Johannas fliegende Fische. Martin Jaeger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martin Jaeger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742788078
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Augen durch das Astwerk.

      Sie verließ ihn, gleich nach der Maturafeier, am letzten Schultag, nachdem sie ihm mit einem triumphierenden Blick ihr brillantes Zeugnis überreicht hatte.

      Gerade kam sie vom Laufen, zwei Stunden nach der Abschlussfeier in der Schule. Wie sie halt ist, hatte sie es sich nicht nehmen lassen, auch nach einem solch einmaligen Ereignis mit dem Rad in den Wald zu fahren, um sich 25 Kilometer lang laufend auszutoben. Soeben ein Ziel erreicht und schon das neue im Visier. Ein Marathonlauf sollte es werden, sagte sie und trainierte, wann immer sie Zeit dafür aufbringen konnte.

      Zur Feier des Tages hatte er einen Obstsalat gemacht. Mit noch nassem Kopf vom Duschen setzte sie sich zu ihm an den Mittagstisch. Die roten Haare streng nach hinten gekämmt, traten ihre Sommersprossen heftig hervor, Pigmente wie bei ihm früher und der Mutter. Ihre Augenfarbe changierte immer, wenn sie sich aufregte, von Blau nach Grün. Vererbt von der Großmutter. Sie wirkte aufgeregt – grün, das hieß: voller Tatkraft, Unternehmungslust und Selbstbewusstsein. Schön eigentlich.

      Nur ein wenig hatte er sie hochgenommen, gesagt, dass sie ein Typ sei, der die empfindliche Haut auch im Winter behielte. Wie meistens in Momenten der Betroffenheit zog sie die hohe Stirn in Falten, tat gereizt, schien aber ihr Schicksal zu akzeptieren. Eine Ermutigung würde ihr guttun, hatte er noch gedacht, sie gelobt für ihren Fleiß und die Ausdauer. Dann sprach sie davon, dass sie Umwelttechnik in Wien studieren wollte.

      «In dem polytechnischen Kurs ging es zuletzt um die optimale Verbindung von Physik und Umweltwissenschaften. Unter anderem haben wir über die Reinigung von Trinkwasser gesprochen, wenn man keine technischen Möglichkeiten besitzt, wie zum Beispiel in Afrika. Wir sprachen darüber, wie man Wasser reinigen kann, wenn es keine finanziellen Mittel gibt. Wir haben Brackwasser aus der Pfütze in eine Plastikflasche gefüllt und in die Sonne gelegt. Der Dreck hat sich abgesetzt. Das Wasser oben war absolut trinkbar. Papa, ich werde Umwelttechnik studieren. Brunnen bauen, Ressourcen erschließen. »

      Mit nur anderthalb Sätzen hatte er es verdorben:

      «Da solltest du einmal bei uns im Keller des Instituts schauen. Forstrat Schauberger hat in dieser Hinsicht bereits vor über hundert Jahren Erstaunliches zuwege ge…!» Jählings schlug er sich die Hand vor den Mund.

      Euphorisiert blickte sie ihn an. «Was? Bei dir in der Firma? Aber gerne! Interessiert mich. Ich bin ja so neugierig. Was ist? Was hast du da? Was gibt es da bei Euch im Keller?»

      Sie war Feuer und Flamme. Und er saß da mit einem roten Kopf, traute sich nicht weiter zu sprechen, lebte das Dilemma seines Lebens vor dem eigen Fleisch und Blut.

      «Passt net. Mir fällt gerade ein, dass ich dir die Kellerräume und das Lager überhaupt nicht zeigen darf. Entschuldige bittschön, leider verhält sich das so. Weißt du, der Zugang ist nur Geheimnisträgern und für Eingeweihte gestattet. Schweigepflicht halt. Tut mir wirklich leid, mein Engel.»

      Sie nahm ihm das Zeugnis aus der Hand, das er gerade noch studieren wollte und schmiss es achtlos neben den Obstsalat. So wütend hatte er sie noch nicht gesehen. «Was meinst du mit Geheimnisträger? Wie soll ich das verstehen? Rede bitte vernünftig mit mir!»

      «I derfs halt net, mein Engel.»

      Da geschah es. Auf einmal wechselte sie ihre Augenfarbe. Blau.

      «Engel. Engel. Engel hin, Engel her!»

      Mit einem scharfem Knarren schob sie den Stuhl vom Küchentisch, erhob sich, stampfte mit dem Fuß auf, schmiss die Serviette auf den halbvollen Teller, verzog sich in die hinterste Ecke der Küche, stand schwer atmend dort mit verschränkten die Arme und fixierte ihn: «Was darf dein Engel nicht? Und vor allem, warum nicht? Ich bin doch deine Tochter?»

      «Ich habe es unterschrieben, ich wollt, es wäre nicht so! Die Schweigepflicht gilt vor allem auch für Familienmitglieder. Es tut mir leid.»

