In dem Studentenwohnheim im Stadtteil Hausen gab es nur Etagenduschen, aber die geringe Miete, die er hier zu zahlen hatte, machte dieses Manko wieder wett. Er duschte fünf Minuten lang abwechselnd heiß und kalt, trocknete sich ab und ging zurück zu seinem Zimmer, um sich anzuziehen.
Er hatte Hunger, aber nichts im Kühlschrank, und so beeilte er sich, zum Bahnhof zu kommen, wo er ein Schinkenbrötchen oder Croissant bekommen würde.
Linie sechs brachte ihn zur Hauptwache und er stieg dort um in eine S-Bahn Richtung Hauptbahnhof; es war zwölf Uhr fünfzehn, als er dort ankam, es blieb ihm reichlich Zeit für ein kleines Frühstück, denn der Zug aus Moskau, fahrplanmäßige Ankunft um zwölf Uhr einundvierzig, hatte eine Verspätung von circa zwanzig Minuten, wie ihm die elektronische Anzeigetafel verriet.
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Bei Nowgorod, Russland, an der Magistrale 10
Laschtunow hielt am Seitenstreifen und breitete eine Landkarte auf seinem Schoß aus. Er war bis kurz vor Nowgorod gekommen und wollte dort übernachten. Er hatte die Wahl gehabt zwischen dem Hotel Intourist und dem Park Inn by Radisson, und er hatte Letzteres gebucht, obwohl die Übernachtung dort fast dreimal so viel kostete. Er hatte – den Rückweg eingerechnet – noch mehr als viertausend Kilometer zu fahren, und er wurde für diese Reise so gut bezahlt, dass er sich einen gewissen Luxus erlauben konnte. Ein wenig Angst machte ihm die auf seiner Tour notwendige Fährverbindung, denn er fühlte sich auf Schiffen nie besonders wohl. Das musste er in den Genen haben, denn sowohl seinen Vater als auch seinen Großvater hatte niemand jemals auf ein Schiff bekommen, woran vor langer Zeit einmal ein Auswandern der Familie nach Amerika gescheitert sein sollte.
Er hätte fliegen oder den kürzesten Weg von Moskau nach Frankfurt nehmen können, mit seinem winzigen Röhrchen Polonium wäre er sehr wahrscheinlich durch jede Zollkontrolle gekommen.
Aber dieser Vermittler („Sehen Sie in mir einfach einen Vermittler, der im Auftrag einer hochgestellten Persönlichkeit handelt.“), der ihn für das bezahlte, was er tat, hatte seinen eigenen Kopf gehabt und darauf bestanden, dass Laschtunow die umständliche Route über die Ostsee und die skandinavischen Länder benutzte; warum, das mochte der Teufel wissen. Aber es war nicht seine Sache, darüber nachzudenken. Der Araber – oder was immer er sein mochte – bezahlte die Musik, also durfte er auch erwarten, dass nach seiner Pfeife getanzt wurde.
Sein Auftraggeber hatte ihn so viel wissen lassen, dass der Inhalt dieses unscheinbaren, versiegelten Reagenzgläschens durchaus dazu in der Lage war, ein paar tausend Menschen zu vergiften, und obwohl Laschtunow schon seit langem nicht mehr im Wissenschaftsbetrieb tätig war, hatte er von dieser Materie aus seiner Zeit als Laborant am Moskauer Kurtschatow-Institut doch eine ziemlich genaue Vorstellung; und die ließ es glaubhaft erscheinen. Es gab solche Gifte (und ein bestimmtes Polonium-Isotop gehörte definitiv dazu), von denen schon ein paar Milli- oder gar Mikrogramm furchtbare Vergiftungen verursachten.
Aber auch das war nicht sein Problem, das Zeug in dem Röhrchen sah aus wie normale Asche, vielleicht ein wenig heller als diese, aber die Konsistenz stimmte. Es konnte an den Grenzen, die er zu überschreiten hatte, durch Messgeräte des Zolls nicht aufgespürt werden, und für den unwahrscheinlichen Fall, dass man es in seinem Auto finden und ihn danach fragen würde, hatte er eine plausible Erklärung bereit: Er war Chemiker und wollte einer finnischen (später schwedischen, dann dänischen und zuletzt deutschen) Firma ein Patent zur nahezu rückstandslosen Verbrennung von Plastikmüll zum Kauf anbieten, das er kürzlich angemeldet hatte. Diese Firmen gehörten zu den europäischen Marktführern für den Bau von Müllverbrennungsanlagen und waren an seiner Erfindung interessiert. Die Einladungen zu einer Präsentation vor Ort, die er in vier verschiedenen Versionen in seiner Brieftasche mitführte, waren beinahe echt, eine Kopie des Patentantrages sowie weitere hilfreiche Dokumente hatte er parat.
