Weksler trug gerade die Lösung eines langen Wortes senkrecht in das Rätsel ein, als ein Piepen ihm den Eingang einer E-Mail anzeigte.
Er brauchte einige Sekunden, um zu merken, dass diese Nachricht nicht für ihn bestimmt war, sondern für den hiesigen Bonzen des FSB, und zwar streng geheim, wie die Titelleiste besagte.
Solche Irrläufer kamen häufiger vor, da die Mitarbeiter dieses Komplexes, vom Direktor bis zu den Physikern, von den Ingenieuren bis zu den Hausmeistern, der Verwaltung und sogar den Sicherheitskräften Mailadressen besaßen, die ähnliche Ziffernfolgen enthielten. Er selbst hatte eine 159, und er bekam mindestens einmal im Monat Irrläufer, die eigentlich für den ehemaligen KGB (195) oder für das Materiallager (158) gedacht waren.
Eine streng geheime Nachricht hatte er allerdings noch nie erhalten, und nun kratzte er sich nun am Kinn und überlegte, ob er diese Mail wie gewöhnlich ungelesen an den richtigen Adressaten weiter leiten oder ob er einen winzig kleinen Blick in das Dokument wagen sollte. War es Neugier (die bekanntlich der Katze Tod war) oder war es Langeweile (eigentlich eine Todsünde in seinen Augen), später konnte er es nicht mehr sagen – er tat den fatalen Doppelklick und bekam bereits nach den ersten Sätzen, die er las, heftiges Herzklopfen.
Der Text war bestimmt für alle FSB-Standorte, in deren dienstlicher Umgebung mit radioaktiven Stoffen gearbeitet wurde, und er forderte die jeweiligen Niederlassungen auf, stante pede eine umfassende Inventur alles spaltbaren Materials zu veranlassen und etwaige Fehlmengen, vor allem bei Plutonium und Strontium, aber auch bei Cäsium und zwei oder drei anderen Stoffen an diese und jene Adresse durchzugeben.
Das Pamphlet enthielt wohlweislich keinen Hinweis auf Polonium, denn das durfte es in der Anlage Majak aufgrund internationaler Abkommen schon seit ein paar Jahren nicht mehr geben. Es wurde offiziell nur noch in geringen Mengen von etwa 100 Gramm pro Jahr in der Anlage Sarow gewonnen und nach Kanada und die USA exportiert, wo es zu industrieller Anwendung kam.
Hintergrund für die angeordnete Inventur war – so die Nachricht weiter - der höchst unverschämte Diebstahl einer großen Menge radioaktiver Substanzen aus einem streng bewachten Atomkomplex am Ural, was aber absolut vertraulich sei und was der Empfänger dieser Botschaft unbedingt diskret zu behandeln habe, ansonsten drohe ihm eine Anklage wegen Hochverrats.
An dieser Stelle begann Weksler zu schwitzen und er bedauerte es aufrichtig, das Dokument auch nur geöffnet zu haben. Dennoch las er weiter, wie unter Zwang.
Der Föderale Sicherheitsdienst, wie er sich verniedlichend nannte, hatte den Dieb gerade noch erwischt, als er ein Flugzeug ins Ausland bestiegen hatte, und man hatte ihn umfassend verhört; nach einer vorläufigen Analyse hielt man es für ziemlich sicher, dass das Material von islamistischen Fanatikern gekauft worden war und dazu benötigt wurde, in Frankfurt am Main für Terrorzwecke eingesetzt zu werden; und zwar als Rache für den Beschuss einer afghanischen Schule durch einen amerikanischen Kampfbomber, der von einem deutschen Nachrichtenoffizier fehlgeleitet worden war.
Im Anhang, den der alte Weksler öffnete (er war, als er Frankfurt als möglichen Anschlagsort las und dabei an seine Enkel dachte, unvorsichtig genug, auch das zu tun), befand sich lediglich der Scan eines unausgefüllten Musterformulars für Inventuren.
Gestohlenes Plutonium? Cäsium? Strontium? Kobalt? In Frankfurt? Das war Wahnsinn!
Ohne recht zu wissen, was er tat, schob Weksler einen SD-Chip in den entsprechenden Schlitz seines Rechners und kopierte Mail und Anhang. Der Junge würde die Brisanz dieser Angelegenheit sofort erkennen, aber Weksler wagte es nicht, ihm die schreckliche Nachricht als E-Mail zu senden oder ihn gar anzurufen, denn dann wäre der Aufenthaltsort seines Enkels für die Schnüffler vom FSB nur zu leicht herauszufinden.
Aber es gab einen anderen Weg.
