Magistrale. Robert Lang. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Robert Lang
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753182247
Скачать книгу

      Dennoch hatten sie sich die drei Bleiröhren natürlich angeschaut, sie auch einmal aus ihrem Versteck hervorgeholt und sie aus Neugierde geschüttelt. Aber das hatte nichts gebracht, der Inhalt dieser Röhren blieb für sie ein Rätsel und sie fürchteten sich ein wenig vor der Wärme, die sie abstrahlten.

      Als es jetzt hell wurde, übernahm der zweite Fahrer das Steuer und sein Kollege, der das Fahrzeug sechs Stunden lang durch die Nacht gesteuert hatte, aß ein Stück Fladenbrot, ein wenig Ziegenkäse und ein paar eingelegte Oliven, spülte mit kräftigen Schlucken Wasser nach und kroch dann in die winzige Kabine hinter dem Fahrersitz, um ein Weilchen zu schlafen, sofern das auf dieser holprigen Strecke möglich war.

      *

       Moskau, Weißrussischer Bahnhof

      Arkadij Petrowitsch Wilenkin bahnte sich rücksichtslos seinen Weg durch die Menschenmenge auf dem Vorplatz des „Belorusskij Voksal“, desjenigen der neun Bahnhöfe Moskaus, von dem aus die Züge nach Weißrussland, Polen und Deutschland fuhren.

      Es war kurz vor halb eins nachts und er hatte nur noch knapp fünfzehn Minuten bis zur Abfahrt des Zuges nach Frankfurt.

      In den späten Nachmittagsstunden war er noch in Dubna gewesen, einhundertzwanzig Kilometer nördlich von Moskau, und hatte vorgehabt, am Abend ein paar Stunden an einem Zigarettenkiosk zu arbeiten und etwas Geld zu verdienen. Aber das hatte er dem alten Weksler zuliebe zurückstellen müssen.

      Es war das traurige Schicksal von jungen Wissenschaftlern in der „Neuen Zeit“, sich mit solchen Jobs über Wasser halten zu müssen – gut bezahlte Arbeit im Wissenschafts- oder Technikbereich gab es praktisch nicht mehr, allenfalls Geologen und Ingenieure kamen noch bei den großen Öl- und Gasgesellschaften unter.

      Weksler war aufgeregt gewesen, als er ihm die Speicherkarte gegeben hatte. Er zitterte am ganzen Leib, wie es der Junge noch nie zuvor bei dem alten Mann erlebt hatte. Mit heiserem Flüstern hatte er ihn beschworen, mit dem heutigen Nachtzug nach Deutschland einen ungeheuer wichtigen Brief mitzuschicken.

      Gemeinsam hatten sie im Wissenschaftsclub einen neutralen Briefumschlag gesucht und zuletzt auch gefunden, danach musste Arkadij aufbrechen, da die letzte „Elektritschka“ in die Hauptstadt gegen achtzehn Uhr abfuhr; es war eine Fahrt von fast vier Stunden wegen der vielen Haltestellen, die das Bähnchen - eine Mischung aus Straßenbahn und Nahverkehrszug - langsam machten.

      Auch in der Stunde nach Mitternacht war vor und in dem riesigen Bahnhof eine Menge los. Er musste durch ein endloses Spalier von alten Mütterchen hindurch, um zu den Bahnsteigen zu gelangen. Diese Frauen standen gottergeben den ganzen Tag und die halbe Nacht hier draußen in der Kälte und verkauften alles, was der Reisende brauchen mochte, von selbstgebackenem Brot, echtem Kwass, scharf gewürzter Salami und geräuchertem Fisch, Schnittblumen, selbstgestrickten Mützen und Socken bis zu silbernen Kerzenhaltern und Kinderspielzeug, für das die eigenen Enkel zu groß geworden waren.

      Endlich war er in der Halle und versuchte sich zu orientieren. Der Express nach Frankfurt ging von Gleis eins, dem vom Eingang aus am weitesten entfernten Bahnsteig ab. Im letzten Wagen des Zuges, der schon seit Stunden bereitstand, war das Abteil des Schaffners untergebracht. Als Arkadij den Waggon erreichte, war dort ein munteres Treiben im Gange. Gerade wuchteten zwei junge Männer – Studenten wahrscheinlich wie er selbst – sechs große Kartons hinauf zu Viktor, der sie annahm und ins Innere des Zuges schaffte. Arkadij fragte den einen der Männer, was in den Kartons sei. „Bücher. Mehrsprachige Fachlexika“ antwortete der Junge. „Die kosten bei uns nur ein paar Rubel, sind aber in Deutschland sehr teuer. Ein Freund verkauft sie dort an Buchhandlungen, Universitäten und Bibliotheken. Ein gutes Geschäft für alle.“

      „Aha.“

      Fünf Minuten vor Abfahrt des Zuges hatte Viktor seine Geschäfte abgewickelt. Man erzählte sich unter der Hand, dass er auf einer einzigen Fahrt nach Deutschland und wieder zurück mehr als tausend Dollar verdiente. Das war etwa das Sechsfache dessen, was er im Dienste der Staatsbahn an monatlichem Gehalt erhielt. Er schmuggelte alles, was ihm unterkam, von Krimsekt bis zu wertvollen Ikonen, vom roten und schwarzen Kaviar bis zu antiken Handfeuerwaffen für deutsche Sammler, die man gelegentlich auf Moskauer Flohmärkten kaufen konnte und die im Ausland einen hohen Gewinn erzielten. Und auf dem Rückweg brachte er Dinge mit, die in Deutschland preiswert, dafür in Moskau aber fast unerschwinglich waren, hochpreisige Parfums zum Beispiel, die neuesten Geräte von Apple oder Samsung, Computerzubehör, oder schwer zu beschaffende Ersatzteile für was auch immer.

