Johannas fliegende Fische. Martin Jaeger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martin Jaeger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742788078
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könnte – selbst wenn sich derlei bisweilen einstellt – es geht eher um sprachlose Nähe, die er zu den Dämmernden aufbaut, an Intimität weit über herkömmlichen Aspekten von Bekanntschaft. Zunächst betrachtet Marlene ihn mit kritischen, dann mit immer wohlwollenderen Blicken, wie nah Max mit seinen Gesten dem Wesen der Menschen kommt. Nähe und Wärme, darauf kommt es an. Das ist es doch, worum es hier geht!

      Wenn er sich eingestimmt hat, schleicht er vorsichtig, die Hände leicht erhoben zu Antennen, auf den Schlafenden zu, befühlt in der Luft den Raum oberhalb des liegenden Patienten, dort, wo er noch etwas fühlen kann, ohne den Körper zu berühren; Wärme, Hitze, Kälte, ein Knoten, was auch immer. Schwer zu sagen, was genau er da tut, ob er in der Luft über den Sterbenden eine Art Astralkörper vermutet oder schlicht das Lebenszentrum des Menschen fühlt.

      Als sie ihn einmal darüber zur Rede stellt, durchaus freundlich und tolerant gegenüber seinen morgendlichen Aktivitäten, redet er so unbeholfen wie kompetent von Energielöchern. Die sind eher kalt, sagt er, haben eine graue oder bläuliche Farbe, im Gegensatz zu Schwellungen, die auf knotenartige Entzündungen hinweisen. Die sind in der Regel heiß und rosa bis dunkelrot.

      «Sprichst du von der Aura?», fragt Marlene ihn einmal.

      «Woas i net. Aura, wos’n des?», antwortet er nur. Jegliche esoterische Begrifflichkeiten sind ihm fremd. Für ihn sind das alles «Elementare».

      «Die wichtigsten Elementare», so sagt er und redet, als handele es sich um eine biologische Maschine, «halten sich immer direkt in der Nähe des Körpers auf. Sie greifen den Geist, wenn es soweit ist. Wann er auf die andere Seiten soll».

      Irgendetwas ist da, gesteht sich auch Marlene Kirchgasser ein. Wenn Max so bei den Patienten steht, die Hände über ihrem Körper wie ein Tai-Chi-Meister bewegt, sieht es aus, als ob er etwas aus dem Energiefeld herauszieht, das die Leute umgibt, um anschließend aufkommende Wogen mit den Händen zu glätten – gerade so, wie man Falten aus einem Federbett streicht.

      Nie verlässt er die schlafenden Hospizgäste, ohne beim Herausgehen die Handflächen aneinanderzulegen und sich stumm zu verneigen.

      Woher hat er das nur?

      In seltenen Fällen kann es vorkommen, dass die Leidenden erwachen, es zu knappen einsilbigen Gesprächen kommt, die Max eher einschränkt als befördert. Etwa, wenn ein Patient keinen oder nur wenig Schlaf gefunden hat, angstvoll seinem bevorstehenden Ende entgegenfiebert, der Krebs oder die Schmerzen ihn die Nacht hindurch keinen Schlaf finden ließen.

      «Servus, Max. Viel hab i net gschlafen. Weißt, der Krebs. Und die Angst. Ohne die Schmerzen wärs leichter. Ach, ich wollt, es wär schon vorbei.»

      «I woas.»

      Niedertourig laufen sie bei Schwäche, übertourig, wenn die Lebensflamme dabei ist, sie zu verzehren. Die Flamme hält die Moribunden allein durch ihre Schmerzen auf Trab, während aggressive Tumore im Innern das Lebenslicht wegfressen, von dem Feuer leben möchten.

      Bisweilen kriegt er es hin, etwas von dem Jammer zu nehmen, Empfindungen zu besänftigen, sodass der Tag erträglicher auszuhalten ist.

      Es gilt, den göttlichen Plan zu verstehen, wenn die Todgeweihten lernen, ihre Qual zu akzeptieren, durch sie hindurchgehen, um später entspannt die Welt verlassen zu können. Dazu sind nur wenige ohne Betäubungs- oder Schmerzmittel in der Lage. Aber wenn es gelingt, haben alle etwas davon. Mindestens eine Würde.

      Irgendwann steht er auf, zieht weiter, betritt die geräumige Küche, stellt den großen Teekessel auf den Herd, nimmt einen Apfel, beißt hinein, prüft aufmerksam die Beschaffenheit des Kerngehäuses. Dann lässt er im Badezimmer ein Vollbad für einen Bewohner ein. Der Gast besteht darauf, vor seinem Ableben täglich ein Bad zu nehmen, möchte er doch dem Herrgott in sauberem Zustand gegenübertreten.

      Ja, bitte, warum denn nicht, solang die Kraft dafür reicht. Man soll schon schauen, was noch fehlt: Die letzten kleinen Wünsche erfüllen, wenn möglich.

      Bisweilen versetzen ihn die unerfüllten Sehnsüchte und Reflektionen der Sterbenden selbst in tiefe Meditationen, in denen es zu ihm spricht, ein Gedanke, ein inneres Wort, der Herr Jesus, der Dalai Lama oder nur die Vernunft, egal.

