Das Phänomen. Karin Szivatz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karin Szivatz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754171868
Скачать книгу
sie vor der Tierarztpraxis ankamen, saß Mike, der Tierarzt, vor der Tür und ließ sich eine Zigarette schmecken.

      „Hey Mike!“, begrüßte Rosalie den älteren Mann und ging zur Beifahrertür. „Kann ich kurz dein Röntgengerät benutzen? Benny hat sich den Arm gebrochen und ich möchte ihn nicht unbedingt ins Krankenhaus schicken.“

      Mike Golding schirmte seine Augen vor der Sonne ab, inhalierte den Rauch und nickte wortlos. Dann schloss er die Augen und lehnte sich wieder an die warme Mauer. Rosalie kannte sich in seiner Praxis aus und sie würde ihm das Geld für das Röntgenbild auf seinem Schreibtisch hinterlassen. Er vertraute ihr blind und ließ sich deshalb nicht von seiner Mittagspause abhalten; sie war ihm sogar noch heiliger als sein Sonntagsschlaf, über den er nichts kommen ließ.

      Rosalie erklärte Benny, was er zu tun hatte, schoss zwei Bilder und sah sie sich gleich am Computer an. Ihre Diagnose am Unfallort war genau richtig gewesen; die Elle sowie die Speiche waren gebrochen, aber sie waren noch in der anatomisch korrekten Position. Nicht der kleinste Splitter befand sich in den Weichteilen. „Du hast Glück gehabt, Benny. So weit ist alles in Ordnung. Ich lege dir einen Gipsverband für sechs Wochen an, danach bist du wieder wie neu.“

      Sie lächelte und nahm zwei Gipsbinden aus einer Schachtel. Benny hingegen starrte ins Leere und sie hatte das Gefühl, als hätten ihn ihre Worte nicht erreicht.

      „Benny? Was ist los? Hast du mich verstanden?“, fragte sie und befürchtete, dass er eine Gehirnerschütterung erlitten hatte. Doch er reagierte sofort.

      „Ja, klar. Der Arm ist gebrochen, Gips für sechs Wochen.“

      „Du bist ja ein richtiger Poet!“, rief sie aus, zog sich einen Hocker unters Gesäß und legte ihm die erste Gipsbinde auf den Unterarm. „Aber jetzt sag mir doch, was mit dir los ist. Was ist bei dem Unfall passiert? Oder vor dem Unfall.“

      Benny sah betreten zu Boden. „Ich wollte… na ja, eigentlich wollte ich nicht, irgendwie musste ich… jedenfalls war da dieses Loch, diese plötzliche Leere in meinem Bauch und da wollte ich gegen den Lastwagen fahren. Eigentlich nicht absichtlich, aber dann doch wieder. Ich weiß auch nicht.“ Er sank in sich zusammen und ließ kraftlos den Kopf auf die Brust fallen.

      Die Ärztin hielt inmitten ihrer Arbeit inne und sah ihren Patienten irritiert an.

      „Du wolltest Selbstmord begehen, indem du mit deinem Wagen in einen LKW rast?“

      Benny liefen die Tränen über die Wangen. „Es war ja nicht so, dass ich es geplant habe und ich will auch gar nicht sterben! Das Leben ist schön und ich weiß nicht, was da draußen los war. Halten Sie mich jetzt bitte nicht für verrückt, aber am besten kann ich es beschreiben: die plötzlich auftretende Leere in mir hat mich dazu veranlasst, das Lenkrad nach links zu ziehen. Doch ganz knapp vor dem Zusammenstoß hatte ich mich wieder unter Kontrolle und bin noch mehr nach links gefahren, weil der Lastwagen auf meine, also die rechte Fahrspur ausweichen wollte. So haben wir gemeinsam den Unfall verhindert. Meinen Sie, ich bin psychisch krank? Falle ich vielleicht gar schon unter die Rubrik ‚Reif für die Psychiatrie’?“

      Rosalie wünschte, sie könnte ihm mit einem Lachen bestätigen, dass er völlig falsch lag, doch ihr keimte der Verdacht, dass mit seiner Psyche tatsächlich etwas nicht in Ordnung ist. Dennoch wollte sie ihn nicht beunruhigen.

      „Ist so etwas schön öfter vorgekommen? Ich meine eine solche Leere oder Suizidgedanken? Fühlst du dich manchmal traurig oder so schwer, dass du morgens nicht aufstehen willst?“ Sie formulierte ihre Fragen bewusst weitläufig, denn ihr ist an ihm noch nie etwas aufgefallen, das sie als pathologisch eingestuft hätte.

      „Nein, so gesehen nicht. Natürlich war ich traurig, als mein Vogel gestorben ist und wer steht morgens schon gerne auf? Aber nein, das ist so wie bei all den anderen Jungs in meinem Alter auch. Oder auch bei fast allen anderen Menschen, nehme ich an.“

      Rosalie nahm ihre Arbeit am Gipsverband wieder auf und strich ihn nachdenklich glatt. Sie hatte nicht den Eindruck, als wäre er wirklich psychisch krank und sie wollte ihn auch nicht beunruhigen. Dennoch nahm sie sich vor, ihn ein bisschen im Auge zu behalten.

