Johannas fliegende Fische. Martin Jaeger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martin Jaeger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742788078
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das erlangte Einsparpotenzial. Dann hebt er die Wachstuchdecke über dem Beistelltischchen an, vergewissert sich, dass der kleine Kasten mit den LEDs so arbeitet, wie er soll. Zwei Scheiben ziehen sorglos ihre Kreise umeinander. Eine Mindeststrommenge wird aus dem öffentlichen Netz eingespeist, damit die Behörden nicht bemerken, was hier vor sich geht. Ein Strom fressender Töpferofen ist das geeignete Mittel der Wahl. Hoher Verbrauch, gut zu berechnen. Die Menge verbrauchter Energie soll auch nicht immer identisch sein. Dies zu regulieren, dafür ist der Hausmeister zuständig!

      Dann träumt er den Berggipfel hinauf, fragt sich, was Hanneken wohl zu seinem neuen Beruf sagen würde. Vergangenheit, Zukunft, Gegenwart: Die Bilder laufen, wie sie laufen.

      Auch die morgendlichen Sitzungen in den Krankenzimmern gehen nun leichter von der Hand. Je mehr er von dem versteht, was hinten im Maschinentrakt vor sich geht, desto mehr verwandeln sich auch seine Perspektiven und die Haltung zur Wirklichkeit, die in eine eigene Zeitlosigkeit hinüber gleitet. Muss am Alter liegen.

      Wie eine kühle Brise in einer heißen Sommernacht legt sich heitere Stimmung auf das Gemüt aller. Das, was den Stromerzeuger antreibt, wirkt sich auch auf die Hospizgäste positiv aus, lässt sie leichter atmen. «Jedes Mal geschieht das, wenn die Natur sich ihr Recht nimmt», wie der Forstrat immer sagte. Wärme und Helligkeit durchfluten das Hospiz. Unmöglich für einen Werkzeugmacher, den genauen technischen Unterschied zwischen diesem Wundergenerator und einem lebenden Wesen zu benennen. Von kosmischer Energie leben beide. Nur davon. Nun ja, einen Unterschied gibt es vielleicht doch: Menschen benötigen mehr Zuwendung.

      Aber dafür sind ja Marlene und die anderen da.

      Er ist sich inzwischen sicher, dass er den Mörder von Bulgakov vorher schon einmal gesehen hat. Zumindest den Typ, diese Art von Typ. Internationales Gehabe, derselbe Anzug, dieselbe arrogante Gestik, wie sie der Kerl am Tag des Mordes an den Tag legte. Ganz offen hatte der erste Besucher gesprochen, wahrscheinlich der Kontaktmann, gesagt, er wolle bald mit seinen Kollegen vorbeikommen und Bulgakov besuchen; ein Deutscher mit Brille. Stand mitten am Tage unangemeldet vor dem Portiersverschlag in Graz. Mein Gott, das ist nun auch schon so viele Jahre her und fühlt sich an wie gestern, fest eingebrannt.

      Er hatte dem Schlacks noch gesagt, er könne die blöde Sonnenbrille getrost abnehmen, im Institut gäbs nicht so grelles Licht. Escher hatte der geheißen. Oder so ähnlich. Trug denselben affigen Anzug wie der Mörder vom Professor. Wiedererkannt hatte er ihn nur, weil er diese Kopfbedeckungen so hässlich fand. Modeerscheinungen der feinen Leute!

      Über seine Erinnerungen meditiert er eine halbe Stunde. Neben ihm, unter einem Beistelltisch, rotieren zwei leuchtende Scheiben. Es ist, als ob sie ihm zuflüstern: «Ruhig, Cord, ganz ruhig, bleib gelassen. Es ist, wie es ist. Schreib einen Brief. Sag Johanna, was du weißt. Mal ein Bild. Zeig ihr deine Vision. Was willst du ihr denn sonst hinterlassen, wenn du gehst? Was hast du für deine Tochter, Max, außer einem falschen Namen?

      Zwei falschen Namen, wenn man es genau nimmt. Weil du den Familiennamen deiner Frau angenommen hast. Aus Sicherheitsgründen versteht sich. Was ist dein Vermächtnis? Was wirst du mit dem Schlüssel an deinem Hals tun? Die Stunde der Wahrheit naht. Bald.»

      Dann steht er auf, läuft noch einmal vor das Haus. Ein leichter Wind ist aufgekommen, die Sonne illuminiert die Bergspitze. Irgendwann wird er mit der Seilbahn auf diesen Gipfel fahren, die Ramsau und das Hospiz von oben betrachten. Früher oder später. So oder so. Oder doch anders.

      Jedes Mal, wenn er aufschaut, hat sich das Sonnenlicht wieder neu eingestellt. Wie er auch. Mehr als einmal, wenn er eine Totenwache hielt, in einen stummen Dialog mit der Seele desjenigen trat, der da gehen sollte, veränderten sich Licht und Luftfeuchtigkeit, bisweilen sogar die Akustik, und wie auf ein überirdisches Signal hin, stellte die Kuhherde einstimmig ihr unaufhörliches nächtliches Geläut ein, als wollten die Tiere dem Toten eine Art letzter Ehre erweisen. Getäuscht, genarrt vom Leben, war hier jeder, der meint, Ursache und Wirkung erkennen zu können, anstatt von der ewigen Durchdringung und Abhängigkeit aller von allen auszugehen. Besonders der Vernetzung des Lebendigen mit den sogenannten Toten. Und den Totgesagten. Werden, Sein, Nichtsein. Mehr gab es nicht.