      «Genau kann ich auch nicht sagen, was geschieht, aber es ist möglich, das Feld der Träume zu betreten», denkt Max, während er die Temperatur des Badewassers prüft. Mehr als einmal drehte sich ein Sterbeprozess sogar völlig um. Einer der Todgeweihten erholte sich so gut, dass er lachend und kerngesund, gleichwohl am Stock, das Sterbehospiz wieder verließ, um zweimal pro Woche zurückzukehren, weil er den «richtig Leidenden», wie er sich ausdrückte, Beistand leisten wollte.

      Zuletzt, wenn die Sonne aufgegangen ist, löscht Max das Nachtlicht im Flur, tritt vor die Eingangstür, tauscht wieder das Schuhwerk und geht über den Kiesweg nach hinten in sein Allerheiligstes.

      Im dritten Jahr seines Aufenthalts am Fuße des großen Berges stellt sich hier etwas völlig Neues ein, ein Trostpflaster, das seinem Leben erneut Sinn verleiht. Als ob der Herrgott – oder wer auch immer – ein Einsehen gehabt und seinem Herzen einen Schubs versetzt hätte. Dabei war es keine höhere Macht, die hier hilfreich zu Seite sprang, sondern eine Fügung der Gnade. Ausgerechnet die Mutter von Ingenieur Raumer führte es nach ihrem Schlaganfall in die Ramsau, Ortsteil Heimat bei Filzmoos. Max wusste, dass die beiden sich nicht allzu gut verstanden.

      Tagelang lief er nach ihrer Ankunft an ihrem Einzelzimmer vorbei, las das Namensschild an der Tür, das Marlene angebracht hatte. «Elsa Raumer». Er wagte nicht, zu glauben, dass es wahr sein könnte.

      Vierzehn Tage traute er sich nicht, sie anzusprechen. Bis er sich ein Herz fasste und das Zimmer der gelähmten Dame betrat, die nach dem Schlag die Sprache verloren hatte. Jetzt musste er reden, fragen, als Bittsteller agieren. Die Sache war es wert.

      «Ja, sagen Sie bitte, san Sie eventuell verwandt mit dem Raumer Paul aus Lindenberg in der Schweiz? Sie sehen ihm gerad so furchbar ähnlich.» In ihrer stummen Sprachlosigkeit riss die gelähmte Frau die Augen auf und zwinkerte verschwörerisch. Passt schon. Da wusste Max, dass sich von nun an etwas ändern würde. Es dauerte noch, aber am Ende gab sich der Raumer Paul einen Ruck. Guter Junge.

      Das Haus hatte ihn aber auch bitter nötig, den Ruck. Natürlich musste man dem sturen Schweizer zunächst zureden wie einem kranken Gaul. Von Nichts kommt nichts. Doch das Hospiz stand kurz vor der Pleite, es ging nicht gerade gut, wirtschaftlich gesehen, auch wenn kaum jemand bemerkte, wie sehr man darbte und knapste. Gerade hatte er eine Reihe von 60er und 100-Watt-Glühbirnen gegen 40er austauschen müssen, um Strom zu sparen. Nein, auf keinen Fall die neumodischen Energiesparlampen, ordnete er an. Die enthielten Quecksilber und waren Sondermüll. Außerdem sollte nicht mehr so oft heiß gebadet werden.

      Da musste er tatsächlich auf die Post ins Dorf und ein Ferngespräch in die Schweiz führen, um Raumer davon zu unterrichten, dass seine Mutter nun unter seinen Fittichen gelandet war – und dass es dem Haus schlecht erging. Er solle gefälligst selbst schauen kommen, unter welch prekären Energiebedingungen sie die letzte Zeit ihres Lebens verbringen würde. Zwei, drei Mal kam Raumer nun angereist, mit wehendem Haar, konferierte am Ende mit der Oberin.

      Anschließend ging es halt wieder einmal um die gute alte Schweigepflicht. Doch dieses Mal konnten alle anderen aus dem direkten Umfeld davon profitieren. Am Ende hatten sie es hinbekommen. Es war geschehen.

      Von Anfang an gewöhnte er sich an, den Wirtschaftstrakt, sprich: Heizungsschuppen, immer penibel abzuschließen, sorgte sogar für ein stabileres Türschloss, dessen Schlüssel er sorgsam an einem Band um den Hals trug.

      Beim Aufschluss der Tür quälte ihn anfangs stets der Gedanke, wie fragwürdig die Maßnahme eines besseren Schlosses war. Aber wenigstens gab es ein beruhigendes Gefühl, wenn er schlief. Die Aufmaße der angebauten Baracke mit dem Generator glichen auf organische Weise seiner Portiersloge in Graz. Was soll sein, eng ist schön. Und ein Generator ist ein Generator ist ein Generator. Punkt. Genau hier verschmelzen Vergangenheit und Zukunft zu einer neuen Gegenwart.

      Wie gern positioniert er sich morgens auf dem Stuhl neben dem Sicherungskasten und wirft einen Blick auf drei digitale