Das Phänomen. Karin Szivatz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karin Szivatz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754171868
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„Das hast du altes Ekel gar nicht, aber mich hat der Weihnachtsmann zu dir gebracht und deshalb bin ich verdammt, auf ewig bei dir zu bleiben!“

      Taylor warf sich auf sie, doch sie wich geschickt aus und war auch schon aus dem Bett. „So gern ich jetzt mit dir raufen würde, aber ich kann nicht“, beteuerte sie. „Mach mir lieber einen starken Tee mit viel Milch und Liebe!“, flötete sie und ließ ihm als Dank einen Blick auf ihr nacktes Hinterteil gewähren.

      Bei den Elms herrschte tiefe Trauer, die schon am renovierungsbedürftigen Gartenzaun deutlich zu fühlen war. Als wäre das ganze Haus in eine dicke, schwarze Wolke aus Trauer, Tränen und Abschied gehüllt, die ihren Inhalt in voller Intensität auf die Bewohner vergoss. Das Innere des Hauses empfand Rosalie als so düster und beklemmend, als würde sie der Verstorbenen einen Besuch in ihrem Grab abstatten. Man kann auch übertreiben, dachte sie und überlegte, ob die alte Dame vierundneunzig oder sechsundneunzig Jahre alt geworden war. Doch noch ehe sie zu einem Ergebnis kam, hing Frieda an ihr und weinte ihre verbitterten Tränen auf die Schulter. „Hätte sie nicht noch ein weiteres Weihnachtsfest mit uns feiern können?“, fragte sie verzweifelt und schluchzte laut auf.

      „Es ist immer viel zu früh, wenn die Eltern von uns gehen; egal, wie alt sie geworden sind. Es tut mir sehr leid, Frieda, sie war ein richtig guter Mensch. Wir alle werden sie sehr vermissen. Sie hinterlässt aber nicht nur eine Lücke, sondern auch ihr Licht, das sie zu Lebzeiten verbreitet hat. Erfreuen wir uns daran und denken wir oft in Liebe an sie.“

      Mit diesen Worten löste sie sich von der Trauernden und bahnte sich ihren Weg durch die restlichen Familienmitglieder. Jedem von ihnen schenkte sie ihre stille Anteilnahme.

      Die alte Dame lag friedlich auf dem Rücken und war eindeutig tot. Dennoch überprüfte sie die Pupillenreaktion und schrieb ein EKG, das natürlich nur eine stabile Nulllinie zeigte. Die Totenstarre hatte auch schon eingesetzt und die Totenflecken waren eindeutig am Rücken und Gesäß sichtbar. Jetzt war sie nur noch ein Fall für den Bestatter, ihre Arbeit war nach dem Ausfüllen des Totenscheins erledigt. Sie dachte an die wartenden Patienten, die sich in ihrer Praxis vermutlich schon türmten und verabschiedete sich relativ rasch von den Trauernden, die immer mehr zu werden schienen. Sie hatte das Gefühl, als würde das Haus aus allen Nähten platzen, würde sie noch eine halbe Stunde länger bleiben. Offensichtlich hatte Frieda die ganze Gemeinde von dem tragischen Vorfall informiert oder informieren lassen und sie gleichzeitig eingeladen, von ihrer Mutter Abschied zu nehmen. Ganz gleichgültig, ob sie die Frau näher gekannt hatten oder nicht. Nach alter Sitte beließen sie die Verstorbene drei ganze Tage in ihrem Bett, damit jeder die Möglichkeit fand, sich von ihr zu verabschieden. Selbst für jene, die von sehr weit wegkommen wollten, bot diese Frist genügend Zeit. Rosalie bezweifelte allerdings, dass sie noch Freunde hatte, denn in ihrem Alter waren die meisten Freunde vermutlich bereits verstorben. Aber das war nun mal der Lauf der Welt. Einer kommt und einer geht. Am Anfang ist Freude, am Ende ist Trauer. Wir sollten uns langsam daran gewöhnt haben, dachte sie und ergatterte gerade noch den letzten Parkplatz vor ihrer Ordination.

      Am Nachmittag brachte sie noch rasch zwei Hausbesuche im Dorf hinter sich und fiel dann erschöpft von der Arbeitswoche auf die Couch. Taylor kam zwei Stunden später von der Universität nach Hause und hatte frischen Fisch mitgebracht, den sie gleich würzten und in die Pfanne legten. Rosalie hatte zwar Appetit auf etwas Deftigeres, aber sie begnügte sich mit dem Kartoffelsalat aus dem großen Plastikbecher, den sie vor einigen Tagen aus dem Supermarkt mitgebracht hatte. Am Jahrmarkt würde sie sich ein heißes, fettiges Langos mit viel frischem Knoblauch gönnen und ihren Hunger auf Deftiges stillen. Darauf freute sie sich und ließ sich den Fisch trotzdem schmecken.

      6

      Und wieder war es kurz vor sechs Uhr morgens als das Handy der Ärztin läutete. Noch dazu an einem dunklen Samstag, an dem sie nur zu gerne ausgeschlafen hätte. Doch ihr Pflichtbewusstsein ließ sie nach dem Krachmacher auf ihrem Nachttisch greifen. „Baxter“, meldete sich knapp, denn sie war noch mehr im Land der Träume als in der Realität.

