Wie dem auch sei, er fühlte sich gut und seinem tödlichen Schicksal schon beinahe entronnen, bis es am letzten Tag hinaus aufs Meer ging und sich seine Angst wieder meldete, ohne dass er hätte sagen können, warum.
Champagner und Wodka floss in Strömen und ab und zu fingen sie wirklich einen Fisch, wobei es sich meist um Goldmakrelen handelte, die sie - begleitet von lautem Grölen - wieder ins Meer warfen, weil sie nichts mit ihnen anzufangen wussten.
Allmählich fragte sich Kuljamin, was sie mit den drei Eimern blutiger Köder vorhatten, die bestialisch stinkend in der prallen Sonne standen, aber er wagte nicht danach zu fragen.
Die Antwort dämmerte ihm, als er sich über die niedrige Reling beugte und knapp unterhalb der Wasseroberfläche die mächtigen Schatten sah, die das Schiff umkreisten. Sein Herz machte ein paar stolpernde Zwischenschläge und ihm wurde mit einem Male schlecht.
„Na, Sie Auswanderer, genießen Sie unseren kleinen Ausflug?“ Der Chef seiner Entführer kam mit einem Drink in der Hand und einem seiner Schlägertypen im Schlepptau zu ihm hinüber. Er schaute ebenfalls ins Wasser und der zitternde Kuljamin wusste, was der andere sah.
„Sind das Haie?“ Die Stimme des Ex-Direktors klang, als hätte er reines Helium eingeatmet.
„Oh ja, die gibt es hier in rauen Mengen, wir haben uns schlau gemacht; Zitronenhaie, harmlose graue Riff-Haie, aber auch Blau- und Tigerhaie, die sich für unser kleines Spielchen besser eignen.“
Er gab seinem Handlanger ein Zeichen, und dieser kam mit einem der Eimer an die Reling und schüttete die blutigen Fischreste über Bord. Sofort kam Bewegung in das Wasser unter ihnen, mehrere Haie stürzten sich auf die Köder, als hätten sie seit Wochen nichts mehr zu Fressen bekommen. Kuljamin schrie vor Entsetzen auf, er glaubte, sich übergeben zu müssen, und seine Knie wollten nachgeben.
„Sie haben nicht ernsthaft erwartet, dass wir Sie zurück nach Hause mitnehmen würden? Was erwartet Sie dort schon außer einem Genickschuss oder lebenslanger Lagerhaft? Auf unsere Art hatten Sie immerhin noch ein paar schöne Tage, nicht wahr? Nehmen Sie es sportlich, Mann!“
Der muskulöse Schläger kam auf Kuljamin zu und drückte ihn gegen die alles andere als stabile Reling. Der Alte wollte um Gnade winseln, aber sein Hals war wie zugeschnürt und er brachte keinen Ton mehr heraus. Die Augen quollen ihm beinahe aus den Höhlen und er hob die Hände zu einer schwachen Gegenwehr, die ihm freilich nichts nutzte. Das Gesicht seines Mörders war jetzt nur noch Zentimeter von ihm entfernt und er konnte eine widerliche Mischung aus Schweiß, Knoblauch und Wodka riechen. Dann packte ihn der Mann an den Hüften, hob ihn scheinbar mühelos hoch und warf ihn ins Wasser.
So hartgesotten diese Killer auch waren, das Schauspiel, das sich ihnen jetzt bot, wollten sie lieber doch nicht mit ansehen und deshalb drehte die Yacht bei und fuhr zurück in Richtung Hafen, noch bevor die Haie mit dem alten Mann fertig waren.
Drittes Kapitel
Russland, Moskauer Kreml
Im Büro des Präsidenten hinter den Mauern des Moskauer Kreml war es für einen Moment totenstill, nicht einmal von draußen drang irgendein Geräusch in das riesige Zimmer, in dem sechs Männer saßen, die eine Krise eingrenzen wollten, wie es sie lange nicht gegeben hatte.
„Können wir leugnen?“ fragte der (faktische) Regierungschef in das unbehagliche Schweigen hinein.
„Im Moment geht das noch. Aber wir müssen uns den Jungen in Deutschland vornehmen. Er hat das Dossier, in dem unmissverständlich steht, was geschehen ist. Mitsamt unserer Schlussfolgerungen, Weg, Zielort und Verwendungszweck betreffend. Ich kann sofort eine Operation in Gang setzen...“ Der SWR-Mann war der Einzige im Raum mit einem Anflug von Tatendrang.
