Johannas fliegende Fische. Martin Jaeger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martin Jaeger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742788078
Скачать книгу
frischrasiertes Kinn. Interessante Physik, das.

      Das war ihm am schwersten gefallen: sich von dem Bart zu verabschieden, ihn nach fünfzig Jahren abzunehmen. Aber er darf auf keinen Fall auffallen. Wer achtet schon auf einen alleinstehenden, bartlosen, alten Mann? Er hat sich auch niemandem zu erklären, wenn er jetzt die Stadt verlässt, fort aus Graz.

      So geschieht es immer wieder mit den kosmischen Energien: kurz vor dem Triumph kommt der Tod. Den Chef hatte vierzehn Tage vor dem Durchbruch das Schicksal erreicht. Warum? Unter vier Augen hatte Bulgakov schmunzelnd gestanden, dass er mit seiner Erfindung dem Gesetz der Schwerkraft ein Schnippchen schlagen wollte. Eine Übung in Schwerelosigkeit nannte er sein Projekt. Wer musste unbedingt verhindern, dass er Erfolg hatte?

      Cord lacht bitter in sich hinein, als ihm einfällt, dass er an jenem Morgen vor dem Mord genau daran dachte, tief in seinem Innern Ähnliches befürchtet hatte. Wie in einem grausamen Gesetz der Serie musste er zusehen, wie erst die wichtigsten Hürden gegenüber den neuen Technologien genommen wurden – und auf einmal nichts mehr ging. Wie unter Zwang mündete so gut wie jede dieser großartigen Unternehmungen in eine Katastrophe. Damit soll jetzt Schluss sein. Ein für alle Mal.

      Die Herren der Zeit, sie mochten tun, was immer sie wollten: Kontaminieren, modifizieren, variieren oder reduzieren: Der Berg würde ihnen das rechte Maß der Dinge weisen.

      Kurz döst er in einer Kehre weg, die ihn tief in den Sitz drückt. Als er die Lider wieder hebt, bietet sich dem Auge blankpolierter Granit, an dem der Bus um Haaresbreite vorbeischrammt. Und wieder steht das blasse Gesicht des Mörders vor seinem inneren Auge.

      Auf diesen Berg von Stein will ich mich setzen, es führt kein andrer Weg nach Küsnacht. So ähnlich spricht doch der Wilhelm Tell, bevor er seinen Quälgeist richtet.

      Dabei hätte alles so schön sein können.

      Die meisten Zeitgenossen zeigen sich dem Fortschritt gegenüber durchaus aufgeschlossen, – wenn es ihn denn nun gibt. Wobei man weiß, dass sich die besseren Dinge meist nur blind oder erst nach Jahrzehnten durchsetzen, wie zufällig und scheinbar nicht geplant, bestenfalls im Bereich des Erreichbaren. Aber was heißt hier «besser»? Etwa das neue Internet, das gerade vor ein paar Jahren aufgekommen ist, so viele Möglichkeiten bietet und die Leute zwingen wird, ihre innere Wahrheit vor dem Bildschirm anstatt in der Natur zu suchen?

      Was bin ich froh, schon so alt zu sein, damit soll sich die Jugend herumschlagen. Cord van Galten wird den Berg wählen, die Freiheit am Berg gegen den Rest der Welt tauschen, auch wenn er nur am Fuß desselben den Lebensabend verbringen soll. Die Natur beschützt mich, ich brauche nichts zu tun, nicht einzugreifen, nichts zu verändern, hie und da a bisserl reparieren, Geräte warten und ihn erwarten.

      Sie werden kommen, mich zu jagen mit Gewehren in der Nacht. Doch bis dahin wird vergehen, was sie so gerne Zeit nennen. Der Dachstein wird einige Male ein- und wieder ausgeatmet haben, Touristen werden kommen und gehen wie wir auch, Kühe werden kalben. Alles fast ganz normal.

      Ein sehnsüchtig erwarteter Sonnenstrahl sticht durch die Nebelwolken, gibt einen scheuen Blick auf den Gipfel frei.

      Jetzt also wirst du vom Grazer zum Bergbewohner. Irgendwann einmal musst du da hoch, Max, spricht er gut gelaunt zu sich selbst. Einmal vom Dach der Welt nach unten schauen... wenn alles getan ist, die letzte Furcht ausgestanden und alle in Sicherheit sind.

      Dieser winzige Unterschied zwischen der lebendigen und der toten Materie, lebenspendender Erde oder sterilem Staub, der zu Stein gerinnen wird: Es könnt einen wahnsinnig machen. Ich mein, nichts gegen Steine. Gar nichts.

      Der Bus hält in Ramsau auf dem Marktplatz. Endstation, zumindest für ihn. Die Touristen werden hoch auf den Berg fahren, bis zur Seilbahn und dann auf den Gipfel. Der Berg ruft, je nachdem, ob sie sich bei dem Nebel trauen. Der kann aber genauso gut jeden Moment verschwinden.

      Die Bäuerin steckt ihr Puzzlespiel weg, schlurft grußlos nach vorn, steigt aus, verliert sich im Gewühl zwischen den Gemüseständen des Bauernmarktes.

