Er hatte mit einem marokkanischen Informanten aus der gewaltbereiten Szene in einem äthiopischen Restaurant namens Adabar zu Abend gegessen, sie hatten sich ausgetauscht und nach dem Essen getrennt das Lokal verlassen.
Da er selbst äußerst vorsichtig zu Werke gegangen war und sicher sein konnte, dass man ihm nicht zu diesem Treffen gefolgt war, blieb als einzige Erklärung, dass sein Kontaktmann aufgeflogen war und jetzt in höchster Gefahr schwebte.
Vor ihm regte sich ein Schatten, er feuerte zweimal und wurde mit einem erstickten Aufschrei und einem nachfolgenden Fluch belohnt.
Etwa zehn Meter entfernt von dem offenbar Getroffenen sah er Mündungsfeuer und zugleich zischte eine Kugel nur wenige Zentimeter an seinem rechten Ohr vorbei. Er musste seine Position aufgeben und sich einen anderen Unterschlupf suchen, bevor ihn die beiden verbliebenen Männer ins Kreuzfeuer nehmen konnten.
Er musste ohnehin schleunigst weg von hier, die Schüsse hatten wahrscheinlich längst Anwohner aufgeschreckt und es war eine Frage der Zeit, bis die Polizei eintreffen würde. Benson hatte nicht das leiseste Bedürfnis, deutschen Behörden Rede und Antwort zu stehen, denn das würde nur zu Verwicklungen führen, die weder er noch seine Dienststelle gebrauchen konnten.
Er kroch auf allen Vieren zur Seite und richtete sich erst auf, als er sich zwanzig Meter von seinem Versteck entfernt hatte. Wieder fiel ein Schuss, der ihm aber lediglich bewies, dass seine Gegner dieses Manöver noch nicht bemerkt hatten. Er lief tief gebückt weiter, ein Güterwaggon bot ihm provisorischen Schutz. Als er wieder zurück spähte, glaubte er zu erkennen, dass sich die zwei Männer auf das Versteck zubewegten, das er gerade aufgegeben hatte. Er war versucht, auf die Schatten zu schießen, aber aus dreißig Metern Entfernung und bei diesen Lichtverhältnissen war die Aussicht auf Erfolg gering.
Sein Informant musste so schnell wie möglich diese Stadt verlassen, sonst war sein Leben keinen Pfifferling mehr wert. Er hatte die Amerikaner fast vier Jahre lang mit erstklassigen Informationen versorgt, mehr als gut genug, um sich von ihnen jede Hilfestellung verdient zu haben.
Er sorgte dafür, dass zwischen ihm und seinen Verfolgern stets der schützende Waggon war. Dann machte er so rasch und so leise wie möglich, dass er weg kam. In der Ferne vernahm er Polizeisirenen, die schnell näher kamen.
Mike Benson wusste, wann er zu rennen hatte.
*
St. Petersburg, Flughafen Pulkowo II
Sie holten ihn aus Reihe 26 des Airbus 319, als die Flugbegleiterin die Passagiere bereits mit den Sicherheitsvorkehrungen an Bord vertraut machte. Lufthansa-Flug LH 2567 von St. Petersburg über München nach London wurde Sekunden vor dem Start zurückgepfiffen und der Flieger in eine Parkposition gelenkt, aufgrund eines geringfügigen technischen Problems, wie der Co-Pilot lapidar mitteilte.
Sie kamen zu zweit, und der Ältere von beiden bat Kuljamin mit gesenkter Stimme, mitzukommen und den Flieger zu verlassen, ohne Aufsehen zu erregen. Dem brach der Schweiß aus, und um ein Haar hätte er angefangen zu weinen.
Er hatte eigentlich schon an der Sicherheitsschleuse festgehalten werden sollen, aber der Beamte, dem das an alle Flughäfen und Grenzübergänge gefaxte Fahndungsfoto vorlag, hatte eine tageszeitbedingte lange Leitung gehabt (es war noch nicht einmal halb sechs morgens), und der Groschen war bei ihm erst gefallen, als der Gesuchte schon im Flugzeug saß und sich beinahe in Sicherheit wähnte.
Kuljamin alias Danilow war im Grunde seines Herzens ein zutiefst feiger Mensch, und deshalb war es für die Männer vom Föderalen Sicherheitsdienst, der aus der Inlandsabteilung des legendären KGB hervorgegangen war, nicht nötig, ihn psychisch unter Druck zu setzen oder ihn gar zu foltern, denn er gestand schneller als sie ihn befragen konnten. Und als die Ermittler die ganze Geschichte kannten, fingen sie ihrerseits an zu schwitzen.
Wie Kuljamin erfuhr, waren sie ihm schon seit Dienstag auf den Fersen gewesen; genauer, seit der Stunde, in der seine Frau nach einem Streit mit ihrer Schwester früher heimgekehrt war als geplant. Sie vermisste ihn, rief zuerst im Werk an, wo sie ihn zu Unrecht vermutete, und direkt danach bei der Miliz, um ihn als vermisst zu melden. In ihrer überdrehten Vorstellung konnte eine solch eminent wichtige Persönlichkeit wie ihr Göttergatte nur entführt worden sein; dagegen sprach allerdings schon bei oberflächlicher Betrachtung, dass es bis zum späten Dienstagvormittag keine Lösegeldforderung gab. Auch ein etwaiges Bekennerschreiben lag nicht vor.
Aber, und das war wichtiger: Die heulende Gattin musste den Ermittlern des FSB (die den Fall schnell an sich gerissen hatten, weil es sich ganz offensichtlich um ein Problem der Inneren Sicherheit handelte) gestehen, dass der einzige Lederkoffer, den das Ehepaar besaß, verschwunden war, ebenso wie ein Anzug, drei Oberhemden, etwas Unterwäsche, ein Paar Schuhe und unzählige Paar Socken. „Er hat schlimme Schweißfüße“, sagte sie beschämt.
Auch sein Reisepass fehlte, wie sie nach einigem Herumwühlen in den Schubladen seines Schreibtisches feststellte und den Männern voller Angst und mit aufkeimendem Verdacht mitteilte. Das sah nun mehr danach aus, als hätte ihr Mann die Kurve gekratzt und sie einfach sitzen gelassen, eine Interpretation der Geheimpolizisten, der sie energisch widersprechen wollte, es aber nicht konnte, weil ihre Tränen alles erstickten, was sie zu sagen versuchte.
Der folgerichtig nächste Schritt der Agenten war, am Arbeitsplatz des Flüchtigen weiter zu forschen. Zunächst prallten sie dabei auf eine Wand des Schweigens. Niemand wusste etwas, keiner hatte etwas bemerkt oder gar bei etwas Verbotenem mitgemacht. Lediglich die Wache, die in der Nacht von Freitag auf Samstag Dienst gehabt hatte, konnte ihnen sagen, dass der Direktor das Gelände gegen halb vier morgens verlassen hatte, eine höchst ungewöhnliche Zeit für jemandem, der in jahrelanger Routine am Freitagmittag gegen vierzehn Uhr ins Wochenende ging.
Derselbe Wächter erkannte die Zeichen der Zeit und informierte die Männer geflissentlich darüber, dass kurz nach Mitternacht ein Lastwagen das Gelände verlassen hatte, der mit sauberen Papieren Altöl zu einer Recycling-Anlage nach Tscheljabinsk bringen sollte. Er habe das Fahrzeug routinemäßig kontrolliert und es hatten sich wie angegeben neun Fässer darauf befunden, mit entsprechender Etikettierung.
„Altöl-Entsorgung an einem Freitag um Mitternacht, bist du denn völlig bescheuert?“ schrie einer der Vernehmer den konsternierten Wachposten an.
„Aber der Transportschein trug Unterschrift und Stempel des Direktors“, war die kleinlaute Antwort.
„Idiot!“
So wurde am Dienstagnachmittag eine außerplanmäßige Inventur des Lagers durchgeführt. Um ein Haar wäre dabei das Fehlen des Poloniums nicht entdeckt worden, denn der Oberingenieur – der mit fünfzigtausend Dollar geschmierte Alexander Borissowitsch Kunklin – hatte an dessen Stelle eine harmlose, äußerlich aber sehr ähnliche Substanz an die entsprechende Lagerstelle schaffen lassen.
Aber einer der subalternen Ingenieure hatte eine ganze Reihe verdächtiger Lagerbewegungen bemerkt, und zunächst dazu geschwiegen, um es sich nicht mit seinen Vorgesetzten zu verderben. Und das meldete er nun zerknirscht den staatlichen Kontrolleuren. Die waren entsetzt. Es fehlte nicht nur das Polonium, sondern auch unterschiedliche Mengen an Plutonium 239, Strontium, Barium Beryllium, Iridium sowie an den harten Gammastrahlern Cäsium 137 und Kobalt-60, alles in allem ein mehr als einhundertzwanzig Kilogramm schwerer Eintopf mit unterschiedlichen Graden an Radioaktivität und Zerfallszeiten und so vermischt, dass diese Suppe bis zu ihrer weiteren Verwendung maximal mögliche Stabilität behielt.
Das war – so bemerkte einer sarkastisch – mindestens so viel spaltbarer Stoff, wie ihn dieser durchgeknallte Diktator in Pjöngjang besaß - und schon dieser erpresste die halbe Welt mit dem Zeug.
Man nahm sich den leitenden Ingenieur nochmals zur Brust, und der gestand nach kurzem Zögern die Tat, weil er