Johannas fliegende Fische. Martin Jaeger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martin Jaeger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742788078
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nachtwandelndes, mondsüchtiges Gefühl in der Früh, das er so von sich gar nicht kennt. Wie ein Nachtwächter kommt er sich vor, der sich ein Nickerchen gönnt, obwohl er weiß, dass er nicht einschlafen darf. Du – sollst – nicht – schlafen! Nur nicht wegdämmern! Wie eigenartig: Im Vergleich zu anderen verdösten Momenten am Morgen ist das innere Auge heuer so leer, dass keines der bekannten Traumbilder aus der Vergangenheit sich zu ihm gesellen will. Woher rührt dieses plötzliche Vakuum?

      Aus seiner Geistesabwesenheit weckt ihn ein unterdrückter, gurgelnder Laut, gefolgt von einem stumpfen Klatschen vor dem Gebäude.

      Was war das? Van Galten rührt sich nicht, kann sich nicht bewegen, verschmilzt mit dem Grau der Portiersloge wie ein Chamäleon. Wie zur Salzsäule erstarrt, sieht er wenig später aus den Augenwinkeln heraus den Schatten des Burschen in Schwarz an ihm vorbeihuschen, dem Seitenausgang entgegen und hinaus.

      Erst als der Mann das Haus verlassen hat, erhebt er sich, jagt, so schnell wie es Holzschuhe und Wendigkeit gestatten, zum Haupteingang, schließt das Portal von innen auf. Nein, nicht so. Bitte nicht!

      Da liegt Bulgakov in verzerrter Pose vor ihm auf dem Asphalt, gleich neben seinem Fahrrad. Van Galten schaut hoch, macht das offene Fenster der Bibliothek aus, die Feuertreppe, schaut wieder hinunter auf den Chef, der ihn so sprach- wie bewegungslos aus weit aufgerissenen Augen anstarrt. Er sieht eigentümlich aus, leuchtet merkwürdig aus der Mitte heraus. So etwas hat man noch nicht gesehen, nein, das kennt er nicht. Den Chef jetzt lieber nicht anfassen. Aber er lebt noch. «Halten’S aus, Herr Professor, warten’S, i hol Hilfe!»

      So schnell wie es geht rennt er in die Portiersloge, ergreift den Telefonhörer, verständigt die Notfallambulanz. Dann läuft er zurück, beugt sich zu dem halb an-, halb abwesenden Mann herunter, der immer noch mit starren Augen durch ihn hindurch blickt, die Pupillen hin und her bewegt, als wolle er den Kopf schütteln, ihm etwas mitteilen.

      «Nicht bewegen, Professor, nicht bewegen, denken’S an ihr Rückgrat, glei kommt die Rettung, i hab telefoniert.»

      Er wagt nicht, den Kopf des Verletzten in die Hände zu nehmen, ihn überhaupt nur zu berühren. Bestimmt ist die Wirbelsäule gebrochen. Er sieht es genau, kann es nicht, will es nicht fassen: Hier stirbt gerade sein zweiter Chef eines unnatürlichen Todes, gute vierzig Jahre nach dem Ersten. Ein Weiterer, dem er helfen wollte, die Physik zu revolutionieren.

      Noch während er auf den sterbenden Institutsleiter blickt, dessen hin und her zuckende Augen ihm sprachlos eine Nachricht mitteilen möchten, wird ihm von einem Moment zum anderen auch sein eigenes Scheitern bewusst. Augenblicklich ist auch ihm nach sterben zumute. Immer müssen die Falschen gehen.

      Da kommt die Ambulanz. Leise und ohne Blaulicht. Warum nicht? Ist es zu früh für den Lärm? Zwei Sanitäter schieben den Professor auf einer Bahre in den Wagen, sagen, sie haben die Polizei verständigt. Und ob er etwas gesehen habe. Nein, hat er nicht, auf gar keinen Fall.

      Van Galten und sein Chef schenken sich einen letzten, ernsten Blick. Stumm winkt Cord dem sich schnell entfernenden Rettungswagen ein «Adieu» hinterher. Er ist sich gewiss: Das war es.

      In Holzschuhen und dem schäbigen Hausmeisterkittel schlurft er 300 Meter bis zu seiner Wohnung, schließt auf, setzt sich in der Küche an den Tisch, weint tonlos und mit offenen Augen. Tränen wandern die langen rötlich-grauen Barthaare hinunter, versickern in dem roten Bart, bis sie auf den schwarz-weiß gekachelten Küchenboden fallen.

      Mit tränenverhangenem Blick schaut van Galten auf den Küchenschrank, wo ein Foto von der noch jungen Johanna am Schrank klebt. Der verblichene Fotoabzug symbolisiert alles, was geblieben ist von dem, was sich einmal eine Familie nannte. Sie ist noch so zart auf dem Bild und macht Übungen bei den Fischen. Laut spricht er zu dem verwaschenen Bild:

      «Johanna, du liebe, meine Arbeit am Institut ist beendet, ich kann und ich will nicht mehr. Ich habe Angst, muss ich dir gestehen. Ich fürchte, ich werde ganz schnell die Stadt verlassen. Du sollst bei mir und auch hier im Haus immer einen Platz haben, mein Engel.» Vielleicht wird sie ihn verstehen. Aber er darf nicht mehr sagen. Niemandem. Immer noch nicht.

