Das Phänomen. Karin Szivatz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karin Szivatz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754171868
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alles befand sich an einem Platz und dennoch schien etwas unerklärlich anders zu sein. Noch während sie sich auf die Einrichtung der Küche konzentrierte, packte sie plötzlich eine eiskalte Faust, die ihr ohnehin schon dumpfer und rascher schlagendes Herz zusammenquetschte und ein beklemmendes Gefühl in ihr auslöste. Sie schlug die Hand an die Brust, stützte sich mit der anderen am Esstisch ab und beugte sich vorn über. Sie japste nach Luft, keuchte und würgte. Todesangst kroch wie eine Eidechse an ihr hoch und zog eine heiße Welle hinter sich, die sie zu verbrennen drohte. Rosalies erster Gedanke galt einem Herzinfarkt, doch so rasch die Symptome aufgetreten waren, so rasch waren sie auch wieder abgeklungen. Die Ursache des darauf folgenden Schauers hatte nichts mit der Umgebungstemperatur zu tun. Die Hitze des Sommers hatte sich seit Tagen über der gesamten Ostküste ausgebreitet; gar so, als wollte sie zwei Wochen am Strand liegen und einfach nur da sein. Der heiß ersehnte Regen, der nach wie vor unablässig vom Himmel fiel, war deshalb eine willkommene Abkühlung für jedermann.

      Rosalie lauschte noch immer ihrem Herzen, doch es schlug wieder gleichmäßig, langsam und kräftig. Ganz so, wie sie es gewohnt war. Etwas beruhigt richtete sie sich auf, atmete ein paar Mal tief durch und versprach sich selbst, gleich am Morgen ein EKG schreiben und einen Bluttest machen zu lassen. Das würde sie jedem anderen Menschen auf alle Fälle dringend nahelegen. Mit einem Herzinfarkt war schließlich nicht zu spaßen!

      Während Rosalie ihren leichten Bademantel aus dem Badezimmer holte und noch immer auf ihren Herzschlag hörte, lief ganz leichter Kaffee durch die Maschine in ihren Lieblingsbecher. Obwohl er schon mehrere hundert, wenn nicht sogar tausende Wäschen in der Spülmaschine hinter sich hatte, liebte sie ihn abgöttisch. Er war das erste Geschenk, das sie von Taylor bekommen hatte. Sie waren auf dem nächtlichen Jahrmarkt gewesen und völlig verliebt. Eng umschlugen schlenderten sie zwischen den bunt beleuchteten Attraktionen durch, ließen sich von der Hexe in die Geisterbahn locken, von der Gefahr der Hochschaubahn anziehen und von der Köstlichkeit einer mit Schokolade überzogenen Riesenschaumrolle überzeugen.

      Und dann war da noch der Schießstand, dessen Schausteller nur noch einen Arm hatte. Er rief unablässig ‚Schießen Sie Ihrer Liebsten doch ein weißes Einhorn!’ in die Menge und zog mit diesen einfachen Worten Scharen an jungen Männern an, die ihren Angebeteten imponieren wollten.

      „Willst du das Einhorn?“, fragte Taylor so unsicher, dass Rosalie sofort darauf bestand, eines zu bekommen. Taylors Gesicht wurde schlaff. Sie sah ihm an, dass er auf gar keinen Fall das Einhorn von der Decke schießen würde, aber sie fand es echt süß, dass er es versuchte. Für sie versuchte!

      Taylor kramte in der Tasche seiner Jeans und förderte einen Zehner zutage. „Ich will’s versuchen“, flüsterte er dem Schausteller zu und hoffte vermutlich insgeheim, nicht gehört zu werden. Doch der schmale Mann hinter der Theke hatte den Zehner blitzschnell gesehen und auch schon in seiner Tasche verschwinden lassen. Mit einem ziemlich linkischen Lächeln reichte er das geladene Gewehr über den Tresen und Taylor stellte sich breitbeinig in Position. Doch anstatt an die Decke zu zielen um das Einhorn zu bekommen richtete er den Lauf auf die unterste Reihe und landete gleich mit dem ersten Schuss einen Treffer. Den absoluten Glückstreffer.

      Der Schausteller sah ihn aus listigen, zusammengekniffenen Augen an. Taylor erwiderte den Blick und ließ ihn lächelnd wissen, dass er ihm noch das Wechselgeld schulde. Und natürlich den Kaffeebecher, den er gerade gewonnen hatte. Taylor überreichte ihr den eigentlich ziemlich hässlichen Becher mit einer tiefen Verbeugung. „Madame, dies soll ab sofort der Kaffeebecher Ihres Lebens sein!“

      Rosalie übernahm ihn mit einem höfischen Knicks und fiel ihm anschließend in die Arme. In diesem Augenblick verbanden sich ihre Herzen miteinander und ihr gemeinsames Leben war damit besiegelt worden.

      Noch heute dachte sie gerne und mit einer gewissen Wärme im Herzen an diesen Augenblick zurück. Sie drückte den warmen Becher an ihre Brust und sah vom Wohnzimmerfenster auf das offene Meer hinaus. Sie hatte auch hier das Gefühl, als wäre irgendetwas anders als sonst, aber sie konnte es vom Haus aus nicht ausnehmen. Während sie den Gürtel um ihre Taille schlang, öffnete sie leise die Haustür, trat hinaus auf die Veranda, und blickte über den feinen Sandstrand in Richtung Meer. Der Regen fiel währenddessen vom dunklen Himmel und schränkte ihre Sicht ein. Sie erkannte auch noch etwas weiter draußen die Wellen, doch sie sahen nicht wie sonst auch immer aus. Sie waren anders, doch auch jetzt konnte sie nicht genau definieren, weshalb.

