Johannas fliegende Fische. Martin Jaeger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martin Jaeger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742788078
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ist denn das? Ist das der Tod?»

      «Naa, des is net der Tod», gibt Max zurück, nimmt einen Schluck aus der Teetasse, «der Tod ist grad nur a Türl. Es gibt kaan Tod, nur eine Wandlung der Form. Die meisten von den Schatten, sie beschützen das Leben eher, selbst dann, wenn sie jemanden in ihren Fängen halten. Oft ist des besser für die Seel, hinterher. Ich, i versteh das auch nicht so einhundert prozentig, aber so ist es wohl. Am Ende erscheint mir das G’sicht von der Person, die gehen wird. Meist lächeln sie und san froh, dass ihr Leid bald vorbei is, sich der Leib endlich ablöst und die Seel ihre Ruh kriagt.»

      Da war er ihr nur noch dankbar dafür, dass es sie gab. Niemals kann er über derlei Dinge sein Herz erleichtern. Wie gut, dass er Marlene so ansehen darf, es ihr nichts ausmacht, obwohl sie sein Geheimnis nicht kennt. Aber sie kann gut fragen: «Manchmal schaust du so merkwürdig, wenn du bei den Patienten bist. Siehst du dann etwas?» Sie fragt immer so direkt. Menschen im Hospiz haben wohl keine Geduld mehr für komplizierte Umschweife.

      «Das Leben ist endlich, Marlene, selbst hier. Aber für di wird es guat weitergehn. Ich seh des ganz kloar. Zwei leuchtende Knopfaugen seh i für di, ganz in deiner Näh und für lang. Doch dieser Platz hier, in seiner ganzen Schönheit, er wird bald vergehen.

      Aus wirds sein.»

      Das hörte sie nicht so gern, die Marlene. Das konnte er genau sehen, an der Falte über der Nase. Sie gab es ihm auch gleich zurück:

      «Ich glaube, es wird langsam Zeit, dass du deine Tochter einmal wiedersiehst. In zwei Wochen gebe ich ein Seminar über das Tibetanische Totenbuch. Das wird bestimmt interessant. Lade sie doch ein. Da bist du kaum involviert und trotzdem in ihrer Nähe. Oder vielmehr sie in deiner.», verbesserte sie sich mit einem Seitenblick auf seine Haltung. Instinktiv hatte er die Arme vor der Brust verschränkt. Sie hat ja immer alles gleich gesehen, die Marlene.

      Ja, auch dies ist dann irgendwann geschehen. Sie ist jetzt eine erwachsene Frau, die Johanna. Gegangen mit der Matura, wiedergekommen nach dem Examen als Umwelttechnikerin. Na gut, passt scho. Sie war da und es ist gut gewesen, zumindest fast, beinahe. Ein wenig hat er es verbockt, aber immerhin hatten sie wieder vorsichtigen Kontakt. Allein Marlene sprach nach dem Workshop recht streng mit ihm. Warum er die Chance verpasst hätt, sich mit der Tochter richtig auszusöhnen und zu vertragen, wollte sie wissen. Keine Ahnung. Oder doch, eine Ahnung schon.

      Anstatt zu reden war er dann aufgestanden, hatte sein nacktes Kinn gestreichelt, ging gesenkten Hauptes wie ein begossener Hund in den Maschinenraum zurück, wo er sich deutlich wohler fühlte. Das Leben bewegt sich ständig weiter, alles Neue entsteht auf der Asche der Toten. Da braucht es halt manchmal eine tierische Geduld, mehr als man glaubt zu haben.

      Wenn da nur nicht dieser eine beunruhigende Gedanke wäre, der einen direkt in den Wahnsinn treiben könnt: Jeden Tag schiebt sich das unangenehme, leere Gesicht des Mörders in seine milchig diffuse Wahrnehmung.

      Im Vergleich zu den Todgeweihten in den Zimmern, mit all ihren Ahnen, die sie silbrig transparent umgeben, hinterlässt der Killer einen Abdruck wie ein schwarz-weißer Scherenschnitt, der nie mehr weichen wird.

      Der Forstrat berichtete von den Gesichtslosen, eine Woche, bevor er starb, kurz nach der Heimkehr aus Texas:

      «Diese Figuren, menschlich mag ich sie nicht nennen, sind sehr gründlich», schrieb er. «Sie werden niemals auch nur irgendein Detail dem Zufall überlassen; für sie ist alles immer nur Mathematik -– und keine gute. Eines Tages werden sie kommen, um sich jeglichen kreativen Impuls einzuverleiben, dessen sie habhaft werden können. Im Prinzip nur Neid und Gier, nichts Besonderes, nichts Übernatürliches.»

      Nicht, dass es wirklich um ihn geht, so eitel ist er nicht, das anzunehmen. Aber er ist ein Faktor.

      Es ist so verständlich wie unausweichlich, dass die schwarzen Männer es auf das Goldstück abgesehen haben, das er ganztägig bewacht. Sie müssen den Wächter umbringen, den Schatz stehlen und es gibt kein Entrinnen, damit ihre Welt wieder stimmt.

