Magistrale. Robert Lang. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Robert Lang
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753182247
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er selbst habe nur Handlangerdienste in dessen Auftrag geleistet. Von seinem Schmiergeld erzählte er nichts, aber das tat an seiner Stelle der in St. Petersburg festgesetzte ehemalige Direktor, der, als er einmal anfing zu reden, dies mit einer solchen Hingabe und Geschwätzigkeit tat, als erwarte ihn am Ende eine fette Belohnung und ein Orden.

      Der Ingenieur hatte Pech. Normalerweise wäre er festgenommen und in einem Eilverfahren unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu fünfzehn Jahren verschärfter Haft verurteilt worden. Aber die Truppe, an die er geriet, tickte anders; diese Kerle machten keine Gefangenen.

      Er wurde von drei Männern ohne große Umstände zu einer nahegelegenen Kiesgrube gefahren und dort mit einem Schuss in den Hinterkopf getötet; seine Leiche übergossen sie mit Benzin und zündeten sie an – in ihren Augen konnte man es sich nicht leisten, ihn vor Gericht zu stellen, denn es konnte kaum eine größere Demütigung für die ehemalige Weltmacht geben als das Bekanntwerden der Tatsache, dass sie nicht einmal dazu in der Lage war, auf ihr atomares Spielzeug aufzupassen.

      Ein paar wenige brauchbare Informationen enthielt auch Kuljamins wortreiches Geständnis in St. Petersburg. Da war zunächst der Vermittler, den der Direktor genau beschreiben konnte und der mit Sicherheit arabischer oder zumindest „irgendwie nahöstlicher“ Herkunft gewesen war.

      Die Höhe des „Kaufpreises“ ließ bei den Verhörspezialisten, die inzwischen hinzugezogen worden waren, keinerlei Zweifel daran aufkommen, dass es sich bei den Kunden nicht um ein paar hungerleidende Mudschaheddin oder Taliban handelte, sondern dass hinter diesem Beschaffungsvorgang potente Geldgeber, privat oder institutionell, stecken mussten.

      „Sie sollten sich in nächster Zeit von Deutschland fernhalten, mein Freund“, äffte Kuljamin die Sprechweise des Vermittlers nach.

      Gegen Deutschland als Zielort sprach scheinbar die Aussage des alten Fahrers, der sich erinnern konnte, nachts auf dem Parkplatz ein kasachisches Nationalitäten-Kennzeichen am Heck des Lastwagens gesehen zu haben, der die Fracht übernahm.

      Die FSB-Leute überlegten hin und her, was dies wohl zu bedeuten hatte, und etwas später wurde ihnen klar, dass selbst dann, wenn das Material den Weg nach Süden nahm, es dennoch für Westeuropa bestimmt sein konnte. Der Weg war kompliziert und langwierig, führte über Kasachstan, Usbekistan, Afghanistan und Pakistan zum Indischen Ozean und von dort aufs Schiff, das alles war mühselig und gefährlich, aber zweifellos machbar.

      Vielleicht fühlten sich die Käufer sicherer, wenn sie möglichst schnell „islamischen Boden“ unter die Füße bekamen. In muslimisch geprägten Staaten konnten sie eher auf Hilfe rechnen als in Ost- oder Mitteleuropa, wo sie schon wegen ihres Äußeren in Schwierigkeiten geraten konnten.

      Die Aussagen Kuljamins und des Fahrers lösten bei den Geheimen hektische Betriebsamkeit aus. Alle Übergänge von der weißrussischen bis zur chinesischen, von der finnischen bis zur ukrainischen Grenze, besonders aber alle offiziellen und einige weniger offizielle Grenzübergänge zum südlichen Nachbarn Kasachstan wurden alarmiert. Sämtliche Lastwagen und Kleintransporter – dafür musste massenhaft zusätzliches Personal herangekarrt werden – sollten sorgfältig kontrolliert werden; besonders auf doppelte Böden unter den eigentlichen Ladeflächen war zu achten. Gesucht wurden neun hellgraue Metallröhren in einer Aluminiumverkleidung, jede mit einem Gewicht von – grob geschätzt - fünfunddreißig Kilogramm und so warm, dass man sie gerade noch anfassen konnte, ohne sich die Finger zu verbrennen. Die Fahrer des gesuchten Wagens konnten bewaffnet sein, und wenn sie sich gegen eine Festnahme – die grundsätzlich erwünscht war – wehren sollten, sei von der Schusswaffe Gebrauch zu machen. Die besagten Röhren (um was es sich bei ihnen und ihrem Inhalt tatsächlich handelte, verschwieg man aus Gründen der Staatsräson und aus Menschenverachtung gegenüber Zöllnern und Fahndern) durften in keinem Falle geöffnet, sondern sollten nur sichergestellt werden. Diesbezügliche Meldungen waren umgehend an folgende Dienststelle zu richten, und so weiter. Besonders unwohl war den Ermittlern bei dem Gedanken daran, dass die Regierung eingeweiht werden musste, wenn sich kein schnelles Ergebnis einstellte.

