Nachdem die Ladung verstaut war, gab er dem Russen ein Zeichen, dass er verschwinden könne, und wandte sich dann an die beiden anderen Fahrer, um sie nochmals zu instruieren. Sie sollten ihn am Tscheljabinsker Flughafen absetzen und dann auf der Magistrale 1 nach Süden fahren. In einer kurzzeitig angemieteten Garage nahe einer Kleinstadt, etwa sechzig Kilometer von diesem Parkplatz entfernt, war ein weiterer Treffpunkt vereinbart worden. Dort wurde die Fracht endgültig aufgeteilt und auf den langen Weg nach Deutschland gebracht.
Wenn die Fahrer nicht bummelten und sich regelmäßig abwechselten, war es trotz eingeplanter Umwege und auf schlechten Straßen eine Sache von nicht mehr als fünf Tagen, das Land zu verlassen.
Das Röhrchen mit dem Polonium würde der Vermittler selbst nach Moskau mitnehmen, wo er in Richtung Saudi-Arabien umstieg. Am Flughafen sollte ihn sein vierter und letzter Kurier treffen und ein bis zwei Wochen nach der Übergabe mit einem gewöhnlichen PKW in Richtung Finnland aufbrechen, um von dort über Schweden und Dänemark nach Deutschland weiterzureisen. Grigorij Laschtunow hieß der Mann, er hatte angeblich Vorfahren in der finnischen Stadt Lahti, daher auch sein Familienname und sein hellblondes Haar.
Yassir Hossein hatte – ganz in Sinne seines Auftraggebers – redundant geplant. Wenn nur die Hälfte des von ihm bereitgestellten Giftes seinen Bestimmungsort erreichte, war es mehr als genug.
In spätestens vierundzwanzig Stunden würden reichlich einhundertzwanzig Kilogramm radioaktiven Materials – genug für mehrere „schmutzige“ Bomben - sowie ein kleines Röhrchen mit tödlich giftigem Polonium auf vier verschiedenen Routen auf dem Weg nach Frankfurt am Main sein, dem Wohnort eines Bundeswehrsoldaten, der vor acht Wochen einen großen Fehler gemacht hatte, indem er den Amerikanern in Afghanistan den Tipp gab, ein Gebäude zu bombardieren, welches sich später als Schulhaus herausstellte.
Sollte Direktor Kuljamin mit seinem Diebstahl schon in den nächsten drei oder vier Tagen auffliegen, so würde Hossein das erfahren und seine Fahrer alarmieren, bevor sie die Landesgrenzen zu überschreiten versuchten. In einem solchen Fall sollten sie sichere Schlupfwinkel ansteuern und warten, bis der Pulverdampf an den Grenzen sich wieder gelegt hatte. Der tödliche Anschlag auf Frankfurt lief niemandem davon, sie hatten Zeit und konnten sich notfalls wochenlang eingraben und nichts anderes tun als warten.
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Atomanlage Majak
Noch-Direktor Kuljamin saß am Schreibtisch seinen kleinen Büros, wo er in den vergangenen siebzehn Jahren seine Pflicht erfüllt hatte. Er würde es nicht vermissen; nicht dort, wohin er jetzt ging.
Es war wohl so etwas wie Ironie des Schicksals. Seine Frau hatte ihm in den letzten Jahren mal mehr, mal weniger die Hölle heiß gemacht, weil er nicht zu den Männern gehört hatte, die vom Ende der Sowjetunion profitierten, indem sie in die neu entstehende Privatwirtschaft mit ihren traumhaften Gewinnchancen eingestiegen waren. Wie oft hatte sie ihm vorgerechnet, dass heutzutage eine Sekretärin in Moskau mehr verdiente als er, der sein ganzes Leben im Staatsdienst zugebracht hatte? Hundertmal? Tausendmal?
Und was tat er? Er schwieg, machte ab und zu Schulden, um ihr ein paar ihrer kostspieligen Wünsche erfüllen zu können, wenn sie wieder einmal zu lautstark lamentiert hatte. Dabei litt er leise, aber ausdauernd vor sich hin, träumte von Sonne und Palmen und trank mehr, als für ihn gut war.
Mit seinen fast vierundsechzig Jahren – er war drei Tage vor Stalins Tod geboren – war er Kind seiner Zeit geblieben und in den Denkmustern der alten Sowjetunion gefangen, wo Eigeninitiative und der Mut zum Risiko als sozial auffällig galten und bestenfalls in die innere Emigration führten.
Und dann, an einem frostigen Tag Anfang Januartag, bot sich ihm die einmalige Chance in Person dieses Vermittlers, der aus dem Nichts kam und ihm das anbot, was ein Mensch wie er sich als Paradies auf Erden vorstellte.