      Bei der Bahn war er jetzt seit neunzehn Jahren, und in dieser Zeit hatte er es zu solchem Wohlstand gebracht, dass er im Sommer mit einem hellblauen Mercedes Cabrio durch die Straßen Moskaus fuhr. Jedenfalls munkelte man dies in seinem Kundenkreis - gesehen hatte es noch keiner.

      Viktor war stets guter Laune, so auch jetzt, da er mit dem Zählen eines dicken Bündels Geldscheine fertig war und Arkadij erblickte, der respektvoll gewartet hatte, bis dieser sich ihm zuwandte. In seiner grauen Uniform und der Schirmmütze mit dem roten Stern auf der Stirnseite sah er aus wie ein kleiner General: er war allerdings auch mit dieser Mütze auf dem Kopf kaum größer als einen Meter sechzig.

      „Nur ein Briefchen heute, Viktor Mosejewitsch“, sagte Arkadij, „es wird bei Ankunft des Zuges abgeholt, der Empfänger weiß Bescheid. Was schulde ich dir?“

      „Gib mir fünf Dollar“, erwiderte Viktor und nahm den Brief entgegen. Er musste einen ziemlich guten Tag gehabt haben.

      „Vielen Dank, das ist sehr freundlich. Der Brief ist wichtig, bitte achte gut auf ihn.“

      Das hätte er besser nicht gesagt, denn der Schaffner runzelte die Stirn und fragte, ob er schon jemals nicht gut auf etwas achtgegeben hätte. Arkadij errötete, aber die peinliche Situation währte nur kurz, denn die große Bahnhofsuhr Uhr zeigte jetzt null Uhr vierzig an.

      Viktor zückte seine Pfeife, ließ einen durchdringenden Pfiff ertönen und winkte theatralisch mit seiner Kelle. Es konnte losgehen. Vierunddreißig Stunden bis Frankfurt.

      Gott mochte wissen, wie Viktor es schaffte, all seine Konterbande über drei Staatsgrenzen zu schaffen, ohne je von Zöllnern drangekriegt zu werden. Es war zu vermuten, dass er sie mit allerlei kleineren Geld- oder Sachgeschenken fürs Wegsehen belohnte, aber auch das wusste niemand so genau.

      Arkadijs Job jedenfalls war getan, er konnte, wenn es auch spät war, zu seiner Freundin fahren, die letzte Metro fuhr in wenigen Minuten.

      Er hatte keine Ahnung, was auf dem SD-Chip, der jetzt unterwegs nach Deutschland war, Weltbewegendes sein mochte. Auf seine Frage hatte der alte Weksler ihn nur mit den durch seine dicken Brillengläser grotesk vergrößerten Augen angestarrt und geflüstert (obwohl kein Mensch in der Nähe war), es sei besser für ihn, wenn er das nicht wisse. Hätte er den Alten nicht seit frühester Kindheit gekannt, dann hätte er ihn für übergeschnappt gehalten. Aber er respektierte den Großvater seines besten Freundes und schwieg deshalb, trotz des unguten Gefühls, das er dabei hatte.

      *

       Frankfurt am Main

      Igor hasste es, wenn er vormittags aufstehen musste, seine beste Zeit waren die Abende und die Nächte, was ihn gelegentlich in Schwierigkeiten brachte, ob es nun an der Uni war, wo er Termine einhalten musste; oder in einem seiner schnell wechselnden Jobs oder haarigen Geschäfte und Geschäftchen.

      Aber die Mail seines Freundes Arkadij hatte nach einem echten Notfall geklungen, wenn er auch kein Wort über den Inhalt des Briefes – der von seinem Großvater in Dubna war – hatte verlauten lassen. War der liebe alte Mann etwa ernsthaft erkrankt? Er war weit jenseits der Siebzig und in diesem Alter konnte man nie so recht wissen, was die eigene Biologie einem als Stolpersteine in den Weg legte. Dennoch hätte es ihn gewundert, denn sein Großvater war vital und kerngesund gewesen, als er ihn im vergangenen Sommer besucht hatte.

      Jetzt war es elf Uhr und er tastete blind nach seinem Wecker, der die hässliche Angewohnheit besaß, jedes Mal nach fünf Minuten wieder aufs Neue zu klingeln, wenn man die Mühe scheute, sich aufzusetzen, das Licht anzumachen und ihn komplett