      Mit sturem Blick starrt Cord auf die Tischdecke und die Brotkrumen, die vom Frühstück geblieben sind. «Zwei Stunden später und schon hat sich die Welt verändert», flüstert er den Krümeln zu, bevor er sie vom Tisch fegt. Von einem Haken an der Wand ergreift er Mareikes Schürze, die seit einem Vierteljahrhundert dort hängt, schnaubt mehrfach in sie hinein, putzt sich gründlich die Nase.

      Dann wendet er sich ab, zuckt mit den Schultern, zieht eine abgewetzte, lederne Reisetasche aus dem Schrank, fährt sich nervös mit den Fingernägeln durch den zerzausten, tränenfeuchten Bart. Ein letztes Mal spricht er das Bild an:

      «Ich muss dringend zum Friseur. Ich fahre in zwei Tagen. Wohin, wird sich weisen! Du wirst es erfahren, irgendwann.»

      Nur ist sicher: Die Grazer Universität wird er nie wieder betreten.

      Ramsau

      Ein Überlandbus kämpft sich am Vormittag die Serpentinen bergan. Zweieinhalb Stunden dauert die Reise von Graz Richtung Nordwesten bis in das Gebiet des majestätischen Dachsteins, dem höchsten Gipfel der Steiermark. Je nach Saison ist der Omnibus mit Alteingesessenen oder Urlaubsreisenden besetzt, die einen Ausflug auf den Berg unternehmen wollen, der auf der Spitze in knapp 3000m Höhe selbst im Sommer Schnee verheißt. Feriengäste suchen gern die Nähe des imposanten Berges. Doch nicht jeder, der ihn sucht, findet ihn auch sofort, denn er hat bisweilen die Angewohnheit, sich dem Auge des Betrachters durch einen milchigen Nebelschleier zu entziehen, als ob er gerade nicht zugegen wäre.

      Vorn im Bus hocken Touristengruppen; Deutsche, Amerikaner und Japaner, die sich ungewöhnlich manierlich benehmen. Sie unterhalten sich gedämpft, versuchen mit geringem Geschick, wie bei einem Fahrgeschäft auf dem Jahrmarkt, ihre Körper den schlingernden Bewegungen des Transporters anzugleichen. Der Fahrer befährt Steigungen und Senken, breite wie schmale Straßen, mit derselben Gelassenheit, pumpt geschickt auf der ächzenden Kupplung herum, die sich immer nur in den Abfahrten ihrer Blähungen entledigen kann. Die neue Generation von Bussen wird bald kommen, freut sich der Fahrzeugführer, um sogleich wieder schnarrend die Ratschenbremsen zu betätigen, die einer besonderen Aufmerksamkeit bedürfen. Insbesondere in scharfen Kurven purzeln die Fahrgäste durcheinander wie die Kegel.

      Heute hat sich ein Einheimischer zwischen die Touristen gemischt. Ganz hinten links in der vorletzten Reihe am Fenster sitzt, mehr, liegt ein alter Mann in seinem Sitz. Den gelben Strohhut auf dem Gesicht, scheint er zu schlafen. Auf der frisch rasierten Glatze kehren gerade die ersten rot-weißen Stoppeln zurück. Früher, so viel kann man an der käsig bis babyroten Gesichtsfarbe erkennen, muss er einen Bart getragen haben. Dort, wo er jetzt hinreist, möchte er einen ordentlichen Eindruck abgeben, korrekt, zivilisiert und vor allem anonym. Verborgen unter dem Sommerhut sucht er zwischen den Lücken des Flechtwerks den Berg, den jeder Eingeborene aus der steirischen Nationalhymne kennt und liebt. … Hoch vom Dachstein, wo der Aar noch haust. Lang nicht mehr gesehen, den Aar, den Adler. Warum nur beschleicht den stummen Alten immer wieder das Gefühl, es handele sich um eine Reise ohne Wiederkehr?

      Passagiere steigen in den Bus. Routiniert wendet der alternde Handwerker den Kopf aus der Sichtlinie, zieht den Strohhut tief ins Gesicht, lässt sich weiter in den Sitz sinken, wirkt selbst wie ein lebendes Stück Transportgut.

      War die Nachricht, die er Dekan Meyerhof auf dem Anrufbeantworter hinterließ, vielleicht zu lakonisch? Was sollte er denn sagen zum Tod eines Vorgesetzten, der unter den Kollegen und in der Öffentlichkeit so selbstverständlich wie voreilig als Selbstmord gehandelt wurde, obwohl er es wirklich besser wusste? Nein, er hatte der Polizei nichts von dem Mann in Schwarz erzählt, weil niemand ihm geglaubt hätte, überließ das Gerede lieber anderen. Er hatte stattdessen nur monoton wiederholt, er habe hinten im Hof gesessen, bis er Bulgakov hatte fallen hören. So war es ja auch.

      Doch er kannte seinen Chef. Sechzehn Lenze lang hatten sie Schulter an Schulter gearbeitet: Bulgakov war die beste Investition des Instituts in die Zukunft gewesen, die man Ende der 60er Jahre machen konnte.

      Erst zehn Jahre später, da war er auch schon alt und Hanneken