Zwölf Millionen Dollar (plus eine halbe für seine Komplizen) für einhundertzwanzig Kilogramm nuklearen Brennstoffes, stark und mittelstark strahlendes Material, das Zeug, das für schmutzige Bomben taugte, und von welchem Kuljamin in diesem mithilfe der Amerikaner erbauten Lager etliche Tonnen verwahrte und vor etwaigen Dieben zu beschützen hatte.
Gegen Diebe von außen, nicht aber von innen, wie sich jetzt zeigte, aber dafür, dass er ihnen das vorführte, bekam er keinen Orden, sondern bestenfalls einen Genickschuss auf irgendeinem nächtlichen Hinterhof, wenn sie seiner habhaft wurden. Sicher würden sie ihn vorher foltern. Eine Gänsehaut durchlief seinen Körper jedes Mal, wenn er daran dachte. Hatte er das alles noch im Griff? Taugten seine Pläne und Vorkehrungen? Hielten seine Nerven diesen Druck lange genug aus? Es würde sich zeigen. In einer Woche war er entweder frei und sehr wohlhabend – oder sie schnappten ihn und er war so gut wie tot.
Um sich abzulenken, nahm er eines der Geldbündel, die ihm sein geheimnisvoller Geschäftspartner heute als zweite Rate mitgebracht hatte. Die erste Anzahlung hatte er größtenteils dafür aufgewandt, diejenigen Mitarbeiter und Wächter zu schmieren, ohne deren Mithilfe oder Wegsehen ein solches Unterfangen nicht möglich war. Er begann, die Hundert-Dollar-Noten zu zählen. Sie waren bankfrisch und fühlten sich gut an in seinen Händen.
Er dachte wieder an seine Frau. Wenn die sehen würde, was er jetzt sah, würde sie einen bühnenreifen Zusammenbruch erleiden. Wie würde sie reagieren, wenn in ein paar Tagen der FSB vor ihrer Tür stand und sie darüber unterrichtete, dass ihr vermeintlich so feiger und phantasieloser Gatte, dieser Versager, eines der größten Schurkenstücke des einundzwanzigsten Jahrhunderts aufgeführt und sie alle geleimt hatte.
Ein Blick zur Uhr, die über dem Porträt des aktuellen russischen Präsidenten hing und die auch schon über dem von Breschnew gehangen haben musste - der Fahrer sollte bald zurück sein.
Kuljamin musste in spätestens einer Stunde mit seiner Dienstlimousine nach Tscheljabinsk aufbrechen, wo um sechs Uhr dreißig sein Zug abfuhr. Er hatte einen normalen Schnellzug gewählt, für den er ein nicht personalisiertes Ticket kaufen konnte; es würde deshalb keinen Beweis dafür geben, dass er diesen Zug benutzt hatte. Bei einem der modernen Expresszüge wäre das anders, denn dort stünde sein Name auf dem Fahrschein und wäre deshalb auch im Computer der Staatsbahn gespeichert.
Eigentlich war es überflüssige Vorsicht, weil er einen Vorsprung von mehreren Tagen haben sollte, aber er fühlte sich besser, wenn er ein paar Schlenker machte und zuerst nach Samara fuhr, von dort nach Smolensk im äußersten Westen Russlands flog und schließlich mit einem weiteren Zug in Moskau ankam, wo er ab übermorgen ein Zimmer im Hotel „Ismailowo“ am Ismailowskij Park gebucht hatte.
Er hatte einen Tipp bekommen, und er hoffte, dass sich dieser als richtig erwies. Er sollte einen echten Reisepass für nicht mehr als achtzehnhundert Dollar bekommen; die Adresse des Fälschers, der ein Angehöriger des tschetschenischen Untergrunds war und der in der Nähe der U-Bahn-Station Kiewskaja in einem Kellerlokal arbeitete, trug er bei sich. Es würde keine dummen Fragen geben, Kuljamin brauchte nur ein Passbild und genügend Geld mitzubringen, die Daten seiner gewünschten neuen Identität auf einen Zettel zu kritzeln und die Hälfte des Preises vorab zu entrichten. Achtundvierzig Stunden später konnte er das Dokument abholen, sein Ticket in die ersehnte Freiheit.
Es war zwei Uhr vierzig und er hörte schlurfende Schritte auf dem Gang. Der Fahrer war zurück. Außer ihm hatte um eine solche Uhrzeit niemand mehr etwas in diesem Teil des Gebäudes zu suchen. Der Direktor sprang auf und empfing den Mann an der Tür, damit dieser die dicken Geldbündel auf dem Schreibtisch nicht zu sehen bekam.
„Vsjo v parjadke?“
„Da, konjeschno.“ Es war alles in Ordnung. Kuljamin atmete auf.
Fünfzig Einhundert-Dollar-Noten wechselten den Besitzer, der Fahrer strahlte übers ganze Gesicht, wobei ein paar faulige Zahnstummel sichtbar wurden. Wer