      Irgendwie fühlte es sich anders an, aber das war auch nicht der richtige Ausdruck dafür. Vielleicht war es auch nur ihre Müdigkeit, die sich in diesem Augenblick bemerkbar machte. Immerhin waren es nur noch ein paar wenige Stunden, bis sie wieder die Tür ihrer Praxis aufschließen und sich all die Klagen der Dorfbewohner anhören musste. Sie liebte ihren Job über alles, übte ihn mit Inbrunst und Leidenschaft aus, aber im Moment konnte sie all zu viel an Leiden und Gejammere nicht ertragen. Doch dieses Gefühl kannte sie nach sieben Jahren im Dienste der Menschheit mittlerweile. Während des Medizinstudiums war sie voll Enthusiasmus und auch während der Praktikumsjahre danach ging sie förmlich darin auf, Anderen zu helfen, sie zu heilen und sie mitunter wieder ins Leben zurück zu holen. Doch als Landärztin beschränkte sich ihr Wirkungsbereich auf die Behandlung von Erkältungen, Rückenschmerzen und auf die Überweisungen zu Fachärzten. An manchen Tagen überlegte sie, ob sie nicht mit Taylor in eine Stadt ziehen und selbst eine Facharztausbildung beginnen sollte. Hier, am Strand von Nirgendwo würde sie ja doch nur versauern und ihr Talent verschwenden. So sehr ihr die wenigen Bewohner des Städtchens am Herzen lagen, so wenig konnten sie ihr als Gegenleistung bieten. Mit ihren zweiunddreißig Jahren war sie bereits ziemlich gelangweilt und sehnte sich nach einem aufregenden Leben, nach Adrenalin, nach Abenteuer, nach Gefahr und Herzklopfen. Hier fand sie nur Ruhe sowie niedrige Ansprüche an ihre Persönlichkeit, an ihren herausragenden Intellekt und an ihr berufliches Können. Das reichte ganz einfach nicht mehr aus. Dieses Leben war etwas für die Zeit nach vielen aufregenden Jahren oder nach der Pensionierung aber im Moment bot es ihr einfach viel zu wenig an Impulsen.

      2

      Mit zusammengekniffenen Augen blickte sie konzentriert auf das Meer, das recht bald am Horizont den Himmel küsste. Eigentlich sah es nicht wie ein Kuss aus, sondern viel mehr wie ein panisches Anklammern, als wollte sich das Meer am Himmel emporziehen, ganz rasch weg von der Erde. Sie öffnete ihre Augen wieder ganz, atmete schwer aus und konzentrierte sich nun auf die weiße Gischt, die auf den Kämmen der Wellen tanzte. Sie schien grau zu sein und ganz ohne Leben. Ein lustloser Tanz, der eher mühsam statt lustvoll aussah. Doch noch ehe sie darüber nachdenken konnte, wie sie überhaupt darauf kam, dass Gischt Leben in sich tragen und fröhlich oder traurig sein konnte, fühlte sie eine andere Person in ihrer Nähe. Eine Ahnung, dass sie nicht allein war, überkam sie und sie drehte ihren Kopf nach rechts.

      Marisha, ihre direkte Nachbarin, stand vor ihrem nun doch schon etwas in die Jahre gekommenen Haus und starrte ebenfalls auf das Meer hinaus. Die grauen, ausgedünnten Haare hingen wie viel zu lang gekochte Spaghetti von ihrem Kopf und legten stellenweise die bleiche Kopfhaut frei. Die Haarspitzen, die auf ihren Schulterblättern klebten, zeichneten eine Linie, die an ein zerklüftetes Küstengebiet erinnerte. Sie mussten dringend geschnitten und wieder in eine gerade Linie gebracht werden. Doch Marisha kümmerte sich nicht mehr um ihr Äußeres. Vielleicht nahm sie es auch nicht mehr wahr, denn sie lebte zeitweise in völlig anderen Sphären. Und diese Zeiten dehnten sich immer mehr aus. Es würde wohl nicht mehr lange dauern, bis sie einander die Hände reichten und die alte Frau völlig mit sich trugen. Manchmal fragte sich Rosalie allerdings, ob es nicht eine glücklichere Welt als die reale war, in der ihre Nachbarin seit Jahren lebte.

      Rosalie nahm einen Schirm aus dem Ständer, spannte ihn auf und hielt ihn über ihrem Kopf, während sie auf die zerbrechliche Gestalt zusteuerte. Je näher sie der alten Dame kam desto deutlicher war ihre bereits völlig durchnässte Kleidung erkennbar. Wie lange sie wohl schon hier im strömenden Regen gestanden haben mochte?

      Rosalie machte sich nicht die Mühe, sie danach zu fragen, denn sie würde keine Antwort erhalten, mit der sie auch etwas anfangen konnte. Vermutlich würde ihre Frage noch nicht einmal gehört werden. Sie stellte sich dicht hinter Marisha und drückte sich gegen ihren Rücken,