      Da ging sie auf ihn zu, ganz langsam. Sie war wieder sehr ruhig und beherrscht, so sehr, dass ihm eine Gänsehaut über den Rücken lief. Dann schaute sie ihm mitten zwischen die Augen.

      «Cord!»

      Immer wenn sie ihn mit dem Vornamen ansprach, wusste er, dass die väterliche Autorität verspielt war.

      «Ich hab immer gedacht, wir könnten über alles reden. Jetzt sehe ich, dass wir uns über nichts austauschen können, was mir wirklich etwas bedeutet. Über gar nichts. Da kann ich genauso gut gehen. Wollte dir schon längst sagen, dass ich vorhabe, zur Tante nach Wien zu ziehen, um dort zu studieren. Wo ich nun seh, dass du so viele Geheimnisse vor mir hast, mag ich am liebsten sofort gehen. Es ist an der Zeit für einen Tapetenwechsel. I mag nimmer. S‘langt mir.» Sie warf ihm den finstersten Blick seines Lebens zu, bevor sie die Tür knallend in ihrem Zimmer verschwand. Eine halbe Stunde später ein kurzes Abschiedswort – «Ade, Papa», die Haustür klappte und dann war sie fort.

      Das war es dann wohl mit der Wohngemeinschaft.

      Seit zwei Wochen wohnt sie bei der Tante in Wien. Wenigstens ist sie noch in der Nähe. Zum Geburtstag und zu Weihnachten würden Ansichtskarten eintrudeln – wenn er Glück hat. Sie interessiert sich für Afrika. Das ist sehr weit weg. Wie eine Drohung.

      Vor seinem inneren Auge tanzt sie in der Sonne, nach Wüste und Wind duftend, bis sie einen Sonnenstrahl ergreift und auf ihm reitend zwischen dem üppigen Blattwerk des Jasmins entschwindet.

      «Und wenn Zeit in Wirklichkeit nicht existiert?», brummelt er halblaut vor sich hin, schielt dabei auf seine verhornten, verbogenen Fußnägel, will sich gut zureden.

      «Wenn sie morgen kommt, werde ich sie in die Arme schließen, als wäre nichts geschehen. Als wäre nichts geschehen. Oh, Hanneken, ob du mir wohl wirst verzeihen können?», seufzt er vor sich hin, zupft immer wieder an seinem roten Rauschebart, reißt sich vereinzelte graue Haare aus.

      Ein Schatten legt sich auf sein Gesicht. Er wird sich zukünftig auf ein Leben ohne sie einstellen müssen. Erst nach der Präsentation von Bulgakov kann er wieder auf sie zugehen, einen neuen Annäherungsversuch versuchen. Vielleicht gibt es ja noch eine Chance. Wenigstens vertragen könnte man sich.

      Es klingelt an der Eingangstür.

      Wer mag das sein, in aller Herrgottsfrüh? Er ist täglich ab 6.30 Uhr anwesend, behördlicherseits öffnet das Institut erst um acht. Jetzt ist es 7.50 Uhr. Außer dem Professor und der Putzkraft in den Hörsälen hält sich niemand im Haus auf.

      Van Galten steckt die nackten Füße zurück in die Wollsocken, die Holzschuhe, schlurft zur Tür.

      Ein unscheinbarer, blasser Mann in einem schwarzen Anzug mit Sonnenbrille und Hut baut sich da vor ihm auf. Sieht offiziell aus. Aber so früh? Hoffentlich nicht wieder so ein Journalist oder Wirtschaftsvertreter wie vor sechs Wochen. Der elegante Herr nickt ihm zu:

      «Bitte sagen Sie mir, wo finde ich den Institutsleiter, Professor Bulgakov, ich habe einen Termin.»

      «Um diese Uhrzeit hält sich der Professor normalerweise in der Bibliothek auf. Derf i Sie anmelden?»

      «Danke nein, ich kenne mich aus.»

      «Fahrstuhl dritter Stock, bittesehr. Die Bücherei befindet sich gleich am Ausgang des Lifts.»

      Van Galten zeigt mit dem Finger auf den Aufzug. Der für die Jahreszeit zu förmlich gekleidete Mann mit dem ausdruckslosen Antlitz schiebt sich an ihm vorbei. Selten hat er ein derart flaches Gesicht erblickt. Der Hut kommt ihm von irgendo bekannt vor. Liegt es daran, dass die Geschäftsleute heuer alle gleich aussehen? Hat er den Typen schon einmal gesehen?

      Van Galten schlurft zurück in seine Portiersloge. Eine Anwandlung schläfriger Unruhe hat ihn erfasst. Warum hat er nicht nach dem Ausweis des Mannes gefragt, wie sonst auch bei fremden Gästen?

      Einen Atemzug lang schließt er die Augen, versucht, sich zu erinnern, woher er diesen Druck auf der Brust kennt, dieses nicht ortbare Schwindelgefühl, seitdem der merkwürdige Besucher das Institut betreten hat. Außerdem ist da noch das immer intensiver werdende Sausen in seinem Kopf.

      Für einen Augenblick