Johannas fliegende Fische. Martin Jaeger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martin Jaeger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742788078
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des Pulsgeräts ist Verlass. Er erkennt es am Gang der Leute. Der Pförtner schwankt leicht. So ist es richtig.

      Dritter Stock. Scheck tritt aus dem Fahrstuhl. Aus der geöffneten Tür der Fachbücherei heraus hört er jemanden hantieren. Performance, jetzt. Den Taser stellt er auf halbe Leistung, betritt leise die Bücherei.

      Der Institutsleiter steht vornübergebeugt am Lesetisch. Er wirkt jünger als vermutet. Eine blonde Locke fällt ihm in die Stirn. Konzentriert starrt er auf einen Text in einem kleinen Lederband, blickt irritiert auf, als er den Eindringling bemerkt.

      «Ja, bitte. Was kann ich für Sie tun?»

      «Herr Professor Bulgakov, einen schön guten Morgen. Mein Name ist Scheck, aber das tut nichts zur Sache. Wir – genau genommen Sie – unternehmen nun einen Gang!»

      Mit gemessenen Schritten nähert sich Scheck dem erschrockenen Wissenschaftler, visiert ihn an, zieht dabei den Regler hoch, achtet darauf, ihn frontal in der Herzgegend zu treffen.

      Jeden Zentimeter, den er auf ihn zugeht, verfärbt sich das Gesicht des Physikers mehr. Der Kopf wird rot, röter, Bulgakovs Gesichtszüge verzerren sich zu einer Grimasse, er schwankt bedrohlich. Schweißperlen treten auf seine Stirn, er versucht zu sprechen, bringt nur ein Röcheln hervor. Mit jedem Meter, den der Mörder näher kommt, wechselt sein Ausdruck stärker zwischen Schmerz und Erstaunen. Er will sprechen, bringt keinen Ton hervor, weicht beständig weiter zurück in Richtung Fenster.

      So ist es recht, denkt Scheck. Bulgakov presst die linke Hand auf die Brust. Ungläubig befühlt er sein schmerzend brennendes Herz, das Schecks Hightech-Strahler in die finale Schockstarre zwingt. Die rechte Hand des Professors streckt sich verzweifelt nach hinten Richtung Fensterkreuz, will durch das offene Fenster das Geländer der Feuertreppe erreichen.

      «Tut mir irgendwie leid um Sie …», wispert Scheck wie in einer Gebetsformel. Er sagt es eher zu sich als z seinem Opfer, berührt wie nebenbei die Hosennaht, stellt die Strahlenwaffe auf volle Leistung, «aber nur ein wenig. Es ist nichts Persönliches, verstehen Sie? Nein, wahrscheinlich nicht.»

      Von der Wucht der Strahlen getroffen, prallt der Professor gegen den Fensterrahmen.

      Scheck denkt noch ein leises «Und jetzt … springen, bitte.»

      Im Nu hat die elektronische Welle Bulgakov erfasst. Der Physiker verliert das Gleichgewicht, fällt beim Zurückweichen in einer wie absichtsvoll wirkenden, eleganten Rolle rückwärts seitlich der Feuertreppe aus Schecks Sichtfeld heraus. Der hält nur das Ohr in Richtung Fensteröffnung, die Hand an der Ohrmuschel. Mit einem zustimmenden Nicken registriert er, ein Klatschen und ein gurgelndes Röcheln auf dem Zufahrtsweg des Instituts, gleich neben dem Fahrrad.

      Vorsichtig nähert sich Scheck dem Fensterkreuz. Mit sachkundigem Blick begutachtet er das Resultat seiner Arbeit.

      Auf dem Asphalt liegt der verendende Leib des Akademikers, alle Viere von sich gestreckt. Wenn Scheck die Augen halb zukneift und blinzelt, kann er sehen, wie die Herzgegend Bulgakovs leuchtet. Wie schön, dass er in die Waffe noch ein Erleuchtungselement eingebaut hat. Da ist das Erstaunen größer als der Schock. Außerdem wird es Analytiker und Kriminologen ratlos hinterlassen. So soll es sein. Er ist zufrieden.

      Seufzend raunt er ein «Hmmh» in sich hinein. Dann wendet er sich vom Fenster ab, vergewissert sich auf dem Lesetisch der aktuellen Lektüre des Wissenschaftlers:

       James Clerk Maxwell, Private Aufzeichnungen zur Erforschung der Schwerkraft

      «Nanana, Professore, wer wird denn? Wer macht denn so etwas? Hier wird nicht geschwebt», schüttelt er den Kopf, schaut auf den Buchrücken mit der Signatur und stellt das dünne Bändchen an die korrekte Stelle in die Reihe der Regale mit den Faksimiles des Mathematikers Maxwell zurück. Für heute hat die Erdanziehung erst einmal gesiegt. Auf jeden Fall.

      Durch das Treppenhaus schleicht der Texaner ins Foyer hinunter, verlässt das Institut über den Seiteneingang.

