Johannas fliegende Fische. Martin Jaeger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martin Jaeger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742788078
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einen kahlen Ast oder die Messingglocke am Hals einer braun weiß gescheckten Kuh erkennt, sich dem Geist von Stein, Baum, Wiese und Rind überlässt – inklusive ihrer Vergänglichkeit.

      Wenn der Berg es ist, der naturgemäßen Ausdruck gibt über die Beschaffenheit der Welt, muss er dann nicht dankbar sein über den undurchdringlichen Schleier aus Nebel und Dunst, den die Existenz heuer über all dies wirft?

      Mein Gott, wie sehr hat er verdrängt, dass ihn der Berg haben will, schon immer haben wollte. Erst jetzt, da die Luft immer dünner wird, spürt er, dass auch er einen Atem besitzt, ein Wesen aus Fleisch und Blut ist, das sein eigenes Wetter schon immer in sich trägt, vielleicht sogar erzeugt, er sich schon immer in Einheit mit all dem befand, ganz egal wie weit Herr Einstein und das Atomzeitalter dies relativieren wollen.

      Und was hat er für ein Glück gehabt mit diesem Kind! Das Hanneken hatte die Welt mit ihren blaugrünen, ernsten Augen und winzigen Sommersprossen betreten und das Leben einen neuen Sinn erfahren.

      Cord blickt auf die Bäuerin, die dösend neben ihm sitzt und in eine Melange aus Nickerchen und Meditation gefallen ist. Bestimmt fährt sie häufiger auf dieser Strecke. Auf eine eigene Weise gelingt es ihr, sich dem halsbrecherischen Kurvenverhalten des Fahrzeugs anzupassen, wie ein Baby mit dem Körper sanft mitzuschwingen, wenn der Wagen eine Kurve nimmt. Was Touristen eine bewusste Anstrengung kostet, erledigt sie fast im Schlaf. Van Galten entspannt sich und versucht, es ihr gleichzutun. Hinter ihm türmt sich der Hochwald auf.

      «Ohne dich ging hier gar nichts!», sagte Bulgakov eines Tages zu ihm, als er den Schweizer Ingenieur und Erfinder Raumer anschleppte, damit sein Chef sich einmal auf Augenhöhe mit einem Gleichgesinnten austauschen konnte.

      An jenen Abenden servierte Cord nur Tee, spielte Mäuschen und Diplomat, denn beide Wissenschaftler ahnten, dass sie ohne van Galtens ewig stoischer Ruhe niemals aufeinandergetroffen wären, um sich auszutauschen, ohne zu streiten. Darauf lief es meistens hinaus, wenn sich zwei Wissenschaftsböcke in die Quere kamen. Van Galten konnte nicht immer beurteilen, ob es bei den Streitigkeiten um Eitelkeiten oder tatsächlich um die Naturgesetze ging.

      Dabei freute sich über diese Meetings niemand mehr als ihr stummer Gastgeber. Unter Physikern und Ingenieuren ein harmonisches, solidarisches Einverständnis herzustellen, darin bestand die wirkliche Meisterleistung in einer Konkurrenzgesellschaft, wo keiner mehr dem anderen etwas gönnte und jeder nur auf sein Profil und die entsprechende gesellschaftliche Positionierung achtete.

      Die Begegnungen besaßen einen konspirativen Anstrich und durchaus revolutionären Charakter: Wenn die Disputanten sich auf neuartige physikalische Regeln verständigten und dabei von so vielem verabschiedeten, was die Grundlage der zeitgenössischen Physik bildete. Etwa den Gedanken, es gäbe nichts Schnelleres als die Lichtgeschwindigkeit. Man kann nicht sagen, dass die Thesen Albert Einsteins oder der Urknall bei den Treffen allzu beliebt waren. Mit Relativität hatten sie nichts am Hut. Es ging um die physikalische Praxis, man wollte nützlich sein und nicht nur Theorien aufstellen, von denen niemand etwas hatte.

      Allein die Grundprinzipien bezüglich ihrer gemeinsamen Vorstellungen vom Äther, die sich die Physiker in «Cords Caféhaus» an den Kopf warfen – einem Tisch mit drei Stühlen in der Werkstatt gleich neben der Drehbank – ließen seine innere Repulsine fliegen, diese bedeutendste Ingenieurleistung Schaubergers, an deren Rekonstruktion er mitwirken durfte. Metall will korrekt behandelt sein. Das Meisterstück Schaubergers schwebte ständig im Raum, wie das Gelöbnis, für eine bessere Welt zu arbeiten, für die ausgerechnet er zu stehen schien.

      Cord, ahem, Max: ab jetzt.

      In Wahrheit waren es wahrscheinlich der Respekt vor dem Alter und der Leistung des Seniorschlossers, der selbstlos für die Wissenschaftler einen toleranten Denkraum bereitstellte, was den Frieden zwischen den hochgebildeten Männern ermöglichte. Am Tage und in der Öffentlichkeit ließen die beiden eigenbrötlerischen Starrköpfe als Konkurrenten und notorische Streithähne kein gutes Haar aneinander, vor allem, wenn van Galten nicht in Reichweite war. Doch er wusste für viele Dinge, die unübersichtlich erschienen, einfache Lösungen. Als Moderator dieses Nachtcafés schien er unabdingbar.

