heizungskellers und verfolgt, was geschieht.

      Welch eine Wohltat, der Tinnitus ist weg! Allein jeder Gedanke erzeugt Bewegung. Für die Folgen der eigenen Untaten in Vergangenheit und Zukunft gilt es, einzustehen. Jetzt. Kein Problem.

      In einem letzten Moment, den er noch eines gefühlten Impulses fähig ist, kurz bevor er dem Leben auf der Erde vollständig entgleitet, freut er sich, bald Mareike und den Meister wiederzusehen. Einstweilen muss er sie jedoch noch um etwas Geduld bitten. Er hat zu tun, fühlt sich wach, ohne Alter, frisch, lebendig und vor allem völlig schmerzfrei. Dabei höchst geschmeidig.

      Scheck geht auf sein Opfer zu, zieht mit einem hastigen Griff das Halstuch von der Leiche, hebt die Augenklappe an und starrt irritiert in zwei tote Augen, die ihn freudig anstrahlen. Zielobjekt unbekannt.

      Dann leuchtet er mit einer Taschenlampe in die Ecken, findet den Generator und einen zweiten Sicherungskasten, den er mit einem Knopfdruck deaktiviert. Den Rest besorgt der Seitenschneider.

      Zufrieden ergreift er die Box unter einem Beistelltisch, bestaunt kurz ihre Handlichkeit, steigt vorsichtig über den grinsenden Leichnam auf der Erde, ihm sein Gebiss entgegenstreckt.

      Wer war das? Woher nur kannte ihn der Alte? Was faselte er da von seinem Chef? Diesen Greis hat er noch nie gesehen. Nun ist es zu spät, Fragen zu stellen. An der Tür entdeckt er ein Schild mit einer handschriftlichen Angabe:

      «Max, Hausmeister.»

      Scheck schaltet schulterzuckend den Elektro-Taser aus, tigert mit dem Stromgenerator unter dem Arm zu seiner Limousine und macht sich entlang des Kieswegs aus dem Staub.

      An sein letztes Opfer verschwendet er keinen weiteren Gedanken mehr.

      Ascher

      Nachdem sie ihn in Berlin abgesetzt hatten, sprang er daheim zuerst unter die Dusche. An Schlaf war nicht zu denken. Den Abend über und die halbe Nacht legte er sich die Karten.

      Immer wieder ergriff er die 52 Blatt, mischte nach den Regeln der Kunst, nutzte das eingeübte Repertoire an Fertigkeiten, um das Spiel zu bezwingen. Dabei nahm er all jene Erfinder in den Blick, die er im Laufe der Jahre für die Corporation aufgetrieben hatte, – seitdem er für die Firma arbeitete.

      Dieser Tage erfand er neben den bekannten Griffen und Handhabungen, entnommen der einschlägigen Literatur und heimlich aus dem Netz heruntergeladenen Lehrvideos – Raubkopien allemal – neue Techniken hinzu. Vor allem die amerikanischen Feinheiten der Handhabung der Spielkarten repetierte er, über die er ausreichend Erfahrungen gesammelt hatte und ahnte, dass sie am meisten Befriedigung schenkten, wenn er sie nur für sich allein übte. Schönheit sei sich selbst genug. Obwohl er niemals um Geld spielen würde, bedeuteten ihm die Partituren der Kartenmagie viel: Riffle Shuffle, Overhand Shuffle, Faro Shuffle; zwei Dutzend Runden ging er die Tour der Ziergriffe und Mischtechniken durch, fantasierte dabei, er stünde auf einer Bühne, arbeitete Stress ab.

      Kaum ein Fehler unterlief ihm in der heutigen Abendsession, Konzentration erfreute das Herz; mit der bloßen Annäherung an Perfektion gab er sich heute aufgrund der außergewöhnlichen Umstände zufrieden. Alles lief glatt und fehlerlos, nichts fiel auf den Boden. Spielkarten, wie die Eingeweihten wussten, berührten genauso ungern die Erde wie Münzen. Dafür verursachten sie keinen Lärm.

      Die Nacht würde sich hinziehen, es war ratsam, eine Kerze anzuzünden. Nicht, dass er sich von der Sitzung etwas Spektakuläres versprochen hätte; doch Disziplin und Kontrolle, gepaart mit Freude, musste, konnte und sollte sein – immer. Warum nicht an diesem lauschigen Berliner Frühlingsabend?

      Indes war die Situation durchaus prekär. Loslassen, Ascher, immer nur loslassen, sprach seine innere Stimme zu ihm. Zur Bekräftigung der Aufforderung nahm er die Brille ab.