      In der Befriedigung über sein Werk entgeht ihm völlig, dass der Portier aus der Hausmeisterkabine ihm mit einem stummen, beinahe trotzigen Ausdruck, hinterherblickt.

      Cord

      Es war kurz nach 7 Uhr in der Früh, als Cord van Galten mit dem Stuhl aus seiner Portiersloge hinter das Haus in den Innenhof des Physikalischen Instituts zog, seinem angestammten Platz im Sommer.

      Den Kaffeepott in der Hand hatte er sich auf seinem Lieblingsplatz eingerichtet, war aus den verschlissenen Holzschuhen geschlüpft, hatte die derben Wollsocken ausgezogen, die trockenen Füße massiert, Schwielen und Hornhaut gerieben. Wie stets hatte er mit dem linken Auge der lieblichen Morgensonne zugezwinkert, einem flirtenden Galan ähnlich, der frohlockend einem amourösen Rendezvous entgegensieht.

      Anschließend träumte er abwechselnd von der guten, alten Zeit mit dem Meister und von Hanneken, seiner Tochter. Merkwürdig, dass man sich die Vergangenheit im Nachhinein immer schöner phantasiert, als sie wirklich ist, dachte er bei sich.

      Mit dem Ohrensausen, einem ausgemachten Tinnitus, der ihn beim Träumen begleitete, lebte er bereits eine halbe Ewigkeit, zu lange, um das akustische Hintergrundrauschen einer besonderen Aufmerksamkeit zu würdigen. Ungeachtet dessen empfahl sich das gegenwärtige Quietschen, das ihm aus dem Hinterkopf entgegenschlug, nicht gerade als positives Omen für den heutigen Tag. Dafür hörte es sich heute zu gruselig an, mitnichten vertrauenswürdig. Normalerweise waren die Geräusche nicht von zirpenden Grillen zu unterscheiden, doch heute oktavierte sich das Konzert hinter den Schädelknochen nahezu orchestral, schwoll abwechselnd an und wieder ab wie ein Konzert laichender Frösche. Gefährlich, das. Einen Hörsturz konnte er gerade überhaupt nicht brauchen. So lange und ausführlich hatte er sich mit den quietschenden Frequenzen im Innenohr beschäftigt, dass er einen Katastrophentag intuitiv an den analogen Ohrgeräuschen erkennen konnte. Was war heute nur los? Das Grübeln hinderte ihn jedoch keineswegs am Träumen.

      Zu diesem Zweck konzentrierte er sich einfach nur auf seine persönlichen Krafttiere.

      Van Galten visualisierte auf seine entortete, entrückte Weise springende Forellen. Jeden Morgen fantasierte er sich über das Grün der Sträucher direkt in die Sonne hinein, bewegte die Erinnerung an den alten Mühlbach, erinnerte er sich, wie die Fische immer wieder ihr vertrautes Element verließen, um sich schwerelos in die Luft zu schrauben, als suchten sie einen Raum, der nicht zu ihnen gehörte und doch Ziel all ihres Strebens war.

      Das Wissen um den Ursprung des Phänomens hatte ihm in jungen Jahren einen wohlverdienten Höhepunkt mit dem Meister beschert. Wenigstens war es gelungen, ein paar von den verbotenen Ideen zu rekonstruieren.

      Der Forstrat, der Wasserprofessor: Wo wären die Naturforscher heute ohne ihn, ohne seine Entdeckungen? Viktor Schauberger war es, der der Welt unzweideutig klarmachte – mein Gott, das war jetzt auch bald ein Jahrhundert her – dass eine jegliche, dem Menschen dienliche Erfindung dem Naturreich abzuschauen sei! Gesundheit, Wohlstand, das Gedeihen eines Landes würde sich rechtschaffen nur dort einstellen, wo man verstand, wie Wald, Fluss und Wiese ihre Ordnungsprinzipien realisierten – und genau das dann kopierte. Schauberger selbst war zeit seines Lebens gegen den Strom geschwommen, hatte Techniken und Maschinen entwickelt, die im Einklang mit eben diesen Naturgesetzen standen. Wie transportiert die Natur? Wie reinigt sie Wasser, wie macht sie es lebendig? Und vor allem: Wie generiert sie ihre Energie? Welche Aufgabe spielen Sonne, Mond und Sterne?

      Niemals ging es ihm darum, die ewigen Gesetze des Äthers, allemal schöpferisch kreativer Naturraum, zu verbiegen, schon gar nicht, wenn man sie so schlau zu handhaben vermochte, wie er es verstand.

      Die Eigenarten der Natur verstehen, den Kreislauf des Wassers und des Jahres klug nutzen – es hätte so einfach, so gut sein können.

      Die Regel bedeutete jedoch: immer wenn es im großen Stil schöpferisch wurde, kurz vor einem größeren Verständnis, da kamen die Kriege.

      Van Galtens Gedanken flogen hoch in die Bibliothek zu Bulgakov, seinem jetzigen Vorgesetzten, der ihn so dringend benötigte. Ein weiterer Schützling, eine Generation später.

      Von