      Und obwohl beim FSB der Verdacht aufkam, dass es bereits zu spät für all diese Aktivitäten war, gab man die Hoffnung nicht auf, die Täter noch innerhalb der russischen Grenzen fassen und damit ein Überschwappen der ganzen Angelegenheit aufs Ausland vermeiden zu können.

      Von Tscheljabinsk bis in die grenznahe Stadt Oral waren es etwas mehr als eintausend Kilometer, und die Übernahme der Fracht hatte vor gut fünf Tagen stattgefunden – der Laster konnte längst über die Grenze gegangen und irgendwo in den Weiten der kasachischen Steppe untergetaucht sein.

      Und ab dann wäre es keine Angelegenheit des FSB mehr, sondern fiele in die Zuständigkeit des SWR, des ebenfalls Anfang der Neunzigerjahre aus dem KGB hervorgegangenen Auslandsnachrichtendienstes, der bis jetzt über dieses himmelschreiende Debakel noch nicht einmal informiert worden war.

      Zweites Kapitel

       Dubna, Region Moskau, Kernkraftanlage

      Iossif Wladimirowitsch Weksler, sechsundsiebzig Jahre alt, kerngesund und rüstig wie ein gut erhaltener Endfünfziger, saß in seinem kleinen Büro neben dem Reaktorraum des Kraftwerkes und versuchte, das Online-Kreuzworträtsel einer großen Moskauer Tageszeitung zu lösen. Er tat dies seit zwanzig Jahren an jedem Freitag und er fand, dass es seinen grauen Zellen gut tat. Die Arbeit, die er hier seit seiner Pensionierung vor elf Jahren verrichtete, war nicht dazu geeignet, geistig rege zu bleiben; man musste sich andere Herausforderungen suchen, um nicht völlig zu verblöden.

      Aber er war der Letzte, der sich über seinen Job beklagt hätte, bekam er doch in diesem Laboratorium, wo er fünfunddreißig Jahre lang seinem Beruf als Ingenieur nachgegangen war, sein Gnadenbrot und durfte jeden Tag für einige Stunden herkommen und kleinere Büroarbeiten am PC verrichten, anstatt in seiner Wohnung einsam vor sich hin und seinem Ende entgegen zu vegetieren. „Zuhause sterben die Leute“, pflegte er zu sagen, und er mied sein Bett wie der Teufel das Weihwasser, wie das viele ältere Menschen taten.

      Als Wissenschaftler brauchte man ihn in dieser Anlage freilich schon lange nicht mehr, und – wenn er ehrlich war – hatte er auch nie sonderlich viel auf dem Kasten gehabt, wenn er es am manchmal erdrückenden Lebenswerk seines Vaters maß, des berühmten Wladimir Iosiffowitsch Weksler, der in den Fünfziger- und Sechzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts als Direktor dieser Anlage tätig gewesen war und in dieser Zeit die Verantwortung für den Bau eines der weltweit ersten Ringbeschleuniger trug.

      Er hatte sein wissenschaftliches Genie allerdings nicht an seinen einzigen Sohn weitergereicht, was daran liegen mochte, dass er diesen kaum einmal zu Gesicht bekam; sein Vater ruinierte bei der Arbeit seine Gesundheit und starb mit nur neunundfünfzig Jahren an purer Erschöpfung.

      Seine Begabung für die Wissenschaften legte eine Pause von zwei Generationen ein und zeigte sich erstaunlicherweise erst wieder bei seinem Urenkel Igor, der momentan am Institut für Theoretische Physik der Universität Frankfurt promovierte und ein vielversprechender junger Gelehrter war - wenn er seinen manchmal bodenlosen Leichtsinn irgendwann in den Griff kriegen würde, dachte sein Großvater, der sich mehr Sorgen machte als seine beiden Enkel ahnen mochten. Doch er wusste auch, dass Sorglosigkeit ein Vorrecht der Jugend war und beließ es – wenn er ihn einmal zu sehen bekam oder ihm schrieb – bei milden Ermahnungen.

      In der Familie Weksler war seit vielen Generationen Deutsch gesprochen worden (eigentlich seit Ausgang des 18. Jahrhunderts, als es einen Balthasar Wechsler mit seiner Familie von Augsburg an die Wolga zog), was es seinen beiden Enkeln leicht gemacht hatte, aus der russischen Provinz auszubrechen und in Deutschland Fuß zu fassen. Er gönnte es ihnen von Herzen, und er wusste, dass sie richtig gehandelt hatten – hier in dieser Einöde gab es kaum eine Perspektive für einen begabten Physiker oder eine talentierte Designerin wie Igors Schwester Katja, und Moskau war ein Moloch, der seine Kinder fraß.

      Seine Enkelin arbeitete nun schon fast ein Jahr lang im Büro eines Frankfurter Architekten mit internationaler Reputation und verdiente dabei so gut, dass sie mit ihrem Gehalt ihren chronisch klammen Bruder jeden