      Die Übungen mit den Karten bedeuteten mehr als bloße Routine. Man hätte es mühelos auch spirituelles Exerzitium, eine rituelle Ehrerbietung an die feinmotorischen Fähigkeiten der Hände nennen können, die zu jeder Zeit in der Lage sein sollten, die Sinne eines Laien zu betören, zu verwirren, zu überraschen, aus reiner Lebensfreude heraus ursprüngliches Staunen und authentische Gefühle zu erzwingen. Doch die Heiterkeit fehlte heute. Warum?

      Was ihn antrieb, war eher der Tagesroutine eines Artisten, der Erhaltung eines Standards geschuldet, als der Freude an der Arbeit.

      Das Kartenspiel, das er benutzte, war unberührt gewesen. Neu. Eingepackt und versiegelt hatte es vor ihm auf der Matte gelegen. Zur Feier des Tages hatte er es gebrochen, wie die Spieler sagen, wenn sie ein frisches Deck öffnen.

      Es hatte etwas von der Zärtlichkeit einer Entjungferung. Mit jedem neuen Spiel entsponn sich ein weiterer Aspekt der Wirklichkeit, der anders war, in eine neue Richtung wies. Nur welche?

      Volle zehn Minuten und einen gehörigen Kraftaufwand seiner dünnen, alternden Finger hatte es gekostet, die Karten handzahm und geschmeidig zu walken. Nach und nach erwärmten sich die kalten Hände an der glatten Kartonage des amerikanischen Pokerblattes. Er visualisierte einen Jockey beim Rodeo, als er das Siegel brach, die Verpackung mit dem Phönixvogel aufriss, um Klang, Geruch und Griffigkeit der Karten zu überprüfen. Allein das Aroma der Imprägnierung verband ihn mit der illustren Welt einer unbekannten Intelligenz, so eindringlich wie inspirierend– ein Science-Fiction-Roman. Künstliche Duftstoffe in gemäßigten Dosen besaßen tatsächlich auch ihren Reiz. Spielkarten waren vielleicht das wirkliche Leben. 52 Blatt, jede Woche ein anderes Bild.

      Bevor er sich sammelte, flog noch ein Gedanke von ihm fort, wanderte vital wie eine Brieftaube hinüber nach Japan, sah bunte Fische vor sich, mit dem Bauch nach oben in einem unrettbar zerstörten Teich schwimmen.

      Hoppla, welch dunkle Fantasie!

      Koi, koi, koi.

      Pass auf, dachte er bei sich, du bist verantwortlich dafür, wo du hinschaust.

      Auffallend häufig erschien hier und heute die Kreuz Dame und schwarze Karten wechselten auf eine chaotisch rhythmische Weise mit rote. War dies dem Farbauftrag der Druckerei geschuldet, der eigens für dieses Deck entwickelten Methode, mit der die Fabrik das Rot angemischt hatte, um es absichtsvoll blutfarben aufzutragen? Oder beruhten alle Empfindungen nur auf seiner überreizten, ermüdeten Wahrnehmung? Jetlag? Wer oder was definierte, wie er heute Farben zu sehen hatte?

      Fünf schwarze und fünf rote ineinander vermischte Karten sortierten sich immer wieder mühelos zurück, trennten sich wie Öl und Wasser. Er vermochte nicht zu sagen, wie viel Anteil er als Zauberkünstler daran hatte, oder ob Glück, Schicksal oder etwas völlig anderes über den Ausgang seines privaten Orakels entschieden. Eventuell griff er unbewusst ein, um mit unsichtbaren Handgriffen und Korrekturen dem Zufall auf die Sprünge zu helfen. Wer konnte sich schon trauen? Um Kontrolle ging es mitnichten, eher um eine Herausforderung, eine Begegnung mit ungewissem Ausgang, einer venusischen Herausforderung des Schicksals. Besser hier als im Kasino, wo einem ständig Überwachungskameras auf die Finger sahen.

      Diverse harmonische Anordnungen fielen automatisch, doch bei mehr als drei Karten stand er unmittelbar im Dunkeln, hatte keine Ahnung, wie die Bilder entstanden. Warum nicht gleich konsequent ohne Licht studieren, das Geschick vollständig herausfordern – und sich selbst gleich mit?

      Er löschte die Kerze, saß nun im Stockfinsteren, in seinem würfelförmigen Appartement. Die Nacht war gekommen.

      Vor ihm auf dem Tisch mit der sterilen Matte als Unterlage lag das Spiel. Er mischte richtig, mischte falsch, wollte ein magisches Exempel an sich selbst statuieren, während er vier Karten aus der Mitte des Päckchens zog. Nur vier, das musste reichen für ein elementares Orakel. Er schnupperte in der Finsternis