Johannas fliegende Fische. Martin Jaeger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martin Jaeger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742788078
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sie beide zusammen zu stecken, denn nur in erfolgreicher Kooperation bestand eine realistische Chance, die komplexen Entwürfe des aus Osteuropa eingewanderten Erfinders auf die Füße zu stellen: Bulgakov in der Theorie, van Galten in der Praxis.

      Vorbei. Hör auf mit der Nostalgie, Cord, spricht es mit ihm. Und wer ist überhaupt Cord? Ab heute heißt du Max.

      Krachend schaltet der Fahrer die Gänge herunter.

      Der Vergaser muss neu eingestellt werden. Auch die Bremsbacken von den Ratschenbremsen knirschen verbraucht und könnten gut ein paar frische Beläge gebrauchen. Irgendwann benötigen sie neue Busse in der Ramsau, wenn das mit dem Tourismus etwas werden soll.

      «Halt den Mund, Max, dich geht das nichts mehr an. Gar nichts. Kümmere dich um deine eigenen Sachen.»

      Eine alte Frau mit Kopftuch humpelt durch den Bus, hangelt sich mit beiden Armen an den Sitzen vorwärts ziehend auf ihn zu, platziert sich neben ihn, stellt ihre Einkaufstasche ungefragt zwischen seine Beine, blickt ihn an wie einen Bekannten, erwartet keine Antwort oder Reaktion seinerseits.

      Bulgakov war bekannt wie ein bunter Hund. Nicht, dass er sich eitel exhibitionieren wollte, - Grund hätte er gehabt - aber genau dies schien der sicherste Weg zu sein: Je mehr alle wussten von den immer vorhandenen, doch ungenutzten Energien des Äthers, desto besser. So lautete die vollmundige Devise des Querkopfes. Das war der Plan. So hatte Bulgakov in liebreizend österreichischem Dialekt mit Akzent begonnen, Interviews zu geben, sich der Presse und anderen Forschern gegenüber zu öffnen. Cord hatte es aus dem Hintergrund heraus unterstützt. Gekonnt hielt er sich selbst dabei im Hintergrund – feige, wie er war.

      Er streift den Hut vom Gesicht. Ein stöhnendes Seufzen entweicht ihm und die Bauersfrau neben ihm zieht ein Augenlid hoch, schaut ihn mit einem fragenden Gesichtsausdruck an. Er linst kurz zurück, nickt, winkt dann ab. Der Omnibus nimmt eine Kurve. Es ist gleichzeitig sonnig und kalt heute Morgen. Heiß oder kalt?

      Ein murmelndes Raunen der Touristen geht durch den Bus, als das Dachsteinmassiv in das Blickfeld rückt. Majestätisch und nebelverhüllt wie eine Diva schweben weißliche Schwaden vor dem Gipfel, einer verschleierten Königin gleich, die sich erst zeigen wird, wenn es an der Zeit ist. Bisweilen treibt der Wind Nebelschwaden so dicht zueinander, dass das Bergmassiv völlig verschwindet und die kleinen Häuser mit den Bataillonen an Geranien auf den Balkons nurmehr vor einer milchig weißen Wand existieren. Und jetzt werd ich zum Berg», denkt sich das Gehirn von Cord, der sich gerade in einen Max transformiert.

      Als Hausmeister und heimlicher Werkstattleiter hatte er es für besser gefunden, aus der Schusslinie herauszutreten. Warum nicht die eigene Bedeutung für das Institut so weit als möglich herunterfahren? Nur noch als exzentrischer, gutartiger Zausel wollte er sein Leben fristen. Ein Unikum, das tagaus, tagein in einem grauen Kittel über die Flure schlurfte, überall auftauchte, wo es ein Problem zu bewältigen, Rätsel zu lösen gab. Vorbei. Das ging fix.

      Niemand hatte dumme Fragen gestellt, als ihn der Dekan 1970 als Hausmeister engagierte, einen vermeintlichen Ausländer, einen holländischen Schlosser mit österreichischen Vorfahren und leicht Wiener Mundart. Und dann der Bart: Jeden historisch bewanderten Einheimischen gemahnte das Ungetüm sofort an den Forstrat, den «Mozart der Wasserphysik», seinen Meister.

      «Das war halt Schicksal», pflegte Cord zu sagen, wenn ihn jemand darauf ansprach. Mein Gott, Schauberger besaß einen Genius nach seinem Geschmack: Klar, eindeutig, dabei vielseitig und immer auf Mutter Natur bedacht, deren Regeln er den Tieren, Bäumen und Flüssen abschaute.

      Wenn die Leute nur begriffen, dass der Mensch den Gesetzen der Natur entsprechend und ganz ohne Verbrennung Maschinen bauen konnte, wenn er denn nur wollte. Dass es einen gewaltigen Unterschied gibt zwischen Explosion und Implosion, sie aber beide Bewegung bewirken. Dass kein Fluss verschmutzt sein muss. Dass es keinen Kunstdünger braucht, weil alles lebt. Und mit wie wenigen Mitteln die Menschheit sehr glücklich sein könnte, die Äcker das Doppelte herschenken würden und dennoch nicht auslaugten. Das war nun einmal die Erfahrung, die van Galten am eigenen Leib gemacht hatte.