Er konnte ihm die Speicherkarte mit den Informationen per Eisenbahn schicken, mit der Hilfe eines Moskauer Zugschaffners, der für gutes Geld so ziemlich alles nach Deutschland (und umgekehrt von Deutschland nach Russland) schmuggelte, was es zu schmuggeln gab. Einen Brief würde er für zehn oder zwölf Dollar mitnehmen, was nicht billig war, aber stets sehr zuverlässig. Der Mann hatte einen Ruf zu verteidigen.
Weksler – ein russischer Großvater, der das Wohl seiner Enkel im Sinn hatte und nur Schaden von ihnen fernhalten wollte – entnahm dem PC den SD-Chip, vergaß unverzeihlicher Weise, die ursprüngliche E-Mail an den eigentlichen Empfänger weiterzuleiten, fuhr den Computer herunter und begab sich schnellen Schrittes zum „Dom Kulturij“, einer Art Verbindungshaus für Physiker, Chemiker, Ingenieure und sonstige Mitarbeiter der Atomanlage Dubna, wo er einen jungen Mann aufsuchen wollte, der mit seinem Enkel Igor studiert hatte und der jeden zweiten Nachmittag nach Moskau fuhr, weil er dort eine Freundin hatte.
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Frankfurt-Sossenheim
Katarina („Katja“) Alexejewna Achmatowa steckte jedes Mal in einem Dilemma, wenn ihr Telefon tagsüber klingelte. Wenn sie nicht abhob, dann ließ sie möglicherweise ihren väterlichen Freund im Stich, der sie kurzfristig besuchen wollte. Ging sie aber an den Apparat, dann lief sie in Gefahr, dass es ihr Bruder Igor war, und dann war sie in Erklärungsnot, wenn er fragte, warum sie nicht im Büro sei und was sie mitten in der Woche zuhause mache. Meistens murmelte sie dann etwas wie „freien Tag genommen“ oder „leichte Erkältung, aber nichts Dramatisches“, und er gab sich damit zufrieden. Ewig würde das nicht mehr gutgehen, und sie nahm sich vor, sich in nächster Zeit ein Telefon mit einem funktionierenden Anrufbeantworter anzuschaffen, denn der jetzige war seit Monaten kaputt.
Sie würde vor Scham im Erdboden versinken, wenn ihr jüngerer Bruder eines Tages herausfand, woher das Geld stammte, das sie ihm Monat für Monat zusteckte.
Sie wunderte sich schon seit einiger Zeit darüber, dass er ihr noch nicht auf die Schliche gekommen war. Er müsste sich an den fünf Fingern einer Hand abzählen können, dass das Gehalt, das sie für ihren Job im Büro bezog, nicht immer wieder aufs Neue für eine solch großzügige Unterstützung ausreichen konnte.
Aber Igor war ein Bruder Leichtfuß, der solche Berechnungen gar nicht erst anstellte, eine unverbesserliche Frohnatur, die voller Vertrauen durchs Leben stürmte und keinen Gedanken an morgen oder gar übermorgen verschwendete, was für einen angehenden Wissenschaftler allerdings ein recht merkwürdiger Charakterzug war.
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Oral, Kasachstan
Sie waren um zwei Uhr morgens aufgebrochen. Schon vor knapp einer Woche hatten sie die kasachische Grenze ohne Zwischenfall überschritten. In Oral, der ersten größeren Stadt auf ihrem Weg, saßen sie lange Zeit über wegen schlechten Wetters fest; ein Aufenthalt, der nicht geplant war, aber es wäre zu riskant gewesen, auf den nicht geräumten Nebenstraßen weiterzufahren, die der „Mann mit dem vielen Geld“, wie sie ihn untereinander nannten, für sie ausgesucht hatte. Dieser Mann, der alles zu wissen schien, ging davon aus, dass man in Kasachstan nach ihnen fahnden würde, das aber nur auf den wenigen großen Magistralen, die durch das riesige Land führten.
Sie fuhren jetzt durch eine Gegend, die im Sommer Sumpflandschaft war, und in der es dann unerträglich heiß werden konnte; wo die Moskitos einen schier auffraßen, wenn man nicht Gesicht, Arme und Beine dick mit Diesel aus dem Tank des Lasters einschmierte, was als einziges Mittel half, was einem aber die Haut kaputtmachte, wenn man es zu oft tat.
Jetzt gab es hier nur tote, gefrorene Einöde, von einem Horizont bis zum anderen. Kein Tier war zu sehen, nichts verschaffte dem Auge Abwechslung.
Die beiden Fahrer, Kasachen, aber keineswegs fanatische Muslime, machten diese Fahrt für Geld und nicht, um Allah und seinem Propheten zu gefallen. Sie wussten nicht Bescheid über die gefährliche Last, die man ihnen aufgebürdet hatte, und der Vermittler hatte ihnen eingeschärft, die Röhren auf keinen Fall zu öffnen. Andernfalls würden sie bestraft werden und kein Geld bekommen. Und sie hielten sich daran, denn wer