      Vielleicht war es nicht der Mittelpunkt der Welt, wo er sich befand, selbst wenn es sich verflixt noch mal so anfühlte; auf jeden Fall würde es schwierig werden, noch essenzieller zu sein als ausgerechnet hier.

      Max schmunzelt, als er den Mechanismus erkennt, der dem zugrunde liegt: Jedes Mal, wenn er das große «W» ausmacht, die Bergspitze, von diesigem Nebel umhüllt, weiß er, dass sich der Berg genauso den Blicken der Leute entzieht wie er selbst auch. Es kann gut und gerne mehrmals am Tag geschehen, dass sich auch sein Herz verhüllt.

      Unter normalen Umständen wären ihm derlei Wahrnehmungen niemals einer besonderen Erwähnung wert. Die Alpinisten in der Umgebung bemerken das eh nicht, vor allem durch den ständigen Aufenthaltswechsel, mal im Tal, dann wieder oben auf dem Gipfel, Nord-, Süd-, West- oder Ostseite, hinauf und wieder hinab, ist es ihnen einerlei, wo sie sich gerade befinden. Bei ihnen bilden sich ständig frische Blutkörperchen, die im Tal ihre Wirkung entfalten und den Sauerstoff freisetzen. Aber ihm, dem aus- und hausgemachten Stadtmenschen, der sich sein Lebtag zumeist in Werkstätten aufgehalten hat, muss so etwas auffallen.

      «Wenn Sie einmal gehen müssen, empfehle ich Ihre Seele dem Berg. Sowieso», hatte der Raumer Paul gesagt.

      Eines Tages sei er ebenfalls an der Reihe, wie alle anderen auch. Passt scho.

      Aber ist nicht jedes neue Leben immer eine weitere Vorbereitung auf den Tod? Immer, wenn jemand geht, kann er körperlich fühlen, wie der Berg die Seele einatmet, sie in den Planeten hineinzieht, aufnimmt wie eine reife Frau den unerfahrenen Geliebten zwischen ihren Schenkeln. So wird es ihm auch ergehen. Freude.

      Er wird einer späteren Forschung überlassen müssen, ob es tatsächlich der Berg ist, die Erde oder eine noch größere universale Kraft, die hier atmet.

      Er ist jetzt schon so lange hier. Es müssen jetzt mehr als zehn Jahre sein. Er fühlt sich nicht wie 87. Längst hat er diese Welt mit ihren «Realitäten» aufgegeben, wandert mit dem Geistkörper zwischen den Seelen der Todgeweihten, der Maschine und dem Berg hin und her. Korrekt so.

      Menschen kommen im Hospiz an, die sich vom Leben verabschiedet haben. Sie verlassen das Haus in überschaubaren Zeiträumen in der Horizontalen. Die meisten von ihnen gehen glücklich, wenn sie vorher bei Bewusstsein waren. Eine kleine Bewegung mit dem Kopf, eine winzige Veränderung des Fokus – und Max ist es auch.

      Doch nun hat sich Entscheidendes verändert. Er ist zum Wächter einer physikalischen Kostbarkeit geworden, deren Gegenwart er nicht mehr missen möchte. Am Ende seines Erdenlebens sitzt er in einem mickrigen Schuppen neben einem Gerät, das seinen privaten Zugang zum Äther, zum Universum darstellt. Doch ein jedes irdisches Glück ist endlich. Das ist der bittere Nachgeschmack.

      Mehrfach innerhalb des letzten halben Jahres war ihm nach einem Schwätzchen mit Marlene in der Küche; er fragte sie über bestimmte Patienten.

      Nein, nichts Besonderes, warum er denn frage. Nur so, gab er zurück. Merkwürdigerweise waren es genau die Menschen, nach denen er sich erkundigte, die dann binnen drei Tagen starben, ihre Seele an einen anderen, unbekannten Ort überantworteten.

      Es dauert nicht lange, bis sich alle daran gewöhnt haben, dass der schweigsame Hausmeister, einen Draht zum Jenseits besitzt, was zu recht präzisen Voraussagen führt. Am besten kommt Marlene damit zurecht. Einmal fragt sie nach, wie es denn für ihn sei.

      «Was siehst du da, wenn du bei diesen Patienten stehst oder bei ihnen sitzt und die Hände hältst?»

      «Was i seh, bevor die Gedanken kommen? Och, woast …»

      Schweigen. Minutenlang. Dann spricht er sich aus wie noch nie.

      «Manchmal kommt eine ganze Schar von Schatten. Sie gehen durch mich hindurch, als wollten sie mich holen und nicht die Leut. Oder ich fühl Vibrationen wie beim Erdbeben, aber die tun mer nix, klärn mich nur ab. Wie bei den Sterbenden, da in der Näh san sie ebenfalls.»

      Marlene schaut ihn ruhig und interessiert an. Immer nur liebevoll ruhen ihre blauen Augen auf ihm.