„…also ist die einzige Gefahr für uns ein russischer Student, der in Deutschland lebt, richtig?“ Der Präsident unterbrach den Chefstrategen für europäische Angelegenheiten, der ihm direkt unterstellt war und der zu langen Vorträgen neigte, wenn man ihn nicht bremste.
„Bisher ist das wahrscheinlich so, Wladimir Semjonowitsch.“
Der Analytiker war der einzige Mann im Raum, der den nahezu allmächtigen Herrscher aller Reußen mit Vor- und Vatersnamen ansprechen durfte. „Es sei denn, er hat sein Wissen bereits verbreitet.“
„Dann kommt es also nur auf Tempo und schieres Glück an?“
„Richtig, Herr Präsident.“ Der Außenminister, der bisher geschwiegen hatte, meldete sich zu Wort.
Allen Anwesenden war bewusst, was auf dem Spiel stand. Würde die restliche Welt erfahren, dass die russische Regierung nicht in der Lage dazu war, auf ihren nuklearen Brennstoff aufzupassen, dann wären nicht nur alle bilateralen Abrüstungsgespräche mit den Amerikanern sowie sämtliche Nichtverbreitungsabkommen infrage gestellt. Der Präsident und seine Leute wären das Ziel von weltweitem Hohn und Spott, was auch zu innenpolitischen Problemen führen konnte; denn das russische Militär war nicht für seinen Humor bekannt und wurde traditionell schnell unruhig, wenn es sich von der Politik bloßgestellt oder schlecht vertreten fühlte.
Würden tatsächlich in Mitteleuropa unglaubliche einhundertzwanzig Kilogramm radioaktiver Substanzen in die Luft gejagt werden, dann könnte das für Russland den teilweisen Verlust seiner bisherigen Rolle auf der weltpolitischen Bühne bedeuten (ganz abschreiben konnte man es natürlich nicht, dafür besaß es zu viele Rohstoffe und eine viel zu große militärische Stärke). Aber die Stellung auf Augenhöhe mit Amerikanern, Europäern und Chinesen, für die die jetzige Regierung über viele Jahre gekämpft hatten, wäre auf längere Sicht dahin.
Russland stünde wieder am Anfang. Als unberechenbarer Bösewicht, als der gefürchtete Russische Bär, der die Kontrolle über sich selbst verloren hatte und der deshalb die Welt und den Weltfrieden bedrohte.
Der Präsident war blass und hatte die Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Wer ihn kannte, wusste, dass dies kein gutes Zeichen war. Er wandte sich wieder an den Geheimdienstchef.
„Wie sicher sind Sie, dass der Transport über Kasachstan und Usbekistan erfolgt?“
„So sicher man nur sein kann, Herr Präsident. Der festgenommene Direktor des Lagers, der unselige Kuljamin, hatte Todesangst, als wir ihn verhörten. Er hatte nicht den Mut, uns zu belügen.“
„Wo ist der Mann im Moment? Oder haben Sie ihn etwa schon hingerichtet?“
Der SWR-Chef druckste ein wenig herum. „Er ist momentan im Ausland, mit drei zuverlässigen Bewachern. Wir wollen das Geld, das er für seinen Diebstahl bekommen hat, für unser Land sichern. Sie verstehen, elfeinhalb Millionen US-Dollar sind für uns keine Kleinigkeit, aber um an das Geld zu kommen, muss der Kontoinhaber persönlich bei dieser Bank vorsprechen. Und die residiert bedauerlicherweise auf den Cayman Islands.“ Der Mann wand sich vor Verlegenheit.
Der Präsident sah aus, als wolle er vor Wut in tausend Stücke zerspringen. Während im winterlichen Moskau wegen dieser Katastrophe die Welt unterzugehen drohte, machte sein Geheimdienst Urlaub in der Karibik! Hässliche rote Flecken verunzierten sein Gesicht und ließen ihn aussehen wie einen bösartigen Clown.
„Gut, ich werde mit Astana und Taschkent telefonieren. Ich denke, dort können sie uns helfen, den Transport vor der afghanischen Grenze zu stoppen, denn danach wären wir – Sie wissen das selbst - beinahe hilflos.“ Er hatte sich gesammelt und war wieder ganz Autorität.
„Erstens, ab sofort gilt folgende Sprachregelung: