„Okay, lass uns das im Auge behalten; soweit ich weiß, haben wir schon öfters versucht, diesem Knilch etwas anzuhängen - es hat aber nie geklappt. Entweder liegen wir schief oder der Kerl ist wirklich clever. Ich gehe aber jetzt trotzdem erst einmal essen, wenn du nichts dagegen hast.“
„Du bist und bleibst ein Vielfraß.“
„Du mich auch, Amigo mío.“
*
Moskau, Hotel Ismailowo
Die Fähigkeit, in Zügen oder Flugzeugen zu schlafen, war Gennadij Wassiljewitsch Kuljamin nicht gegeben, und so kam es, dass er sich bei seiner Ankunft in Moskau am frühen Abend vor Erschöpfung mehr tot als lebendig fühlte. Er schaffte es mit Mühe, am Weißrussischen Bahnhof, wo er aus Smolensk kommend eingetroffen war, ein Taxi zu ergattern, und wäre dann auf der halbstündigen Fahrt zu seinem Hotel im Nordosten der Stadt beinahe eingeschlafen, weil der Fahrer die Heizung bis zum Anschlag aufgedreht hatte.
Als er beim Einchecken an der Reihe war und der junge Mann an der Rezeption wie üblich seinen Pass verlangte, öffnete er seine Brieftasche, schob ein paar Geldscheine über den Tresen und bat darum, seinen Ausweis behalten zu dürfen, da er diesen für Geschäfte in der Stadt benötige. Es schien keine außergewöhnliche Bitte zu sein, denn der junge Mann steckte das Geld routiniert in die Tasche seiner Uniformjacke und fragte ihn lediglich nach seinem Namen.
Kuljamin nannte ihm den, der in seinem neuen Pass stehen würde; der Hotelangestellte trug ihn anstandslos ein und gab ihm die Schlüsselkarte für sein Zimmer im dreizehnten Stock. So erprobte der Ex-Direktor erstmals und ganz vorsichtig seine neue Identität, und er fühlte sich dabei ein wenig verrucht und bärenstark.
Oben angekommen packte er seinen Reisekoffer aus, hängte die Kleider ordentlich auf Bügel und dann in den Schrank, der kleinere Koffer mit dem Geld – noch fast zweihunderttausend US-Dollar und trotzdem nur ein Bruchteil seines neuen Vermögens – wanderte in den Zimmersafe.
Euphorie überkam ihn trotz aller Müdigkeit und er spielte mit dem Gedanken, sich eine Flasche Champagner und eines der blutjungen Mädchen, die er vor dem Hoteleingang und in der Lobby hatte herumlungern sehen, aufs Zimmer zu bestellen. Warum nicht? Er war ein freier Mann, der niemandem mehr Rechenschaft schuldete.
Aber ehe er noch zu Ende überlegt hatte, ob er dieses Vorhaben ausführen sollte, war er in den Kleidern, in denen er angekommen war, bereits eingeschlafen.
Am nächsten Abend war Kuljamin, der künftig nur noch auf den Namen Alexander Michailowitsch Danilow hören würde, mit sich zufrieden. Er hatte den Mut aufgebracht, die Höhle des tschetschenischen Löwen zu betreten und das beabsichtigte Geschäft abzuschließen. Ganz geheuer war ihm nicht gewesen, als er sich dem Kellerlokal näherte, das man ihm genannt hatte. Schon zwanzig Meter vor dem Gebäude wurde er von zwei grobschlächtigen Kerlen, wahrscheinlich Kaukasiern, gründlich gefilzt und nach seinem Anliegen befragt. Dann wollten sie sein Geld sehen, nahmen ihm dieses zu seiner Überraschung aber nicht weg, sondern ließen es ihn wieder einstecken.
Man hatte ihm weitere vierhundert Dollar abgenommen, weil er es offensichtlich eilig hatte (und wahrscheinlich auch, weil man ihm seine Angst ansehen konnte), aber das kümmerte ihn nicht. Morgen um die Mittagszeit konnte er den neuen Pass abholen, noch in derselben Nacht würde er im „Roten Pfeil“ sitzen, einem Expresszug, der ohne Zwischenhalt die gut siebenhundert Kilometer zwischen Moskau und St. Petersburg in etwa fünf Stunden zurücklegte.
Dort angekommen, vom „Moskauer Bahnhof“ aus, hatte er vier Stunden Zeit, um zum südlich von St. Petersburg gelegenen Flughafen Pulkowo II zu gelangen und seinen Flug nach London zu bekommen. Von England aus konnte er – wenn er wollte - direkt in die Karibik weiterfliegen, wo seine üppige Rente schon auf ihn wartete.