      Und, ja, er war Raumer dankbar dafür, dass er ihm gleich nach dem Mord an Bulgakov eine diskrete Zufluchtsstätte angeboten hatte, zusammen mit einem Jobangebot. Wieder so eine Fügung, dass ausgerechnet ein Schweizer Ingenieur eine Zuflucht kannte – in Österreich – wo er jetzt Unterschlupf finden würde, verbunden mit einem Hausmeisterjob.

      Woher nur kommt das Gefühl, dass das Leben gerade heute mehr Sinn macht als je zuvor? Es muss mit dem Ort zusammenhängen, den er aufsucht. Schließlich geht die Reise in ein Haus, das normale Menschen in der Regel fürchten.

      Die Frau neben ihm hat ihr Schläfchen beendet und starrt ihn lange und durchdringend an. Was schaut sie so? Cord lässt sich in den Sitz zurückfallen, trennt sich von seinen Gedanken, wendet das glatzköpfige Haupt ab, blickt aus dem Fenster. Besser nicht mehr so viel Gesicht zeigen, lieber verstecken, diskret auftreten, eher verschwinden, unsichtbar werden.

      Er schließt die Augen, rekapituliert seine Situation, schaukelt mit dem Bus durch vergangene Räume. Wie ein Senior mit Blähungen lässt der Busfahrer bisweilen die Luft aus den Ratschenbremsen, um sie anschließend wieder hineinzublasen.

      «Dann wird Johanna Österreicherin?», hatte Mareike gefragt und sah ihn nur noch von hinten nicken und ins Schlafzimmer eilen, Koffer packen.

      Der süße Rotschopf war die größte Freude der späten Tage. Jeden Sonntag, wenn er das wilde, kluge Mädchen für sich hatte, fragte sie ihm Löcher in den Bauch: Warum die Banane krumm und der Himmel blau sei, weshalb die Flüsse nicht geradeaus liefen, sondern immer Kurven machten und warum die Forellen in den Bächen so hochspringen konnten. Warum, warum, warum. Und zack! Da war es gewesen, das unverdiente Glück im Alter: Die wirklichen Rätsel der Natur stellten sich von allein ein. Aus den wirklichen Fragen war die Zukunft zu bauen, denn diese enthielten bereits die Antworten und Lösungen. Es ging um dieselben Fragestellungen, die auch für ihn stets Bedeutung besaßen, Probleme, auf die er vom Meister glaubwürdige Antworten erhalten hatte. Praktisches Wissen mit der Perspektive einer schöpferischen Umsetzung zu verbreiten, war das nicht der Sinn des Lebens?

      Cord runzelt unter dem tief ins Gesicht gezogenen Hut so sehr die Stirn, dass er ihm beinahe vom Kopf rutscht.

      Die praktikablen Ergebnisse auf die essenziellen Fragen der Welt hatten den Forstrat den Kopf gekostet. Und Bulgakov aus dem Fenster gestoßen.

      Nachdem Bulgakov sich in Graz eingelebt hatte und anfing, die Öffentlichkeit in seine Arbeit einzubeziehen, hatte sich eine Journalistengruppe nach der anderen im Institut die Klinke in die Hand gegeben.

      Tatsächlich dachte er an dem tragischen Morgen vor drei Tagen, es handele sich wieder um so einen Reporter oder industriellen Interessenten. Eine ähnliche Visage, mit einer ebenso merkwürdigen Körpersprache in einem gelackten schwarzen Anzug hatte er schon einmal gesehen. Genau zwei Monate zuvor. Oder einen.

      Die Bäuerin im Sitz neben ihm entnimmt ihrer Handtasche ein würfelförmiges Plexiglasdöschen mit einem Puzzle. Es gilt, eine kleine Metallkugel in die Mitte eines Kreises zu bugsieren, der von winzigen, hügeligen Schikanen durchzogen ist.

      Cord peilt durch die Löcher des Strohhutes, verfolgt mit halbem Auge die Bemühungen seiner Sitznachbarin um die Kugel, ist mit den Gedanken ganz woanders.

      Genau jetzt fällt ihm der Name des Kerls wieder ein: Escher hieß der Bursche, ein deutscher Schlacks, der auf seine spöttische Anmerkung hin doch noch die dunkle Sonnenbrille abnahm und sie gegen eine normale Brille tauschte. Kurzsichtigkeit ist ein Handicap, jaja. Nicht für ihn. Mit dieser Krankheit kennt er sich nicht aus. Gott sei Dank.

      Drei konzentrische Ringe im Plastikgehäuse hat die kleine Stahlkugel zu überspringen, um ihr Ziel im Zentrum zu erreichen. Nicht einfach, das während der Fahrt zu bewerkstelligen. Jedes Mal, wenn der Fahrer eine Kurve nimmt, bergauf oder bergab, kabolzt die Metallkugel wie wild geworden in ihrem Gehäuse herum. Dabei kann es passieren, dass sie unwillkürlich, wie zufällig, in die Mitte fliegt, den Zweck des Geschicklichkeitsspiels wie von selbst erwirkt, an der nächsten Wegbiegung aber sofort wild heraus