      Den Strohhut auf dem Kopf und die Reisetasche in der Hand, mischt sich Cord unter die Leute. Die frisch gewaschene Schlossermontur soll darauf schließen lassen, dass er nicht nur zum Spaß hier herumläuft. Nur nicht auffallen. Einheimische sind eh uninteressant. Touristen beachten am liebsten die Frauen im klassischen Dirndl. Gut so.

      Für ein paar Schilling kauft er an einem Marktstand eine Tüte Äpfel und macht sich auf den Weg. Den letzten Teil wird er zu Fuß absolvieren, allein für den Fall, dass er beobachtet wird. Also drei Bushaltestellen auf Schusters Rappen bis zur Haltestelle mit dem sinnigen Namen «Heimat», gleich hinter Filzmoos.

      Auf eine Weise fühlt er genau, warum er nur noch hierhin gehen kann, will und muss. Die letzte Station seines Lebens.

      Intuitiv, was ist das eigentlich, Papa?, fragte Hanneken. Erfahrung, mein Engel. Erfahrung, und immer schön üben.

      Raumer, der Retter, rief passend einen Tag nach dem Tod von Bulgakov an, als er bereits auf der gepackten Reisetasche saß und nicht wusste, wohin mit sich. Der Schweizer war nach den Besprechungen in Graz zu einer Art Freund geworden. Einmal konnte er den Chef bei einem Besuch dorthin begleiten. Raumer hatte in seiner Heimat mit ähnlichen Schwierigkeiten zu kämpfen wie Bulgakov. Er hatte einen Stromerzeuger besonderer Art zustande gebracht, der gerade von einigen Akademikern und Publizisten heiß diskutiert wurde. Weil Raumer in einer christlichen Kommune lebte, die er selbst auf die Beine gestellt hatte, wählten die Bewohner und Bewohnerinnen in Lindenberg eine andere Methode der Publikation: sie gestatteten ausschließlich befreundeten Wissenschaftlern, auf den Generator zu blicken und ihn zu untersuchen. Im Übrigen beließen sie alles in der Schwebe, indem Raumer das Gerät kaum jemandem zeigte, er sich auch der Allgemeinheit weitgehend verweigerte, beglich dafür aber ordentlich alle Stromrechnungen der Gemeinschaft. Er hatte sich davon befreit, der Öffentlichkeit etwas beweisen zu wollen.

      Natürlich versuchten Staat und Elektrokonzerne, ihn mundtot zu machen, klagten ihn an wegen sexueller Verfehlungen mit Minderjährigen. Van Galten konnte nichts dazu sagen. Ihm erschien Raumer bis auf seine obskuren religiösen Vorstellungen stets tadellos und integer.

      Als Bulgakov in Graz von der Erfindung hörte, suchte er ihn unverzüglich in Lindenberg auf, bot Kooperation an, wollte sogar in die christliche Kommune eintreten. Mit Engelszungen versuchte er, Boden zu gewinnen, bemühte sich eindringlich, den Schweizer zu überreden, mehr mit der Presse zu kooperieren und wie er selbst auch die Öffentlichkeit als Schutz zu nutzen. Aber Raumer blieb gänzlich konsequent und hartnäckig. Und lebendig, wie zu hoffen war, noch lange.

      Raumer war es, der ihm nahe legte, nun schnell die Beine in die Hand zu nehmen und nach dem Mord an Bulgakovs umgehend Graz zu verlassen. Untertauchen.

      Cord knüpft den Overall zu. Wenn man am späten Nachmittag in den Schatten des Berges gerät, differieren die Temperaturen bisweilen um 20 Grad.

      Es kann so kalt werden, dass man sich spielend sogar im Hochsommer erkältet.

      Am Wegesrand entdeckt er einen verwaisten, knorrigen Stock, nicht zu dick, doch belastbar genug, ihn beim Wandern zu stützen. Ein Biss in den Apfel.

      Die guten Innovatoren, die Vordenker: Falls es den wenigen Auserwählten gelang, in unbekannte Bereiche vorzustoßen, standen sie sofort unter Beobachtung. Die konservativen Kollegen diffamierten sie zu gerne. Raumer hatte davor gewarnt. Dies war die konzentrierte Wahrheitspille und die Summe eines Lebens aus 50 Jahren, in denen er innovative Entwickler unterstützte und begleitete. Die Leute, denen er den Rücken stärkte, von denen er lernte, für die er sich einsetzte: Man brachte sie einfach um. Schluck das, Max.

      Der Apfel schmeckt bitter; ein Wurm hat sich seinen Weg bis ins Kerngehäuse gebahnt, nicht erkennbar von außen, aber überaus präsent und lebendig. Cord spuckt aus, wirft die wurmige Frucht fort.

      Was, wenn man sich gleich von Anfang an mit der menschlichen Vergänglichkeit, dem Ende, beschäftigte, sich quasi von hinten nach vorn arbeitete, einen Raum beträte, in dem die innere Perspektive nicht mehr auf falsche Hoffnungen, auf neues Leben, sondern allenfalls auf ein würdiges Ableben ausgerichtet wäre? Könnte, würde das die