      An die Erbin, die jetzt erwachsen ist, hat er einen Brief geschrieben, um sie zu warnen. Doch fehlten ihm die Worte, und so malte er ein Bild. Und eins und zwei – und drei. Wahrscheinlich sind es drei. Es sind immer drei, auch wenn er nur zwei von ihnen zu Gesicht bekam.

      Was hat er aus den sieben Jahren nach Mareikes Tod gemacht, da er Johanna allein aufziehen musste? Es ist nie genug! Sei dankbar für das Leben, die Arbeit, die Liebe zu den Menschen, den Meister und den Äther. Das Wichtigste ist, Johanna und das geistige Erbe zu beschützen.

      Irgendwann realisiert er, dass es sich nur noch um Tage oder Stunden handeln kann. So sitzt er abends viel allein in seinem Schuppen, kaut an dem Jausenbrot herum, das ihm Marlene bereitet hat, meditiert über den Dipol und seine beiden Extreme, Plus und Minus, was Elektrizität erzeugt. Anschließend sinniert er weiter über die Analogie von Leben und Tod. Warum es so vielen Menschen, die hierher zum Sterben kommen, so viel besser geht. Als ob der Generator eine Kraft aus dem Raum zöge, an dem auch der Tod seinen Anteil hat, sie den todgeweihten Alten zurückerstattet wie eine späte Dividende, eine Rückerstattung von Energie und Belohnung aus dem Äther. Wie schade. All dies wird nun bald ein Ende finden müssen.

      Aus Gewohnheit streichelt Max in Brusthöhe den imaginären Bart. Nie war er Werden und Vergehen gleichzeitig so nah. Die kleine koffergroße Kiste als Energiequelle in der Ecke sorgt nicht nur für eine veränderte Atmosphäre im Haus, sie verrückt nachgerade die Naturgesetze an ihre richtige Stelle. Und das Verhältnis von Leben und Tod im Hospiz selbst.

      Noch einmal beißt er von dem Brot ab, spült mit einem Schluck Tee nach. Sein Wunsch, mit und in der Neuen Energie zu leben, hat sich erfüllt. 60 Jahre hat es gedauert, einige Menschenleben gekostet, aber er hat jeden Grund, zufrieden zu sein. Mehr ist nicht drin für dieses Mal.

      Seine Tochter existiert, egal, ob sie weiß, was genau er hier treibt, oder eben nicht. Alles ist geregelt. Wenn nur dieses schreckliche Rauschen im Kopf endlich aufhört.

      Heute Abend ist Maskenball. Oder morgen. Atmen Sie durch, junger Mann, kichert er vor sich hin. Solange es möglich ist.

      Max setzt den Strohhut auf, mit dem er hier ankam, findet eine Augenklappe, die er sich über das rechte Auge zieht, dazu noch ein Halstuch, das sein Gesicht halb verdeckt. Kurz prüft er in einem Taschenspiegel an der Wand den Sitz der neuen Verkleidung, nickt zufrieden. Dann hockt er sich auf den Stuhl und wartet darauf, dass die Sonne untergeht.

      Drei Stunden lang schaut er auf den Generator, erfreut sich seiner unglaublich praktischen Schönheit, wird wieder des Berggipfels gewahr, lauscht in die Welt hinein. So verbringt er wartend zwei Tage.

      Am dritten Abend, kurz nach Mitternacht, ist es schließlich so weit.

      Inmitten eines kreischenden Rauschens in seinem Kopf nimmt er wahr, wie ein Auto langsam, fast unhörbar, über den Kiesweg heranrollt.

      Soll gerad kommen, der Herr. Max macht sich bereit. Er hört und sieht das vertraute, blasse Antlitz, lange bevor sein Träger über den Nebeneingang das Haus betritt, imaginiert ihn wie einen alten Bekannten, obwohl er ihn nicht sehen kann, stellt sich schlafend und wartet. In diesem Fall trifft man sich immer dreimal. Vor seinem geistigen Auge erkennt er Hut, Anzug, Sonnenbrille, hat eine genaue Vorstellung von der elektronischen Waffe, die sich der Mörder um die Brust geschnallt hat. So fühlt er ihn kommen – ganz ohne Angst. Dann gehen plötzlich überall die Lampen aus. Max wartet geduldig im Dunkeln, bis sich der Kegel einer starken Taschenlampe auf sein Gesicht richtet.

      «Treten’S doch einfach näher, der Herr, bittschön, kommen’S ruhig. Net so nervös, bitte!»

      Danach geht alles sehr schnell.

      Max lächelt, er kann nicht anders, mit Strohhut, Brille und dem Halstuch muss er wirklich einen verwegenen Eindruck machen. Zwei verkleidete Männer im Dunkel eines Heizungstrakts.

      «Ach, Sie schon wieder, junger Mann, stets im Einsatz, net woahr, net? Und? Was nun? Sie wolln an neues Schmuckstück für Ihre Kollektion, wie ich ahne. Ham’S immer no net den Hals voll? Sagn’S Ihrem Boss, dass es spät worden ist für Sie und Ihre Zeit bald abl…»