      Bei den jungen Studenten aus der Nachkriegsgeneration war es nie eindeutig klar, welche «Natur» sie meinten, wenn sie von Naturwissenschaft sprachen. Mit den Radiowellen und der Atomenergie trat die Welt in ein Zeitalter, in dem die Gesetze der Natur und des Äthers anscheinend nicht mehr viel Wert besaßen. Oder sie erschienen einfach nur überflüssig, weil Geld das wichtigste war. Geld, Geld, Geld. Es war klar, er wirkte nur als Wichtelmännchen, ein Helfer, der selbst immer wieder fliehen musste: erst vor der Langeweile, dann vor dem Krieg, schließlich vor seinen Siegern.

      Vor allem Dekan Meyerhof wusste das zu würdigen. «Bei mir haben Sie eine technische Prokura», sagte er häufig, wenn er ihn sah. Was im Klartext bedeutete, dass Cord machen konnte, was er wollte.

      Als Schauberger 1958 nur eine Woche nach der Rückreise aus den Staaten unerwartet verstarb, schien es dringend angeraten, kurzfristig nach Holland zurückzukehren. Niemand hatte den Eindruck, dass das Ableben des Forstrates ein natürlicher Prozess war. Er wirkte bei seiner Rückkehr, als habe jemand alle Lebenskraft aus ihm heraus gesaugt.

      Zu lange hatte van Galten mit ihm und dessen Sohn in Bad Ischl herumgebastelt. Das Theoretisieren war ja bei weitem nicht alles, schon gar nicht van Galtens Lebenssinn. Naturgesetze entdecken, das war das eine, aber sie anzuwenden, darum ging es doch. Ab 1958 war damit fürs Erste Schluss, aus, Ende! Ab nach Holland – in den Untergrund. Zwölf Jahre schrauben, schweißen und fräsen in Rotterdam, der Meisterabschluss als Werkzeugmacher. Niemals hätte er es sich träumen lassen, dass er noch einmal in sein Heimatland zurückkehren könnte. Doch auf Meyerhof war Verlass. Zeit, man muss warten können.

      Wie hatte er sich gefreut, als ihn der Dekan zwölf Jahre später aus Graz anrief und ihm das Jobangebot unterbreitete, als «Mädchen für alles» mit seinem neuen, angeheirateten Namen im Institut für Maschinenbau zu arbeiten. Pförtner, warum nicht? Die Heimat rief.

      Mareike, das zarte, blonde Glühwürmchen aus Utrecht, schwanger mit Johanna, war ebenso neugierig wie reiselustig. Eine Luftveränderung würde ihnen beiden guttun, sagte sie. In die Berge wollte sie schon immer. Und vor allem sehnte sie sich danach, das Land kennenlernen, in dem ihr Mann geboren war. So kehrte er heim, dieses Mal offiziell und mit Gattin, nach Graz, um als Faktotum des Polytechnikums zu wirken. Nur eines war essentiell: In Absprache mit den engsten Vorgesetzten war es völlig unmöglich, über die wahren Ereignisse der Vergangenheit sowie seine realen, gegenwärtigen Tätigkeiten irgendjemandem Auskunft zu erteilen. Über genau den Teil seiner Existenz, alles, worauf andere stolz gewesen wären, darüber hatte er Verschwiegenheit zu bewahren. Schließlich hatte man aus dem Krieg gelernt. Das Risiko war zu groß, die Wissenschaft eventuell fröhlich, doch auf keinen Fall frei.

      Es war van Galtens langer, roter Bart, tatsächlich noch prächtiger als der Altersbart des Meisters selbst, aber in derselben Art gewachsen und gepflegt, der alle von den Älteren in stillschweigendem Einverständnis an die Optionen und Vorsichtsmaßnahmen für eine sichere Zukunft gemahnte.

      In die Hand musste er dem Dekan geloben, niemals über die Vergangenheit zu sprechen, schon gar nicht über die frühen 50er Jahre, in denen er mit dem Forstrat an der Pythagoras-Kepler-Schule in Bad Ischl wirkte und die Heimat bereiste, um nach dem Rechten zu sehen, an verschiedenen Orten in den Bergen zu drehen und zu schweißen. So setzte er am Tag Steine in Flüsse, ließ Kurven einziehen, wo vorher Begradigungen waren, wurstelte in der Fischzucht und an Maschinen zur Wasserlevitation – was den Zustand des Wassers zum Guten veränderte -, zumindest den Stoffwechsel der Leute beförderte, die es tranken. Die Bevölkerung mochte das. Dennoch galt es, diskret zu wirken, bereits damals. Merkwürdig: immer gab es etwas zu verbergen. Doch war es die antrainierte, in die Wiege gelegte Wortkargheit, die der gebotenen Schweigepflicht charmant die Hand reichte.

      Der Bergbewohner spricht von Natur aus nicht mehr als unbedingt notwendig, lebt verwachsen mit dem Wesen, dem Berg, den er bewohnen darf wie ein Bazillus auf der Haut. Warum sich Gedanken machen? Vor allen Dingen welche? Sind sie nicht nurmehr Auswurf eines größeren Bewusstseins, dessen Werkzeug der Mensch ist? Vom Berg lernen heißt siegen lernen. Seine atmende Stille wird dich Demut lehren und dir deine ewige Gestalt als Menschenwesen zeigen.

      So