      „Ich nähe noch rasch deine Platzwunde an der Stirn und dann bringe ich dich nach Hause. Du ruhst dich zwei Tage aus und dann kommst du zu mir zur Kontrolle. Ich würde diese Leere nicht überbewerten, aber sei achtsam. Wenn du sie wieder verspüren solltest, wenn du mit dem Wagen unterwegs bist, bleib sofort stehen und zieh den Zündschlüssel ab. Wenn du auf der Straße gehst, setz dich sofort auf den Boden und klammere dich an einer Dachrinne oder an einem Fahrradständer fest. Du weißt, was ich meine?“

      Benny nickte erleichtert. „Danke, das werde ich. Und ich werde dann sofort zu Ihnen kommen, damit wir darüber reden können.“

      Rosalie lächelte. Diese Landeier, die ihr blind vertrauten, werden ihr in der anonymen Stadt fehlen; ganz bestimmt.

      „Aber auf den Jahrmarkt darf ich morgen am Abend schon gehen, oder? Sie bauen schon auf der großen Festwiese die Zelte und die Karusselle auf. Ich habe meinem Mädchen nämlich versprochen, sie morgen groß auszuführen.“

      „Ach so? Ein Jahrmarkt? Aber natürlich, da spricht nichts dagegen. Wie lange bleiben denn die Schausteller im Ort? Ich habe gar keine Plakate gesehen.“

      „Sie haben scheinbar keine aufgehängt, sie waren heute am Morgen einfach da. Aber sie haben ein großes Transparent aufgestellt, auf dem steht ‚pro Fahrt nur dreißig Cent! Bei allen anderen Jahrmärkten in der Umgebung zahlt man das Siebenfache und mehr. Um dreißig Cent darf man bei den anderen Jahrmärkten nicht mal bei den Fahrten zusehen. Und ich bin mir sicher, dass sie das ganze Wochenende über hierbleiben. All die Karusselle und Buden aufzubauen rentiert sich für einen Tag und eine halbe Nacht ganz bestimmt nicht. “

      Rosalie lachte und legte ihm die Hand auf den unverletzten Unterarm. „Da hast du allerdings Recht. Die Fahrten sind heutzutage überall schweineteuer, das muss man ausnutzen. Ich werde auch hingehen, aber fühle dich nicht von mir kontrolliert, hörst du? Aber jetzt muss ich deine Wunde nähen, sonst heilt sie vielleicht noch von selbst zusammen und ich kann dir kein Honorar dafür ausstellen“, scherzte sie und holte die Vereisungsspritze, eine chirurgische Pinzette und den Nadelhalter mit der goldenen Spitze.

      Nachdem sie die den Verband auf die Wunde geklebt, sich bei Mike bedankt und Benny nach Hause gebracht hatte, fuhr sie wieder in ihre Praxis und hielt noch tapfer weitere zwei Stunden mit ihren Stammpatienten durch. Dann fuhr sie nach Hause, legte ihre Kleidung inklusive BH und Slip ab, schlüpfte in ein leichtes Sommerkleid und ging barfuß am Strand spazieren. Ihr Kopf war überlastet und sie fühlte sich etwas erschöpft. Dagegen half nichts besser als ein kurzer Spaziergang am Stand. Schon die Wärme des Sandes unter auf ihren Füßen empfand sie als entspannend; von den sanften Tönen des leisen Merresrauschens ganz zu schweigen.

      4

      Doch an diesem Tag wollte sich die Entspannung nicht so recht einstellen. In ihrem Magen hatte sich eine schwer zu definierende Nervosität eingenistet, die sich nicht vertreiben ließ. Sie blieb stehen und ließ mit der Erinnerung an die überaus eigenartige Stimmung der letzten Nacht ihren Blick über das Meer schweifen und konzentrierte sich dabei nur auf ihre Gefühle. Sie lauschte in ihr Inneres, ob sich da beim Anblick des Wassers oder der Bäume noch etwas anderes in ihr regte, doch da war nichts. Sie fröstelte nicht und sie hatte auch nicht den Eindruck, als wäre die See irgendwie anders als sonst. Nichts fühlte sich eigenartig, mystisch oder abartig an. Dennoch war das eigenartige Gefühl der letzten Nacht noch deutlich in ihr spürbar. Sie fühlte sich nicht ganz wohl, wollte aber wieder unbelastet sein. Deshalb blickte sie sich rasch um, ob jemand in der Nähe war. Wie bereits vermutet war sie auf dem weitläufigen Sandstrand allein. Hierher verirrte sich so gut wie niemand. Wie schon so oft streifte sie ihr leichtes Kleid über den Kopf und legte sich nackt ins seichte Wasser. Die wenigen Wellen, die rhythmisch ans Ufer schwappten, benetzten ihren Körper hinauf bis an die weichen Brüste. Sie liebte diese zarten Berührungen des Wassers, denn sie waren sinnlich, erotisch und naturbelassen zugleich. Das leicht kühlende Element schwappte rhythmisch über ihre Haut