Aber er fühlte sich momentan in seiner neuen Haut so überlegen und so unangreifbar, dass er mit dem Gedanken spielte, noch ein paar Tage in London zu verbringen, wo er nie zuvor gewesen war. Piccadilly Circus, Trafalgar Square, der Buckingham Palace, die Tower Bridge – Sehenswürdigkeiten, die er nur von Bildern her kannte, und von denen er in der trostlosen Einöde seiner zunehmend unglücklichen Ehe immer vergebens geträumt hatte, weil seine Frau das wenige Geld, das er nach Hause brachte, anstatt für Reisen auszugeben lieber in neue Garderobe oder teure Restaurantbesuche investierte, um es „den Nachbarn wenigstens ab und zu mal so richtig zu zeigen“.
Nun aber konnte sich ein von Grund auf erneuerter Kuljamin jedes Fünf-Sterne-Hotel der teuren Stadt an der Themse leisten, und dieser Gedanke erregte ihn ebenso sehr wie der Gedanke an die käuflichen Mädchen vor dem Hotel. Heute würde er nicht einschlafen, das Leben war zu kurz, um jemals wieder eine Gelegenheit zu verpassen. Er griff zum Telefon und bestellte georgischen Champagner und ein paar russische Vorspeisen.
*
Moskau, Zentrale des Inlandsgeheimdienstes FSB
Das Telefon klingelte nicht, sondern signalisierte den eingehenden Anruf nur durch das Blinken eines kleinen Lämpchens.
„Ja.“
„Wir haben ein Problem, das wir mit normalen Mitteln nicht in den Griff bekommen.“
„Moment…so, Sie können sprechen. Die Leitung ist steril. Worum handelt es sich, Adler?“
„Das Lager in Majak ist beklaut worden. Vom eigenen Direktor, wie es vorläufig aussieht. Es geht um große Mengen an kritischem Material. Das Zeug soll das Land verlassen, vermutliches Ziel Westeuropa. Nicht auszudenken, was passiert, wenn das gelingt.“
„Weiß Aljechin schon Bescheid?“
„Ja, er steht hinter uns und verschafft uns oben Deckung, solange wir uns nicht in der Öffentlichkeit erwischen lassen.“
„Bleiben Sie in der Leitung, Adler.“
Ein leises Summen ertönte, während der Koordinator mit seinem Vorgesetzten sprach, einem Oberst und früheren Teilnehmer am erfolglosen Afghanistanfeldzug.
Nach einer Minute war er zurück.
„Code Schwarz, Adler. Ich wiederhole, Code Schwarz. Sie haben alle Vollmachten. Die Softballspieler im Team werden zurückgehalten, solange es geht. Sollte Aljechin seine Meinung ändern, dann wird sofort abgebrochen, verstanden? Der Präsident weiß wie immer von nichts.“
Das Gespräch wurde beendet.
*
Heidelberg, Gelände eines Rangierbahnhofs
Schweiß brannte in seinen Augen, während er versuchte, vor sich etwas zu erkennen. Die Nacht war mondlos und es war fast vollständig dunkel, nur in einiger Entfernung sah man hier und dort Beleuchtung in den Fenstern von Wohnhäusern.
Es waren drei, ihr Alter war schwer zu schätzen, wahrscheinlich Mitte zwanzig bis Ende dreißig. Sie waren mit halbautomatischen Pistolen bewaffnet, mit denen sie auch umgehen konnten, wie er vor ein paar Minuten erfahren musste, als eine Kugel ihn am linken Ärmel gestreift hatte.
Die drei gehörten einer extremen muslimischen Bruderschaft an, hinter der die CIA auf deutschem Boden schon seit langer Zeit her war, weil sie wahrscheinlich Anschläge auf amerikanische Bürger und Einrichtungen plante. Man hatte ihn auf sie losgelassen, weil man den deutschen Behörden seit 2001 nur noch sehr bedingt traute, was die Identifizierung islamistischer Gewalttäter und der Hassprediger hinter ihnen anging. Und dass diese Leute tatsächlich gefährlich waren, hatte die NSA in Fort Meade anhand abgefangener E-Mails und mitgeschnittener Telefonate dokumentieren können.
Mike Benson war ausgebildeter CIA-Außenagent mit etlichen Jahren Einsatzerfahrung auf nahezu allen Kontinenten, momentan aber an die SECURE „ausgeliehen“, die vorwiegend mit der Terrorbekämpfung in Europa betraut war. Die derzeitige amerikanische Regierung hatte Lehren aus dem chronischen Versagen ihrer Geheimdienste gezogen und war deshalb bestrebt,