      „Frau Doktor!“, kreischte eine beinahe hysterisch klingende Stimme ins Telefon. „Sie müssen sofort kommen! Meine Mutter…. Sie verlangt ihr Frühstück! O mein Gott, Sie haben sie für tot erklärt, dabei hat sie mächtig Hunger und sieht fitter als mit achtzig aus. Was haben Sie nur mit ihr gemacht? Kommen Sie schnell, ich muss Ihnen danken! Sie haben mir meine geliebte Mum zurückgebracht!“

      Rosalie erkannte Frieda Elms Stimme und schüttelte energisch den Kopf, um klare Gedanken fassen zu können.

      Taylor war wach und sah seine Frau fragend an. „Was ist denn mit der hysterischen Elms los? Ihre Mutter lebt?“

      Rosalie zuckte mit den Achseln. „Blödsinn! Ich habe sie gestern untersucht, sie war eindeutig tot. Eine Nulllinie am EKG, die Pupillenreflexe waren weg und die Totenflecken sowie die Totenstarre waren eindeutig sichtbar. Sie lag mit offenem Mund in ihrem Bett als wartete sie darauf, dass man ihr eine Münze auf die ausgetrocknete Zunge legt, um den Fährmann auf dem Fluss Styx zu bezahlen.“

      Taylor schüttelte den Kopf. „Vielleicht sollten wir der alten Dame rasch gemeinsam einen Besuch abstatten. Und auf dem Rückweg plündern wir die Bäckerei. Ich habe Lust auf Süßes, und wenn die Zimtschnecke nicht ausreicht, muss ich dich danach auch noch vernaschen“, witzelte er und schwang die Beine aus dem Bett.

      Normalerweise nahm sie ihn nicht zu ihren Patienten mit, aber diese Situation war eine Ausnahme. Diese Frau war mit Sicherheit tot gewesen, als sie sie untersucht hatte, daran gab es keinerlei Zweifel. Was nun geschehen war, konnte sie sich nicht erklären. Deshalb war sie auch froh, dass von Taylor dieser Vorschlag gekommen war. Er gab ihr Halt und Selbstvertrauen, das sie jetzt ganz dringend brauchte. Denn obwohl sie sich sicher war, dass die alte Dame tatsächlich tot war, so krochen dennoch Zweifel an ihrer Kompetenz in ihr hoch, gegen die sie sich nicht wehren konnte.

      Rosalie lenkte ihren Wagen langsam durch die Straßen, denn sie hatte es nicht allzu eilig, die lebende Frau, die sie für tot erklärt hatte, zu sehen. Allerdings konnte sie es noch immer nicht glauben und brauchte die Bestätigung, indem sie sie ansah und mit ihre redete.

      Sie betrat auch ganz vorsichtig das etwas muffig riechende Zimmer und fand die alte Dame tatsächlich fröhlich kauend und mit rosa Bäckchen in ihrem Bett vor. Rosalie verschlug es die Sprache und sie musste sich auf den einzigen Stuhl im Zimmer setzen. Er ächzte und neigte sich ein wenig zur Seite, sodass sie Angst hatte, er würde unter ihrem Gewicht zusammenbrechen. „Wie geht es Ihnen?“, fragte sie beinahe tonlos, doch die Frau verstand sie sehr gut. Aus munteren Augen sah sie ihren Besuch an und lächelte. „Danke! Ich fühle mich wie neu geboren, aber Sie! Sie sehen ziemlich mitgenommen aus. Vielleicht sollten Sie ein paar Tage ausspannen.“ Dann biss sie herzhaft von ihrem Schinken-Käse-Bagel mit reichlich Mayonnaise ab, kaute ihn kräftig, schluckte, trank Tee nach und rülpste herzhaft, ohne sich dafür zu entschuldigen oder schämen.

      Rosalie stand mit zittrigen Knien auf, rang sich ein Lächeln ab und ließ sich von Taylor zum Wagen führen; auf das Messen ihres Pulses verzichtete sie irritiert. Er bugsierte sie gleich auf den Beifahrersitz, denn er wusste, dass sie im Moment nicht fahrtüchtig war.

      In dem Haus hatte eine widerlich fröhliche Stimmung geherrscht, die angesichts der Wiederauferstehung der Mutter, Großmutter und Urgroßmutter nicht nachvollziehbar war. Wie konnte das sein? War sie scheintot gewesen? Oder waren da dunkle Mächte am Werk gewesen? Jedenfalls vertraute er dem Urteil seiner Frau. Die alte Dame war mit Sicherheit tot gewesen.

      Tief in Gedanken versunken fuhr er an der Dorfbäckerei vorbei, denn er verspürte nun keinen Hunger mehr. Der Appetit auf Zimtschnecken war ihm gerade gehörig vergangen. Und auch auf seine Frau, was noch viel seltener vorkam. Gedankenversunken fuhr er nun ebenso langsam wie Rosalie auf dem Weg zu den Elms und musste den Rest seiner geringen Konzentration auf die Straße lenken, was ihm allerdings nur sehr schwer gelang. Ein sehr flaues Gefühl hatte sich wie ein Eispickel in seinem Inneren festgesetzt und ließ sich nicht mehr herausziehen. Im Wagen herrschte eine Art von Schockzustand; keiner von beiden sprach auch nur ein einziges Wort und die Luft war dick wie Gelee.

      Zu