Er hatte eine Menge Zeit. Der Vermittler, der ihm fünfzigtausend US-Dollar für seine Fahrt bezahlte, hatte ihm in Grenzen freigestellt, wann er fuhr. Es gab eine Deadline, die lag in der zweiten Märzhälfte, ansonsten konnte er planen, wie er wollte.
Morgen sollte er es nach Wyborg und von dort auf dem Landweg nach Helsinki schaffen, unter Vermeidung einer Überfahrt über die „Finnische Pfütze“ (wie Russen das Baltische Meer etwas despektierlich nannten).
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St. Petersburg, Untersuchungsgefängnis des FSB
Kuljamin saß auf der schmutzigen Pritsche in seiner winzigen Zelle und ließ den Kopf hängen. Seit fast drei Tagen hatte niemand mehr mit ihm gesprochen, er bekam morgens eine dünne Suppe, einen Kanten harten Brotes und einen kleinen Krug Wasser, das nach Seife schmeckte. Abends war es dasselbe, was ihn aber nicht weiter störte, denn er hatte ohnehin nur sehr wenig Hunger oder Durst. Er registrierte, dass ihm seine Häscher selbst heute, am Vorabend von Väterchen Stalins Todestag, nicht einmal ein Stückchen Kuchen oder ein kleines Gläschen Wodka gönnten. So war es auch vorgestern gewesen, an seinem eigenen Geburtstag - niemand hatte ihm gratuliert, und er hatte eine Menge Zeit für nutzloses Grübeln gehabt.
Seine Gedanken wanderten ruhelos in seiner Vergangenheit umher, rührten hier und da an nicht Erreichtem, dann wieder suchten ihn Bilder einer Zukunft heim, in der er am Strand einer karibischen Insel in der Sonne lag und dunkelhäutige Kellnerinnen ihm köstliche Cocktails servierten. Das wäre seine Zukunft gewesen (was ein Konjunktiv Plusquamperfekt war, wusste er noch aus fernen Schulzeiten), und diese Zukunft war vorbei, bevor sie angefangen hatte.
„Sie wollten uns also Ihre Frau und Ihre Tochter hierlassen? Ohne ihnen auch nur einen einzigen Rubel von Ihren Millionen zu gönnen? Gratuliere, Sie sind ja ein Pfundskerl.“
Ihr hättet ihnen doch sowieso alles wieder weggenommen, hatte er sagen wollen, es aber dann lieber für sich behalten, obwohl doch ohnehin nichts mehr zu retten war.
Der Vernehmer war ein widerlicher Kerl, wäre Kuljamin nicht schon immer so feige gewesen, hätte er ihm das breite Grinsen aus dem Gesicht geprügelt. Diese Drecksäcke brachten einen dazu, sich als der miese Hund zu fühlen, der man - in seinem persönlichen Fall - wohl auch war.
Seltsamerweise schlugen sie ihn nicht und verschonten ihn von jeglicher anderer Folter, aber Kuljamin argwöhnte, dass es noch zu früh war, darüber zu frohlocken.
Sie kamen in tiefster Nacht, gegen halb vier morgens, und leuchteten ihm mit einer starken Taschenlampe ins Gesicht.
Kuljamin hatte wach in der Dunkelheit seiner Zelle gelegen, unfähig, einzuschlafen, und als er ihre Gesichter sah, glaubte er zu wissen, was nun folgen würde, denn war es nicht seit uralten Zeiten so, dass sie nachts kamen, um einen zu holen?
Seltsamerweise war seine größte Sorge, dass er sich bei seiner Hinrichtung in die Hose machen würde. Sein eigener Tod war etwas zu Abstraktes, er konnte sich ihn ebenso wenig vorstellen wie eine Welt, aus der er einfach wegretuschiert worden war. Er würde gleich ohne große Umstände eine Kugel oder den Strick bekommen. Für Leute wie ihn hatten sie immer nur Kugeln oder Stricke.
Er irrte sich gewaltig.
Sie gaben ihm seinen Anzug und seine Schuhe (samt Hosengürtel, Krawatte und Schuhbändern) zurück und forderten ihn auf, ihnen zu folgen. Über einen Hinterausgang ging es hinaus auf einen unbeleuchteten Parkplatz, wo einer der Männer einen altersschwachen Schiguli aufschloss. Sie wiesen ihn an, einzusteigen, und als er auf der Rückbank saß, ängstlich und im Unklaren darüber, was aus dieser Aktion werden sollte, fuhren sie los, durch die nächtlichen, beinahe menschenleeren Straßen St. Petersburgs.
Nach zwanzig Minuten erreichten sie den Flughafen, eben denjenigen, der Kuljamin vor ein paar Tagen zum Verhängnis geworden war. Nachdem sie den Wagen auf einem Langzeitparkplatz abgestellt hatten, nahmen sie ihn in ihre Mitte und steuerten auf die Abflughalle zu, in der trotz der frühen Stunde reges Treiben herrschte. Einer seiner Bewacher verschwand für ein paar Minuten und überreichte dem verdutzten Ex-Direktor bei seiner Rückkehr